Es gibt eine Menge Bรผcher, die vor 1989 im Osten nicht erscheinen durften. Simone Barck und Siegfried Lokatis berichten in ihrem Buch โZensurspieleโ รผber die berรผhmtesten Fรคlle. Die meisten Fรคlle freilich erlangten nie Berรผhmtheit, denn sie blieben schon vorher in jenem Grauraum hรคngen, in dem groรe und kleine Funktionรคre ihren Missmut deutlich machten. So ein Fall ist auch Ralph Grรผnebergers โLeipziger Liederbuchโ.
Eigentlich war es sogar ein Auftragswerk des damals mรคchtigen Volkseigenen Kombinats GISAG. Man leistete sich damals Kultur. Jeder Groรbetrieb hatte eine Kulturabteilung. Und die groรen Kombinate gaben regelmรครig Auftragswerke in Arbeit. Dazu gehรถrten dann auch mal solche Liederprogramme wie dieses. Durchaus auch an junge Autoren wie Ralph Grรผneberger, die schon lรคngst ihre Schwierigkeiten hatten mit dem Interpretationsmuster der Mรคchtigen. Denn Grรผneberger war auch damals schon bekannt fรผr seinen aufmerksamen und verstรคndnisvollen Blick auf die Menschen, die die Wirtschaft in und um Leipzig am Laufen hielten. Seine Texte zeichnen die Gezeichneten oft erbarmungslos โ aber immer mit einem groรen Verstรคndnis. Denn diese Welt war ihm nicht fremd. Er kannte sie nur zu gut, kannte die abendlichen Kneipenbesuche, in denen sich der Frust auf die Leber gesoffen wurde, kannte die Strรถme zu den morgendlichen Bahnen, die die Massen in die Betriebe fuhren, kannte die Frauen an den Maschinen, die von ein klein wenig Glรผck im Leben trรคumten.
Eigentlich war keiner besser prรคdestiniert, genau รผber diesen rauen Alltag der Werktรคtigen (wie das damals hieร) zu schreiben und ein Lied auf die Malocher und ihre Stadt zu schreiben. Was Grรผneberger auch tat. Nur: Funktionรคre verstehen Realitรคt immer ein bisschen anders. Und schon frรผh zeigte sich der Dissens, zeigte sich der zugeordnete Genosse unzufrieden. Das blieb so bis zum Ende, auch wenn das Liederbuch tatsรคchlich zwei Auffรผhrungen erlebte, eine davon im Gewandhaus. Eine hat sogar der Rundfunk aufgezeichnet und die Aufnahme konnte im Sรคchsischen Staatsarchiv aufgefunden werden.
Sie liegt als CD dieser Erstverรถffentlichung des Liederbuchs bei, das โ vertraglich gesichert โ eigentlich 1987 zur Urauffรผhrung schon erscheinen sollte. Aber das unterlieร man lieber. Dazu waren einige Texte dann doch zu doppelbรถdig. Wie das so ist mit Lyrik, wenn der Dichter die Klappe nicht halten kann und den Worten ihre An- und Beiklรคnge abluchst. Was Lyrikleser in der DDR zu genieรen wussten. Leser sowieso. Aber nicht alles stand zwischen den Zeilen. Manches steckte gut verpackt mitten im Text. Da genรผgte eine Anspielung โ und auch die staatlichen Organe wurden munter.
Der komplette Literaturbetrieb in der DDR war durchwacht. Und bevor ein Buch erscheinen konnte, hatten nicht nur die Lektoren den Text studiert. Schon mit seinem ersten Lyrikband erlebte Grรผneberger diese Winkeltรคnze โ und wie sehr sie die Verรถffentlichung eines Gedichtbandes verzรถgern konnten. Im Binnenteil des Buches erzรคhlt er รผber diese Startphase als Lyriker und รผber seine Erfahrungen mit der still waltenden Zensur. Wer zu deutlich wurde, der riskierte nicht nur, dass das Buch nicht erschien. Die Mรคchtigen konnten ungnรคdig sein.
Ihr Misstrauen war allgegenwรคrtig. Sie witterten selbst da Gefahr, wo der Dichter nur wortgewaltig mit Assoziationen spielt. Heute, so stellt auch Ralph Grรผneberger fest, wirken die Texte รผberhaupt nicht mehr ungewรถhnlich. Anstรถรig schon gar nicht. Niemand wรผrde bestreiten, dass sie das ruรige Leipzig der 1980er Jahre genau beschreiben. Ein paar Schwarz-weiร-Fotografien lassen es auch sichtbar werden. Man riecht die kohlenrauchgeschwรคngerte Luft, die ganze Tristesse einer auf Verschleiร gefahrenen Stadt, deren Schรถnheit ihre Bewohner schon lange nicht mehr sehen konnten. Eine Darstellung, die so nicht wirklich offiziell erwรผnscht war. Sie entsprach nicht dem Jubelbild vom siegreichen Sozialismus, das man gern hรถren und sehen wollte. Wenigstens in den Gedichten der Dichter. Was Grรผneberger in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Walter Thomas Heyn auf die Beine stellte, klang nicht nur dissonant, es beschrieb sehr plastisch eine dissonante Welt.
Wobei auch der kleine Streit auffรคllt, den seinerseits Heyn als Schรผler von Siegfried Malthus mit den musikalisch ungebildeten Funktionรคren ausfocht, die unbedingt eine Schostakowitsch-Musik haben wollten und ganz bestimmt nichts Volksliedhaftes wie von Hanns Eisler. Augenscheinlich kannten sie die Musik Dmitri Schostakowitschs gar nicht, sie hรคtten sich wohl sehr erschrocken. Aber wenn sich ein Funktionรคr Musik im Stile Schostakowitschs wรผnscht, bekommt er sie auch. Auch wenn es eindeutig Kompositionen in der Tradition Hanns Eislers sind, die man auch auf der Aufnahme von 1987 hรถrt. Denn natรผrlich ging es Grรผneberger wie Heyn um das Volksliedhafte. Die scheinbare Einfachheit und Eingรคngigkeit der Komposition, die trotzdem die Widersprรผche im Text nicht รผberspielt.
30 Jahre spรคter haben beide nun die Chance ergriffen, die Texte noch einmal hervorzuholen, einige auch komplett umzuschreiben, damit auch hรถrbar wird, dass Leipzig sich verรคndert hat. Und wie es sich verรคndert hat. Das neu eingespielte Programm kann man auf der zweiten beigelegten CD anhรถren. Und natรผrlich sind auch alle Texte im Buch nachlesbar, ergรคnzt um weitere Leipzig-Gedichte, in denen sich Grรผneberger mit den Wunden seiner Stadt auseinandersetzt, eine Musikrezension von 1987 und natรผrlich den Essay โGelebte Zensurโ, in dem Grรผneberger die ganze Vor- und Nachgeschichte erzรคhlt. Ein Text, der auch spรผrbar macht, wie frustrierend die permanenten Eingriffe der Mรคchtigen waren. Denn wenn man diese ganzen รnderungswรผnsche รผberforderter Funktionstrรคger zusammendenkt, dann merkt man, wie sehr sie die Phantasie und Unbekรผmmertheit der Betroffenen zerstรถrten. Wie viel ist eigentlich damals nicht geschrieben worden, weil die Gemaรregelten die Schere des Zensors schon im Kopf hatten? Und wie viel Mรผll wurde produziert, nur um den Mรคchtigen zu gefallen?
Das โLeipziger Liederbuchโ ist nun mit 30-jรคhriger Verspรคtung erschienen. Es hรคtte auch 1987 gepasst. Denn es beschrieb nur zu genau, was die Leipziger selbst erlebten: โLeipzig, du bist keine Schรถnheit / Deine Haut ist schon viel grau / du rauchst dich kaputt auf Lunge โฆโ
Fehlende Liebe zu seiner Heimatstadt konnten die Funktionรคre dem Dichter nicht vorwerfen. Aber wer darf denn die Wahrheit schreiben im Land der Allmรคchtigen?
Darf man das? โ Gute Frage. Den damaligen Lyrikbรคnden brachte das bei den Leserinnen und Lesern eine hohe Aufmerksamkeit und fรผr heutige Verhรคltnisse hohe Auflagen. Denn zu Recht erwarteten die Leser, dass in den Gedichten ein Stรผck von der Wirklichkeit steckte, die offiziell nicht benannt werden durfte. Der Reiz ist weg. Aber die Gedichte atmen noch immer. Auch mit der inzwischen von Grรผneberger formulierten Frage: Was ist aus seinen Heldinnen des Alltags geworden? Eins der neueren Gedichte zeichnet diesen Lebensweg. Und irgendwie wird man das Gefรผhl nicht los, dass es wohl auch nachher all jene gebeutelt hat, die schon vorher gebeutelt wurden. Nur Leipzig ist heute schรถn bunt und sauber. Kinder, wie die Zeit vergeht.
Ralph Grรผneberger, Walter Thomas Heyn โLeipziger Liederbuchโ, ein Liederlesebuch mit 2 CDs, Edition Kunst & Dichtung, 24,90 Euro.
Empfohlen auf LZ
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Keine Kommentare bisher