Für FreikäuferDie Reihe „sonar“ aus dem Verlag Voland & Quist ist genau das, was der Name verspricht: Ein Ortungsgerät im den riesigen Weiten der osteuropäischen Literaturen. Auch wenn man erst mal auf die Karte schauen muss: Georgien liegt ganz weit im Südosten, im südöstlichen Zipfel Europas. Aber wer diese phantasievolle Geschichte von Beka Adamaschwili liest, der merkt: Diese Literaturwelten sind einem erstaunlich vertraut.
Auch wenn Adamaschwili seinen Helden in der Literaturhölle landen lässt. Das Paradies ist für Schriftsteller nicht vorgesehen. Jeder verärgert irgendwann einmal seine Leser – und sei es unfreiwillig. Wie viele Kinder wurden in der Schule schon mit wirklich guter Weltliteratur gequält, ohne dass sie von ihren Lehrern die Chance erhielten, die Schönheit dieser Literatur zu begreifen? Aber eigentlich ist das nicht schlimm. Auch das ist ja längst ein beliebter Topos in der europäischen Literatur: Wirklich interessant ist nur die Hölle, wo man – frei nach Pierre Sonnage – die bessere Gesellschaft findet. Im Himmel muss es zwangsläufig langweilig sein, wenn da nur all die Leute hinkommen, die ein gottgefälliges Leben geführt haben.
Alle anderen mit ihren Zweifeln, schlimmen Gedanken und Skeptizismen, die landen ja wohl in der Hölle. Freundlich empfangen von keinem Geringeren als Dante Alighieri persönlich.
Ach ja: Das Buch beginnt auch noch mit einem Todesfall. Denn Pierre Sonnage, Autor von vier dicken, aber kaum gelesenen Romanen, beschließt, dem Ruhm ein wenig auf die Sprünge zu helfen und vom höchsten Hochhaus der Welt zu springen.
Denn wenn Autoren vom Hochhaus springen, werden sie ja wieder interessant in einer Welt, in der der Skandal wichtiger ist als die Geschichte. Natürlich ist das Buch auch eine kleine Persiflage auf den modernen Literaturbetrieb. Aber nur ein bisschen. Denn eigentlich zeigt der 1990 geborene Autor, dass Literatur eigentlich etwas anders funktioniert, als wie es einem selbstverliebte Feuilletonisten heute gern erzählen. Möglich, dass die Verkäuflichkeit eines Buches darüber entscheidet, ob ein Autor nun vom Hochhaus springen muss oder zum vergötterten Star des Entertainments wird. Aber auf die Dauer zählt etwas anderes. Und das wissen auch belesene Jungen (die selten geworden sind, ich gebe es ja zu). Denn um einen Kanon bestimmter Autoren kommen sie nicht umhin. Die müssen gelesen werden, sonst fehlt einem schlicht die Grundorientierung im Kosmos der Literatur. Es sind die großen Neuerer, die Erbauer literarischer Welten, die für alle Nachschreibenden auch neue Landschaften und Weiten erschlossen.
Wer liest, weiß, was für Autoren das sind. Goethe und Schiller gehören nicht dazu. Tut uns leid.
Aber Dante natürlich (auch wenn man ein bisschen Sitzfleisch braucht für „La divina commedia“), Edgar Allan Poe, Jules Verne, Arthur Conan Doyle, Herbert George Wells (Leser von Krimis und Science Fiction wissen, welche Literaturwelten mit diesen Leuten begannen). Adamaschwili aber lässt auch Shakespeare, Hemingway, Kafka und (beiläufig) auch Vonnegut in seine Literatenhölle. Eine Welt, über die sich Sonnage überhaupt nicht wundert. Diese Leute sind ihm zutiefst vertraut. Was einem natürlich auch wieder viel über Adamaschwili verrät: Wenn man mit all diesen Autoren aufwächst, dann hat man Freunde, die einem nicht mehr verloren gehen können. Dass sie einen auch gedanklich bereichern, weiß jeder, der sich einmal durch ihre Bücher gearbeitet hat.
Das geht bis hin zu George Orwells „1984“, das gern und oft erwähnt wird in Sonnages Rätseltour durch die Hölle. Was aber wenig überrascht. Da brauchte es auch keinen Donald Trump und das Comeback von „1984“ als Bestseller in den USA. Denn bei richtigen Lesern gehört auch „1984“ schon längst zur verinnerlichten Landkarte. Man sieht, wo Big Brother am Werk ist, wo die Unbelesenen sich noch doof stellen oder nicht mal begreifen, was passiert.
Denn ihnen fehlt das Repertoire. Sie haben nicht gelernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen, mit den Augen wirklich kluger Autoren. Und Autorinnen, möchte ich sagen. Aber die kommen in Adamaschwilis Literatenhölle nicht vor. Vielleicht wollte er sie dieser raubeinigen Männergesellschaft nicht aussetzen. Oder es drohte eine weitere Liebesgeschichte. Denn eigentlich hat sich sein tapferer Schriftstellerheld ja auch verdünnisiert, weil er vor richtigen Menschen eine gewisse Furcht hat (sein Freund Claude ist noch eine Nummer schärfer) und zwar gern mit Geistesblitzen brilliert und junge Verehrerinnen beeindruckt: Aber wenn die Gefahr besteht, dass daraus eine richtige Liebesgeschichte wird, geht er lieber auf Abstand. Was natürlich passt in diesem Fall, denn Lucy ist eigentlich genauso. Sie himmelt kluge Männer an (und hat Pierres dicke Bücher tatsächlich gelesen), aber wenn es dann ernst wird …
Natürlich verflechten sich die Geschichten, auch über Pierres Tod hinweg. Denn Schriftsteller vom oben genannten Schlag sterben nicht. Ihre Art, die Welt zu sehen, trägt Früchte und andere schreiben ihre Geschichten fort. Oder versuchen es zumindest. Aber wer genau hinschaut, merkt, dass das die größte Triebkraft für die wirklich spannenden literarischen Welten ist: Sich an den großen Pionieren zu messen und mindestens so gut sein zu wollen wie sie. Die großen Nachfolger spielen dann gern und liebevoll auch mit den Motiven der Vorbilder. Und Leser quietschen vor Freude, wenn sie merken, dass sich hier Welten grüßen und die geliebten Autoren sich gegenseitig Reverenz erweisen.
Auch wenn dann doch nicht alle Autoren, die Adamaschwili (oft nur beiläufig) erwähnt, dann auch leibhaftig auftreten. Da freut dann den Leser eine schöne Karte der Literatenhölle, auf der die Rue Morgue logischerweise an das Bordell „Moby Dick“ grenzt und das Kuckucksnest-Denkmal direkt am Patriarchenteich steht. Natürlich alles kleine Stupse, die einen anregen, die entsprechenden Bücher noch einmal zu lesen. Und noch einmal. Man bekommt nicht einmal Angst um diesen in die Hölle geschickten Pierre – denn wo sollte er sich in Ewigkeit wohler fühlen als unter Leuten wie Saint Exupéry oder Salinger?
Es ist tatsächlich ein richtig schönes Kopfbuch für Menschen, die wissen, wie reich die Lesewelten der Großen sind und dass all die Ablenkungen der technischen Moderne da niemals heranreichen werden, auch nicht die Millionen-Verfilmungen, mit denen das Publikum abgelenkt wird vom Selberdenken und Selberträumen.
Wer liest, hat noch Träume.
Und er weiß auch, dass richtig gute Geschichten meistens sehr verzwickt sind und sehr menschlich, rätselhaft, eigenwillig und verwirrend, weil sie auch dazu anregen, einmal mit aller Vorstellungskraft in die Rolle anderer Menschen zu schlüpfen und zu verstehen, warum sie so sind, wie sie sind: rätselhaft.
Aber wer liest, weiß, wie vertraut einem Menschen auch dann sind, wenn sie in anderen Sprachen, Ländern und Zeiten zu Hause sind. Wer liest, entwickelt keine Menschenfeindlichkeit, weil er beim Lesen eben auch gelernt hat, wie es sich in der Haut anderer Menschen fühlt. Er kann sich das vorstellen.
Eine Menge von der heute um sich greifenden Homophobie hat schlicht mit Unbildung und fehlendem Leseverständnis zu tun.
Was einen natürlich daran erinnert, dass Adamaschwili wohl auf Georgisch geschrieben hat. Und dass es eine gute Übersetzerin brauchte, seine Geschichte vom gestürzten Pierre ins Deutsche zu übertragen. Was der Verlag stets auch mit einer kleinen Biografie seiner Übersetzer würdigt. Sybilla Heinze hat so exotische Fächer wie Kaukasiologie (Georgien liegt am Kaukasus) und Ostslawistik studiert. Und nun halt auch Beka Adamaschwilis erstes Buch für die Reihe „sonar“ übersetzt, wo er unseren Blick auf die literarischen Welten des Ostens auf erstaunlich vertraute Weise bereichert.
Beka Adamaschwili Besteller, Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2017, 18 Euro.
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