Eigentlich ist es ein unaushaltbares Buch, das Andrej E. Skubic da 2015 in Ljubljana veröffentlicht hat, mitten in dem, was in Europas Medien als „Flüchtlingskrise“ inszeniert wurde. Sein Heimatland Slowenien war bis dahin Teil der sogenannten Balkanroute, war aber auch eins der ersten Länder, die einen Grenzzaun errichteten. Mitten in dem Moment, in dem echte humanitäre Hilfe gefragt war, gingen in Europa die Schotten hoch. Und das Mittelmeer wurde zur Todesfalle.
Es ist wieder so ein Buch aus der Reihe „Sonar“ von Voland & Quist, in dem deutlich wird, wie intensiv und anspruchsvoll sich Autoren aus Ost- und Südosteuropa mit den wirklich großen Fragen Europas beschäftigen. Dagegen wirkt das meiste, was für deutsche Buchpreise vorgeschlagen wird, bräsig, selbstverliebt und kleinkariert. Als wollten deutsche Großautoren immerfort gegen den Verdacht anschreiben, sie würden Elfenbeinturmromane schreiben indem sie Elfenbeinturmromane mit lauter konstruierten Konflikten schreiben.
Natürlich ist auch Skubics Roman eine Konstruktion: Er hat einfach das mediale Gezeter und politische Lamento von 2015 stringent in die Zukunft weitergedacht. Denn wohin entwickelt sich der europäische Versuch, sich die Probleme der nahen Welt mit allen Mitteln vom Leib zu halten, eigentlich? Den Mumm, echte Stabilisierungsprogramme für Nordafrika aufzulegen, hatte ja kein einziger europäischer Staatsmann und keine einzige Staatsfrau. Im Gegenteil: In jedem Land wurde auf unterschiedliche Weise das feige Lied von den Obergrenzen gesungen.
Bis heute. Die Feiglinge, die dieses Lied singen, werden ja der scheußlichen Melodie nicht müde. Sie tun alle so, als sei es eine Zumutung, dass sie überhaupt mit den Problemen der kaputten Welt behelligt werden. Ergebnis ist eine verkniffene Rettungs-Nichtrettungs-Abhaltungs-und-Wegduckpolitik insbesondere am Mittelmeer, in dem Jahr für Jahr tausende Menschen ertrinken. Emsig wird von den Feiglingen über die Schlepper diskutiert – sorry: „kriminelle Schlepperbanden“ – die den Menschen aus Nordafrika untaugliche Schwimmfahrzeuge verschaffen, ihnen das letzte Geld abknöpfen und sie dann vor der italienischen Küste im Stich lassen, so dass die Boote oft führerlos in rauen Wettern kentern.
Welche Not dahintersteckt, die Zehntausende dennoch die unheilvolle Fahrt übers Meer antreten lässt – es interessiert die Schönwetterpolitiker nicht, die heutzutage versuchen, den Bürger wie ein unmündiges Kind zu behandeln. Nur ja keine Herausforderung. Wir machen das schon. Irgendwie.
Das Ergebnis ist, dass das, was Skubic 2015 noch als bittere Beschreibung einer möglichen Zukunft schrieb, heute schon fast wie Realität aussieht. Nur dass es noch keine offiziellen EU-Programme gibt, mit denen das Einsammeln der Ertrunkenen als echte Wirtschaftsförderung nach Europa-Art finanziert wird. Skubics Held Kaselic ist so ein gewerbsmäßiger Leichensammler. Er kann gut davon leben, auch wenn er selbst in gewisser Weise ein Paria ist – ein Slowene, der daheim schon mit einigen Versuchen, ein Gewerbe zu gründen, gescheitert ist, und nun mit seinem Freund zusammen eine Lizenz erworben hat zum Einsammeln der Ertrunkenen. Ein Job, den nicht mal die Einheimischen der kleinen italienischen Insel haben wollten, wo die Geschichte spielt.
Selbst beim Einsammeln der Gekenterten gibt es sichtlich eine Verwertungskette. Wir sind ja in Europa. Und wahrscheinlich sieht man von den Rändern her (Slowenien gehört seit 2004 zur EU) besser, wie dieser Moloch funktioniert und wie sehr Menschen im Denken dieser etwas verklemmten Gemeinschaft vor allem nach ihrem Kapitalwert und ihrem Verwertungsstatus beurteilt werden. In der Flüchtlingsdiskussion wurde es überdeutlich. Denn nichts anderes steckt hinter dem piefigen Gerede von den Obergrenzen, als die Abwertung von Menschen, die sich den Eintritt in die EU nicht kaufen können, für die selbst dann Restriktionen gelten, wenn sie gut ausgebildet sind.
Wenn man sie in eine anonyme Masse verwandelt, und sei es auch nur verbal, geschieht genau dieselbe Entmenschlichung, die auch die Nazis vornahmen, als sie die Vernichtung der Juden starteten. Der Faschismus lauert genau an dieser Stelle, an der Menschen zu Nummern und Kohorten werden. Zum abrechenbaren Stück Ertrunkener, die Kastelic aus dem Meer fischt, damit die Toten nicht die Touristen an den Stränden erschrecken.
Übrigens auch etwas, was Skubic zu einer eindrucksvoll komprimierten Szene macht. Denn auch das gehört ja zu den Lügen Europas: Wie es versucht, die Tragödie im Mittelmeer vor sich selbst zu verstecken. Deswegen wurden ja jene mehr als zaghaften Rettungsinitiativen gestartet, die augenblicklich eher in eine Vergrämungsstrategie in afrikanischen Gewässern ausartet. Statt wirklich zu helfen und die Ursachen für die Flucht zu lindern, behandelt man die Menschen wie Tiere, die man abschrecken muss vor der Reise nach Europa.
Es ist wirklich nicht mehr weit bis zu dieser Dystopie, die Skubic zeichnet. In der es aber trotzdem jede Menge Menschlichkeit gibt. Denn für seinen Protagonisten Kastelic scheint es ganz und gar keine Frage zu sein, dass er die Afrikanerin Fowsiyo und ihr Kind bei sich aufnimmt, die er bei einer seiner Aktionen aus dem Meer fischte. Der einfachere Weg wäre gewesen, sie in den Sammellagern abzugeben, wo Europa die afrikanischen Ankömmlinge wie Sklaven hält und arbeiten lässt.
Sage keiner, dass genau diese Denkweise heute nicht die sogenannte „Flüchtlingsdebatte“ bestimmt.
Nur scheinen das weder die Bewohner der Insel noch Kastelics verschlossener Nachbar so zu akzeptieren. Denn wenn man Menschen leibhaftig begegnet, hören sie auf, ein Stück zu sein, dann kann man sich hinter den scheinheiligen Phrasen europäischer Abschottungspolitiker nicht mehr verstecken. Deswegen ist es wohl nicht nur Kastelic, der Gestrandete wie Fowsiyo und ihren Sohn bei sich versteckt. Und sein verschlossener Nachbar scheint auch nicht der Einzige zu sein, der zumindest weiß, wie die europäischen Versuche, die Flüchtlingsströme zu „verwerten“, unterlaufen werden.
Denn wenn Menschen fliehen, haben sie dafür handfeste Gründe. Und sie haben ein Ziel. Und das unterscheidet sich im Grunde überhaupt nicht von den Lebensplänen eines Kastelic. Vielleicht ist das die größte Lüge in der derzeitigen Debatte: Dass die Abschottungsvertreter nur für eine Klientel handeln, die am Wohlstand teilhat, die sich in einer Position des Besitzstands eingemauert hat und nicht einmal mehr wahrnimmt, dass selbst ein Großteil der Europäer um seine bloße Existenz kämpft, dafür auch Land und Familie verlässt und in den reicheren Regionen für wenig Geld jobbt, froh, überhaupt ein paar Kröten verdienen zu dürfen. So wie Kastelic. Der selbst weiß, dass er nicht einmal auf der untersten Stufe dieses Ringens um die bloße Existenz steht. Es gibt ja noch Bedürfnislosere als ihn, die den Job noch für weniger Geld und dafür mehr Risiko machen würden – so wie der Chinese in dieser Geschichte.
Es ist, als hätte Skubic einfach mal die ganze schöne Goldfolie abgekratzt von den scheinheiligen Beteuerungen der Europäer, was für tolle Werte sie doch vertreten und verteidigen. Und zum Vorschein kommt eine Welt voller Parias, die jeden kleinen Strohhalm ergreifen, der ihnen auch nur wie eine Chance vorkommt, ein menschliches Leben leben zu können. Sogar eine sehr internationale Welt der Parias.
Und Menschen wie Kastelic wissen, dass es so ist. Auch wenn er oft genug ratlos wirkt, wie er mit seiner durchaus nicht eindeutigen Situation umgehen soll. Denn weiß er, ob ihn der Nachbar nicht verpfeift? Wo Bürokraten Menschen in Geduldete und Ungeduldete teilen, beginnt auch das Misstrauen und die Scheinheiligkeit. Man landet in einer Welt, in der eine Bitte um Hilfe in eine Katastrophe münden kann.
Die Katastrophe gibt es freilich ins Skubics Geschichte in einem anderen Moment, mit dem auch Kastelic nicht gerechnet hat. Denn die Uneindeutigkeiten durchwabern ja nicht nur das Leben an Land, sondern auch die Vorgänge auf See. Warum es dort zur Katastrophe kommt, ist auch für Kastelic ein Rätsel. Mit dem Skubic den Leser sogar verlässt. Ob für die Protagonisten der Geschichte die Sache doch noch gut ausgeht, erfährt er nicht. Muss er vielleicht auch nicht. Denn auch dieser beinah irrationale Moment zeigt, wie brüchig all die europäischen Versuche sind, ein als heil gedachtes Europa vor den Unbilden da draußen abzuschirmen.
Motto: Grenzen dicht und Ruhe in der Heimatstube.
Aber das ist Vogel-Strauß-Politik. Und die geht schief. Die trägt ihren Untergang sogar schon in sich. Denn genau das passiert in der Welt immer, wenn Menschen sich ihren Dämonen und Herausforderungen nicht stellen: Sie werden von ihnen eingefangen und verschlungen. Klingt jetzt sehr malerisch. Ist aber so.
Gerade weil Skubic diese Denkweise, die 2015 zur medialen Dominante wurde, derart konsequent fortschreibt, wird deutlich, wie viel bürokratische Eiseskälte in der aktuellen Europa-Politik steckt. Und wie viel Feigheit und Wirklichkeitsverweigerung. Als Slowene sieht er das nüchterner als die Gutversorgten im Norden, die sich so gern hinter den Dublin-Regelungen verstecken und immer so verschnupft reagieren, wenn sich doch wieder ein paar Stück Mensch „illegal“ auf den Weg gemacht haben, im Kopf lauter Hoffnung.
So wird das Buch stellenweise sehr hart, weil es uns mit einer Realität konfrontiert, die wir in unserer wohlbehüteten Wohnstube gern wegzappen, wenn sie mal wieder auf dem Bildschirm erscheint. Und uns vielleicht auch mal freikaufen, wenn es wieder eine Spendensammlung gibt. Zumindest die Malocher unter uns, die wissen freilich, wie brüchig diese Wohlstandsgesellschaft ist. Und wie feige. Muss man einfach mal sagen.
Denn auch das ist Fakt: Nach dem Lesen dieses Buches ist man sauer. Gerade weil es das aktuell praktizierte Europa in all seiner Schäbigkeit zeigt. Und weil sehr schön deutlich wird, wie machtlos gerade all jene sind, die sich ihr Leben ganz unten in der Nahrungskette sichern müssen und die den Menschen, die da in Nussschalen übers Meer kommen, viel näher sind als die Wohlversorgten in ihren Stuben im Norden.
Andrej E. Skubic Spiele ohne Grenzen, Voland & Quist, Leipzig und Dresden 2017, 18 Euro.
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