Natürlich war am Anfang kein Mord. Auch nicht in der Bibel. Zumindest in meiner steht da klar und deutlich: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Glaub ich zwar auch nicht. Aber es geht ja um die Bibel. Und die ist ein heiß diskutiertes Stück Weltliteratur bis heute. Bis hinein in das, was man aus heutiger Sicht als Rechtsempfinden bezeichnen darf.
Das zumindest weiß man, nachdem man sich durch die 23 von Bertram Salzmann aufbereiteten Fälle aus der Bibel gearbeitet hat: Verglichen mit dem Nahen Osten des Alten Testaments haben wir heute tatsächlich ziemlich rechtssichere Zeiten. Ein moderner Kriminalkommissar wäre wohl sogar ziemlich aufgeschmissen, wenn er im alten Israel arbeiten sollte. Oft genug sind es nämlich die Mächtigen selbst, die im Blut waten, Recht und Gesetz brechen und auch die Frauen der anderen nehmen, wie ihnen Lust ist.
Man landet in einer Welt, in der ein altes, sehr altes patriachalisches Rechtsverständnis herrscht, wie es heute noch in Teilen der arabischen Welt (und nicht nur dort) gilt, wo Frauen regelrecht schutzlos sind und durch die Übergriffe lüsterner Männer regelrecht zum Freiwild werden. Aber aus dem Neuen Testament wissen wir ja auch, wie schnell die rigide Auslegung alter Glaubensvorschriften dazu führt, dass ein Mann zur Steinigung geschleift wird oder ans Kreuz geschlagen, weil er scheinbar gegen irgend eine geheiligte Fußnote verstoßen hat.
Im letzten Kapitel macht Bertram Salzmann, der das Buch 2000 erstmals bei der Deutschen Bibel Gesellschaft herausbrachte, den Fall Jesus zu einem Kriminalfall, den die Leser lösen können. Obwohl das schier unmöglich ist, was auch jeder weiß, der das Neue Testament gelesen hat. Nicht nur, weil sich hier jüdische (Religions-)Gesetze mit römischer Rechtssprechung vermischen, sondern auch, weil die Bibel selbst voreingenommen ist. Oder besser: ihre Autoren. Denn sie wollten ja eine Gottesgeschichte erzählen. Und vieles daran ist – wie auch Jens Schröter in seinem „Jesus“-Buch feststellt – pure Phantasie, ein sehr ergreifender Versuch, ein tragisches Menschenschicksal zu deuten.
Denn wenn ein Mensch so jämmerlich am Kreuz stirbt, ist das erst einmal ein tragisches Schicksal.
Und was Pontius Pilatus als Verhör durchführt, hat mit einer belastbaren Tatsachen- und Schuldermittlung ja nichts zu tun, das, was im Sanhedrin passiert, auch nicht. Aber das ist ja nicht der einzige Fall in der Bibel, in dem augenscheinlich Willkür vor Recht geht – in diesem Fall wohl auch religiöse Borniertheit vor Toleranz. Aber wie ist das mit all den anderen, bis heute gern auch in der Kunst kolportierten Geschichten? Etwa um „Susanna im Bade“ oder um Davids „Verführung“ der Bathseba? Immerhin ist das eine Geschichte, die den vielgerühmten König David in keinem guten Licht zeigt. Wird hier eine gewisse Ehrlichkeit sichtbar, wie Salzmann meint? Eine gewisse Schonungslosigkeit der Bibelautoren, wenn es um die Darstellung der eigenen Geschichte geht?
Denn die ist ja geradezu gespickt mit Massakern – an Kindern und Andersgläubigen, an Unschuldigen sowieso. Und einer nimmt sich da gar nicht aus: Gott selbst, der in vielen Geschichten alles auf einmal ist – Rächer, Kommissar, Richter. Und manchmal rettet er Unschuldige, manchmal bewahrt er sie auch vor schlimmen Taten. Aber nur das Beispiel David genannt: Oft genug verschont er die Täter und die Bibel serviert dann so eine Art Gottesurteil, dass die Strafe für den Angeklagten nun aus lauter Gottesgüte nicht an ihm vollzogen wird – dafür an seinen Kindern und Kindeskindern.
Ein makabres Rechtsempfinden. Hätte man nicht bei Kubitza gelesen, dass die meisten der in der Bibel geschilderten Massaker gar nicht stattfanden und reine Phantasie der Autoren sind, man könnte irre werden an diesen Geschichten. An dem unberechenbaren Gott darin erst recht. Aber Kubitza hat ja auch darauf aufmerksam gemacht, dass fast alle Geschichten aus dem Alten Testament vor allem Versuche sind, die eigene (ziemlich deprimierende) Geschichte der Juden und ihres Königreichs im Nachhinein als eine Prüfung durch Gott zu interpretieren. Ein wortgewaltiger und blutberauschter Versuch also, der eigenen Geschichte einen höheren Sinn zu verleihen.
Und gleichzeitig – das merkt man ja beim Lesen dieser „Kriminalfälle“ –  war es auch ein Versuch, den eigenen Rechtskanon zu sortieren. Denn tatsächlich ist die jüdische Geschichte ein ziemlich zäher und konfliktreicher Modernisierungsprozess: Aus einem Berg- und Hirtenvolk wurde ein Volk der Städtebauer, Handwerker und Landwirte. Das Königtum war das Zeichen dieser Kulturentwicklung – ebenso wie der zentrale Altar in Jerusalem und der nunmehr monolithische Gott, der über die Bücher des Alten Testaments sichtlich immer zahmer wird. Aus dem wütenden Berserker und Vernichter wird immer mehr ein Tempelgott, der durch Mittler spricht und am Ende immer unsichtbarer wird.
Weswegen er gerade in den jüngeren Geschichten der Bibel auch nicht mehr leibhaftig auftaucht, was Salzmann vorsichtig zu entschuldigen versucht. Ich selbst habe ja so die Vermutung, dass sich Götter zwar gut machen am Anfang jeder Zivilisation, wenn es erst einmal darum geht, einem wilden Volk ein paar Regeln und Gesetze aufzuerlegen. Eine Funktion, die dieser Gott Israels ja in weiten Passagen erfüllt. Wenn Menschen Gottes harte Hand fürchten müssen, dann sind sie eher bereit, sich an die Regeln der Priester zu halten.
Deswegen sind die meisten „Verbrechen“ der Bibel auch keine Vergehen gegen die Menschlichkeit, sondern Verstöße gegen Gottes Gesetze und Gebote.
Also ein echtes Minenfeld für echte Kommissare, wenn sie alle diese Fälle und Gleichnisse nach heutigen Rechtsvorstellungen zu lösen versuchen wollten. Oft genug müssten sie gleich die ganze Bande verhaften – den Oberpriester, den König und seinen Chefberater gleich mit. Und sie bräuchten dazu wohl ein UNO-Einsatzkommando, denn viele der geschilderten Blutbäder sind nach heutigen Maßstäben Verletzungen des Völkerrechts, blutige Verwüstungen, die oft aus einer kleinen religiösen Unstimmigkeit folgen. Was einem doch wieder bekannt vorkommt. Denn das radikale Denken dahinter scheint ja heute in einigen Teilen der Welt wieder fröhliche Urständ zu feiern.
Was ja trotzdem schockierend ist, weil man ja nach 2.500 Jahren Zivilisierung eigentlich die Hoffnung haben dürfte, dass die Menschheit lernfähig ist. Aber selbst im Jugoslawien-Krieg hat man ja gesehen, wie wirksam der Rückgriff auf den alten, blutigen Fanatismus ist. Auf jeden Fall zeigt einem diese Auswahl, wie wertvoll die vergangenen 2.500 Jahre waren mit ihrer Suche nach einem menschlicheren und gerechteren Rechtssystem, in dem Willkür und falsche Beschuldigungen korrigiert werden können. Etwas, wozu ja der vielgerühmte Pontius Pilatus zu feige war.
Wenn er denn überhaupt so handelte wie beschrieben und die Römer tatsächlich so unschuldig waren, wie die synoptischen Evangelien behaupten. Denn auch mit der Überlieferung ist das so eine Frage. Denn überall spürt man den durchaus vorsichtigen Seitenblick der Autoren zu den jeweiligen Machthabern ihrer Zeit, die ja den Text vielleicht in die Hände bekommen könnten und dann womöglich etwas grimmig reagieren könnten – diese Nebukadnezars, Salomos, Herodesse oder Pontiusse – oder gar der Kaiser in Rom.
Wie römisches und jüdisches Recht aufeinanderprallen, liest man ja auch in der Paulusgeschichte. Und so sicher wie Salzmann, dass Paulus in Rom bis an sein Lebensende unbehelligt predigen durfte, sind sich andere Autoren ja nicht. Bei manchen Fällen wissen wir einfach nicht, was aus den Protagonisten am Ende geworden ist. Die Spuren verlieren sich im Dunkel.
Keine leichte Lektüre ist das, auch nicht im Vergleich mit modernen Kriminalromanen. Und gerade die Texte aus der Bibel geben so ein Gefühl von gelindem Entsetzen. Aber manchmal muss man sich dessen einfach immer wieder vergewissern, dass eine Welt ohne eine unabhängige Justiz eine Welt der Willkür ist, in der vor allem die Schwächeren leiden und niemanden haben, der sie vor den Übergriffen der Reichen und Mächtigen schützt.
Bertram Salzmann Am Anfang war der Mord, Evangelische Verlagsanstalt, Edition Chrismon, Leipzig 2017, 8,50 Euro.
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