Für FreikäuferDie Bildbände vom sich wandelnden Leipzig, die der Fotograf Armin Kühne und Leipzigs einstiger Baudezernent Niels Gormsen gemeinsam produziert haben, sind heute schon Klassiker. Wenn es allein nach Armin Kühne gegangen wäre, gäbe es längst ein ganzes Regal voller Vorher-Nachher-Bücher. Es ist tatsächlich so: Niemand hat den Wandel der Stadt seit den 1970er Jahren in Leipzig so vielfältig im Foto eingefangen.
Niemand hat sich so intensiv für diesen lebendigen Organismus Stadt interessiert, wie der studierte Maschinenbauer Armin Kühne, der ab 1979 als Fotograf für die wesentlichen Zeitungen Leipzigs unterwegs war und sich auch damals schon die Freiheit nahm, den Verfall dieses Kleinods in Schwarz-Weiß abzulichten. Denn die alte, prachtvolle Bürgerstadt verwandelte sich ja vor aller Augen in eine Ruinenlandschaft. Und auch nach 1990 änderte sich daran wenig. Die große Sanierungswelle begann erst Mitte der 1990er Jahre.
Da saß Armin Kühne schon auf einem einzigartigen Archiv, das in den Folgejahren erst seine ganze Wucht entfaltete, als er mit dem ersten Baudezernenten der Nach-„Wende“-Zeit, Niels Gormsen, die großen Leipzig-im-Wandel-Bildbände machte, in denen er den alten, bedrückenden Schwarz-Weiß-Aufnahmen die Farbfotos der sanierten Kleinode gegenüberstellen konnte. Jeder Band freilich eine Heidenarbeit, denn Gormsen schrieb dazu ziemlich detaillierte Artikel zu Bau- und Sanierungsgeschichte. Das war ein echtes Forschungsprojekt, das die beiden da vollbrachten.
Armin Kühne freilich war das viel zu wenig. Der Mann kann nicht ruhen. Deswegen hat er ja seinerzeit auch den Beruf gewechselt. Er ist mit Leib und Seele Stadtfotograf. Und er nimmt jede Gelegenheit wahr, die Stadt in all ihren Ecken und Veränderungen abzulichten, neue Blickwinkel zu suchen, die Stadt als Landschaft zu erfassen. Er sieht das einfach – und das ist nicht jedem Fotografen gegeben. Er hat den Fotografenblick, in dem sich das Wissen um Bildkomposition und Stadtinszenierung verbinden. Er hätte auch Architekt werden können. Aber das war ihm wohl eher zu langweilig. Aber was Architekten anrichten, das sieht er.
Und in diesem Band zeigt er es mal aus der halben Höhe, wie Mark Lehmstedt und Arnold Bartetzky in ihren Beiträgen schreiben, also aus jenen erhöhten Positionen, die meist nur Schornsteinfeger, Dachdecker und Gerüstbauer kennenlernen, irgendwo zwischen 10 und 100 Meter, noch nicht Vogelperspektive, aber ganz bestimmt auch nicht mehr die menschliche Froschperspektive. Die meisten Leipziger kennen diese Blickwinkel, weil sie mal aufs City-Hochhaus gefahren sind, Völkerschlachtdenkmal oder Thomaskirchturm bestiegen haben. Von da oben wird aus dem Dächermeer erstmals eine Stadt, ein großer Organismus, in dem das Leben pulst.
Aber die meisten klettern dennoch nicht mit einer großen Fototasche hinauf, in der sie auch noch mächtige Objektive mitschleppen. Aber das tut Kühne schon aus Profession. Denn er weiß, dass einem kleine Objektive nicht viel nützen. Da bekommt man weder ordentliche Panorama-Aufnahmen hin, noch diese detailreichen Aufnahmen aus dem Inneren des Bildes. Da muss man schon ein ordentliches Stativ dabeihaben und richtig tief hineinzoomen können ins Dächermeer. Selbst vom Aussichtsturm auf der Bischofshöhe am Cospudener See aus. Wer schon mal hochgeklettert ist, weiß, wie schwer eine Fototasche wird, bevor man oben ist. Und wer von da oben versucht hat, die ferne Leipziger Silhouette zu erfassen, der weiß, dass das mit normalen Kameras und kleinen Objektiven gar nichts bringt. Man sieht zwar den alles überragenden Weisheitszahn – mehr aber auch nicht.
Und der Turm auf der Bistumshöhe ist nicht das einzige Kletterwagnis, das Kühne in den vergangenen zwei Jahren auf sich genommen hat. Auf den Hügel an der A14 ist er genauso geklettert wie auf den Rosentalturm sowie auf diverse Kirchtürme überall im Stadtgebiet, er hat in diversen Wohntürmen Einlass gefunden, um dort aus oberen Geschossen wieder neue Blickwinkel über die Stadt zu bekommen. Manchmal ist es ganz gut, wenn man jemanden kennt, der hoch droben wohnt. Manchmal kann man auch bei einer Geschäftsleitung anrufen, die einem dann einen Hausmeister mit zur Seite gibt, um mal ganz oben aufs Dach zu dürfen.
Man wird auch einige vertraute Sichtwinkel finden in diesen Band – etwa von City-Hochhaus und Thomaskirchturm – aber trotzdem ungewöhnlich, weil Kühne auch hier die großen Objektive aufgeschraubt und ins Dächermeer hineingezoomt hat, so dass Dinge, für die man sonst ein Fernrohr bräuchte, ganz nahe herankommen. Und wieder ist da so ein Moment: Hoppla, ist das noch Leipzig?
Denn natürlich wirkt die Stadt auf einmal anders, wenn man direkt neben dem Turm des Wahrener Rathauses das Porsche-Werk stehen sieht – und so auch erstmals merkt, wie groß das eigentlich ist. Oder wenn die Red-Bull-Arena auf einmal direkt zwischen den Lagerhäusern vom Lindenauer Hafen auftaucht. Da hat Armin Kühne dann einfach mal den Schuttberg der Schönauer Lachen bestiegen und Richtung Osten gezoomt.
Es lohnt sich wirklich, auf Leipzigs Erhöhungen zu klettern. Man sieht mehr. Und man merkt, dass die Leipziger in den vergangenen Jahrzehnten überall lauter Erhöhungen geschaffen haben. Vielleicht wirklich aus dem dringenden Bedürfnis heraus, die Sache unbedingt auch mal aus der Höhe zu betrachten. Mit überraschenden Einblicken.
Das aber betrifft nicht so sehr die heimeligen Balkone. Die hat Armin Kühne gar nicht so sehr ins Bild genommen, auch wenn sie (manchmal an den überraschendsten Stellen) dennoch ab und zu auftauchen – samt verschwiegenen Dachterrassen, die man von der Straße aus nicht mal erahnt.
Aber da oben über den Dächern passiert noch viel mehr. Es gibt praktisch keinen Stadtteil, in dem z. B. nicht auch die nächtlichen Sprayer unterwegs sind und da oben ihre Botschaften hinterlassen. So wie in Plagwitz, wo einen auf einmal die Frage anbellt: „Wer bist du?“ Dabei geht der Blick erst einmal ins Weite und man staunt, dass man MDR-Hochhaus, Panometer und Fockeberg tatsächlich alle miteinander aufs Bild bekommt.
Manches wird sehr bald schon wieder Geschichte sein. So wie die Brache am Jahrtausendfeld oder die am Bayerischen Bahnhof – die erste eindrucksvoll vom Turm der Philippuskirche aufgenommen, die andere vom MDR-Hochhaus. So kommen wichtige Einblicke aus zum Teil entgegengesetzten Blickwinkeln ins Bild. Wie Armin Kühne da zeitlich koordinieren musste, erzählt Mark Lehmstedt im Nachwort. Denn das fällt natürlich auf, dass der Profi stets die besten Lichtverhältnisse gesucht hat.
Da halte man sich einen gefälligen Hausverwalter parat, der einen an einem gut durchleuchteten Sonnentag zur richtigen Stunde aufs Hochhaus lässt und auch noch die Geduld hat, dabeizustehen, während der Fotograf sich rundum arbeitet. Und immer neue Details aus diesem großen Gewirr herausholt, die erst recht zeigen, wie kompakt und vielgestaltig die Straßenräume sind, wie sich die Baukulturen verschiedener Jahrhunderte begegnen. Und wie sehr klug gestaltete Stadträume auch eindrucksvolle Inszenierungen sind. Woran besonders Arnold Bartetzky erinnert, der ja bekanntlich so seine kritischen Einwürfe zu vielem hat, was die jüngere Architekturgeschichte in Leipzig produziert hat.
Entstanden ist natürlich ein Bildband, der zum Schweifen einlädt, zum staunenden Einblick in diesen Korpus Stadt, der sich immer so gleichgültig gibt, obwohl er sich ständig verändert und seinen Bewohnern zum Teil sehr aufregende Wohn- und Arbeitssituationen bietet. Denn einige Leipziger haben diese Überblicke übers Getümmel ja jeden Tag, verraten es aber keinem. Dazu braucht es den kühnen Fotografen, der einfach mal freundlich fragt: „Darf ich mal?“
Und meist freuen sich die Gefragten, dass er fragt, und sie lassen ihn ein, die herrliche Aussicht zu fotografieren. Und einige werden sich hinterher wohl auch gewundert haben, was Armin Kühne mit seinem Objektiv dabei entdeckt hat. Die Entdeckungen sind mit diesem neuen Kühne-Buch garantiert.
Tipp: In der Stadtbibliothek (Wilhelm-Leuschner-Platz 10-11) ist seit Dienstag, 10. Oktober, auch die Fotoausstellung zum Buch zu sehen.
Armin Kühne Leipzig aus halber Höhe, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2017, 24 Euro.
Keine Kommentare bisher