Dass wir heute ein gewaltiges Problem mit Bildung haben, hat Richard David Precht ja nun oft genug erzählt – anschaulich, greifbar, simpel. Systematisch wird in unserer Bildungspolitik Bildung mit Wissen verwechselt. Ergebnis: Bildung findet kaum noch statt. Menschen lernen nicht mehr zu denken. Und das geht früh los. Deswegen wurde ja mittlerweile auch der Kindergarten als Bildungsstätte entdeckt. Kinder lernen von ganz allein. Brigitte Ettmann weiß das schon lange.

Vor vier Jahren hat sie ihr Buch „Handarbeitsspaß mit Kindern“ veröffentlicht, Produkt ihrer eigenen Aushilfstätigkeit in Leipziger Kindergärten. Es wird zwar viel von der Bildung in Kindergärten geredet. Aber in Wirklichkeit überlässt man das trotzdem wieder alles dem Zufall – und völlig überforderten Erzieherinnen und Erziehern. Mit dem Betreuungsschlüssel in den Kitas ist Sachsen mittlerweile Schlusslicht in Deutschland. Mit der Einschränkung: es ist nur der offizielle Betreuungsschlüssel.

Der reale ist noch viel schlechter. Da sind die Kita-Leitungen froh, wenn sie Menschen wie Brigitte Ettmann haben, die mal aushelfen, wenn zusätzliche Hilfe gebraucht wird. Und irgendwann Angebote machen für die Kinder, die sonst nicht stattfinden würden. Da steht dann zwar ein schicker Handarbeitskorb irgendwo im Regal – aber niemand hat die Zeit, mit den Kindern die ersten Schritte auszuprobieren, auch mal zu stricken, zu häkeln, zu nähen. Stichworte: Fingerfertigkeit, Feinmotorik, Koordinationsfähigkeit, Konzentration, Geduld, Zielstrebigkeit. Und irgendwo auch Kreativität. Aber die wird eh viel zu hochgehalten. Jeder Mensch ist kreativ.

Dumm nur, dass die meisten Menschen zu faul sind, sich auch die nötigen Techniken anzueignen, um ihre Kreativität auch in ein glaubwürdiges Ergebnis zu verwandeln. Was sie übrigens auch in den sogenannten kreativen Fächern in der Schule nicht mehr lernen. Da werden ja Streicheleinheiten verteilt, weil alle so herrlich kreativ sind. Ergebnis ist eine Gesellschaft von Luschen, die glauben, fröhliches Klecksen sei schon Kreativität.

Und es gehöre ganz bestimmt keine harte Arbeit dazu und ein hohes technisches Können.

Zum Glück kann man bei Schals, Mützen und Pullovern nicht schummeln. Man muss es lernen, wie man sie herstellt. Und man kann es lernen. Und das auch für Brigitte Ettmann anfangs Überraschende: Kinder wollen es auch lernen. Auch so eine Fehlstelle unseres Bildungssystems: Es negiert die Lust der Kinder, auch die kompliziertesten Dinge lernen zu wollen. Und sie bremst diese Lust aufs Sich-Anstrengen aus. Auch durch das normierte Kasten-und-Trichter-Denken.

In ihrem Buch hat Brigitte Ettmann erzählt, mit welcher Begeisterung die Kinder ihr Angebot annahmen und mit ihr Sticken, Knüpfen und Weben lernten, wie sie sich sogar in geduldigste Strickarbeiten vertieften, weil ihr Ehrgeiz gepackt wurde, dieses Etwas, das in uns allen schlummert (nicht nur in den eingebildeten „Leistungsträgern“), Dinge machen zu wollen, richtig machen zu wollen und mit Geduld und Konzentration ein Ziel und ein Ergebnis zu ereichen.

Das ist angelegt in uns Menschen.

Das heutige Bildungssystem trainiert es uns ab.

Zehn Jahre lang hat Brigitte Ettmann als „Strick-Oma“ in Leipziger Kindergärten gewirkt. Sie wohnt inzwischen nicht mehr in Leipzig. Aber ihre Ideen leben fort, fassen auch anderswo Fuß und begeistern Eltern und Kinder. Obwohl es doch augenscheinlich alte Fertigkeiten sind, die die Kinder da lernen. Aber wichtige, wie selbst Kinderärzte feststellen, die sich mit der Feinmotorik der Kleinen beschäftigen. Mit Fernbedienungen am Fernseher bekommt man keine Feinmotorik. Mit Stricken und Häkeln schon. Und vor allem führt das Erlernen der Technik zu etwas, was Kinder heute viel zu selten erleben: Sie erleben das Gefühl, etwas Neues zu beherrschen. Immer besser zu beherrschen. Die Redewendung dazu: Auf einmal gehen ihnen „Dinge von der Hand“.

Wir vernachlässigen unsere Hände völlig, weil heute alles immer schon „fertig“ sein muss. Das Abenteuer, aus Unfertigem etwas Fertiges zu machen, ist mit den Fächern Handarbeit, Schulgarten, Werkunterricht fast überall aus den Schulen geflogen. Auch das ist ein Grund für das um sich greifende Zappelphilippsyndrom.

Precht hat Recht: Schule, wie wir sie heute verstehen, arbeitet völlig gegen den lebendigen Menschen an, presst ihn in völlig unnatürliche Lern-Raster. Und sie verdammt die Kinder mit ihrem enormen Bewegungs- und Betätigungsdrang zum stundenlangen Stillsitzen. Das ist die eigentliche Bildungskatastrophe. Dass so ein System lauter unkonzentrierte und denkunfähige Menschen ausspuckt, ist nur logisch.

Lasst die Kinder stricken. Setzt Omas in die Kindergärten und lasst sie mit den Kleinen handarbeiten. Wahrscheinlich geht noch viel mehr. Die Anleitungen, die Brigitte Ettmann gibt, sind auch alle in einem längeren Zeitraum entstanden, manche als neues Angebot, weil es natürlich auch begabte Kinder gibt, die die Sachen schnell lernen und dann nach der nächsten, größeren Herausforderung lechzen.

Oh ja, wir fordern unsere Kinder nicht mehr heraus. Wir bremsen sie und überlassen sie den verkrusteten Lehrplänen von Bürokraten, die ihren Job natürlich gewählt haben, weil sie Phantasie, Professionalität und Anstrengung verabscheuen. Zutiefst verabscheuen.

Deswegen überrascht es auch nicht, dass Bürokraten in Deutschland die besten Gehälter haben. Gehorsam und Phantasielosigkeit werden belohnt. Wer freilich Dinge verändern will, der erlebt schnell, wie das bestraft und abgestraft wird.

Eigentlich hätte der Verlag auch nur eine Neuauflage machen müssen. Aber inzwischen sind zwei weitere Projekte dazugekommen, die Brigitte Ettmann sich ausgedacht hat und die den Kindern neue Möglichkeiten erschließen, mit Wolle faszinierende Dinge zu tun: Das eine ist das Gestalten von Traumfängern, das andere die pfiffige Idee der Schnellstrickfee Marisel, einer Abwandlung der bekannten Strickliesel, die aber selbst gebaut werden kann und mit deutlich größeren Metallösen (Dimension: Haarspange) leichteres und schnelleres Stricken für die Kinder ermöglicht, was die Freude am Entstehenden für die Kinder schneller möglich macht.

Das Arbeiten mit der Strickliesel blieb trotzdem im Buch, denn viele Kinder lieben es trotzdem, mit den kleineren Haken zu kämpfen und ihre eigene Geduld dabei auszuprobieren. Die übrigens viel mit Konzentration zu tun hat. Heutige Lehrer wissen ein Lied davon zu singen, denn laut wird es in den Schulklassen ja, weil die meisten Kinder sich nicht mehr konzentrieren können. Sie sind in einer elektronischen Umgebung aufgewachsen, in der sie fortwährend abgelenkt werden, in der eine Ablenkung die nächste jagt und das Aktionslevel immer hoch ist. Sie lernen kaum noch, sich intensiv einer Sache zu widmen und sich ganz und gar darauf zu konzentrieren, um sie richtig gut zu machen.

Sie sehen schon: So ein schönes buntes Handarbeitsbuch regt zu allerlei Abschweifen an. Aber Eltern wissen, dass genau das alles wichtig ist – und dann meist in der Schule zu heftigen Frustrationen führt, die dann nicht mehr aufhören, weil sich in unserem Bildungswesen eine Auslese- und Bevormundungsmentalität eingenistet hat, die mit gebildeten und motivierten jungen Menschen nichts anfangen kann.

Mehr muss man dazu wohl nicht sagen.

Lernt stricken, Kinder.

Brigitte Ettmann Handarbeitsspaß mit Kindern, 2. erweiterte Auflage, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2017, 14,95 Euro.

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