Für FreikäuferDieses Buch ist eine kleine Erinnerung, oder eigentlich zwei, und ein Appell. Fritz König, Mathematiker und Physiker und lange Jahre stellvertretender Kanzler der Universität Leipzig, erinnert sich in diesem Buch an jene Jahre, als aus der gegängelten Karl-Marx-Universität wieder die stolze Alma mater Lipsiensis wurde. Der Anglist Volkmar Munder steuert Erinnerungen an 1989 bei. Und dann gibt es da noch eine Mahnung.

Die folgt ganz am Ende jenes Vortrags, den Fritz König 2016 auf der Jahrestagung der Benedictus Gotthelf Teubner Stiftung hielt und in dem er von der Zeit erzählte, in der er als Personaldezernent den großen personellen Umbruch gestalten musste, den die Universität zwischen 1989 und 1994 erlebte. Wobei er im wesentlichen auf die ganz frühe Zeit eingeht, als es überhaupt erst einmal darum ging, die alten SED-Machtstrukturen an der Universität aufzulösen und auch das alte Denken auszutreiben, das die Hochschule eher zu einer Kaderversorgungsanstalt gemacht hatte, als zu einem Ort freien wissenschaftlichen Denkens.

Da spielt die Entlassung belasteter Personen eine Rolle. Aber dabei blieb es ja nicht. Der Personalapparat war in DDR-Zeiten gewaltig aufgebläht worden. Dazu kamen noch diverse Institute, die nur im alten Staatsverständnis überhaupt einen Sinn gemacht hatten. Und es kam die Neujustierung in Sachsen hinzu, als Sachsens erster Wissenschaftsminister daran ging, Dresden zum ersten Universitätsstandort auszubauen und der Leipziger Universität auch mehrere traditionelle Lehrfächer zu entziehen. Diese Haltung dominiert ja bis heute, egal, ob es um Geld, Projektmittel oder Personalstellen geht: Dresden first …

Da sich König auf die ersten fünf Jahre beschränkt, ist es auch vor allem der Rückblick auf die forschungshemmende und bevormundende DDR-Zeit, die seine Mahnung an die Gegenwart prägt. Und 2016 war ja schon geprägt durch den massiven Zuwachs im fremden- und zukunftsfeindlichen Dunkelfeld unserer Gesellschaft. Immer mehr Menschen, so schien es und scheint es, wünschen sich einen Staat zurück, in dem ihnen irgendwelche Amtsträger sagen, was gesagt und getan werden darf. Dass diese Bewegung in Ostdeutschland besonders stark ist, erzählt Bände. Es erzählt vor allem davon, dass die Politik der Bananen und blühenden Landschaften schiefgegangen ist, diese alte Reiche-Onkel-Politik. Motto: Ich mach’s dir mal schön, dann darfst du wieder ruhig sein.

Das ist bis heute augenscheinlich nicht mal in den Köpfen der meisten Politiker angekommen, dass man so keine Transformationen gestalten kann und darf. Das wird nicht nur teuer, sondern geht schief. Weil es das langanhaltende Gefühl erzeugt: Nach den versprochenen 10, 15 Jahren gibt’s dann die Belohnung …

Es ist dieselbe alte Erwartungshaltung. Übrigens die ganz alte. Denn was Helmut Kohl nie zugestanden hat: Er hat genau dieselbe Bananenpolitik gemacht wie Erich Honecker. Auch die SED machte ihre tollen Parteitagsbeschlüsse nach der Devise „So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“.

Schon vergessen?

Wer auf diese Weise Politik macht, muss damit rechnen, dass die Beschenkten irgendwann kommen und das Versprochene einfordern.

Wobei es ja nicht um die Geschenke geht, sondern um das falsche politische Agieren. Auch Helmut Kohl wollte gern ungestört regieren und nicht wirklich viel Arbeit hineinstecken in eine Politik, die den ostdeutschen Transformationsprozess zur politischen Aufgabe der Ostdeutschen gemacht hätte. Nicht schenken, sondern: ermöglichen und vor allem – teilhaben lassen.

Wir sehen es ja jetzt auch beim Leipziger OBM. Das mag er auch nicht so sehr. Das stört. Am liebsten will er eben doch alles ganz allein entscheiden.

Sind wir jetzt auf Abwegen? Nicht unbedingt. König erinnert an so manchen Fall, da ein „führender Genosse“ sich über Recht und Respekt hinwegsetzte und den Willen der Partei (oder seinen eigenen) bis nach unten „durchstellte“.

Kein Einzelfall, denn viel zu viele haben sich so eines eigenen Willens berauben lassen, menschliche Entscheidungsspielräume nicht genutzt und damit ein System der Bevormundung stabilisiert, das erst 1989 krachend zusammenstürzte.

Deswegen schreibt König – mit Blick in den Spiegel – erst einmal in der Vergangenheitsform: „Das ‚Spiegelprinzip‘ bekam nun eine ganz neue dramatische Dimension: sich im Spiegel noch anschauen können und sein Tun danach ausrichten, dass man es vor sich selbst und, als Christ gesprochen, vor Gott rechtfertigen kann und nicht vor einem Diktator, einer Partei oder irgendeinem Chef, irgendeiner Chefin. Hatte man wirklich darauf geachtet, dass egoistisches Nützlichkeitsdenken gepaart mit Subjektivismus nicht die Oberhand behielt gegenüber Takt und Nächstenliebe?“

Wobei er es eben nicht belässt. „Uns bleibt die Mahnung, das ‚Spiegelprinzip‘ unter allen Bedingungen und Umständen, auch und gerade unter schwierigsten, zu wahren/zu praktizieren, um im Leben mit sich selbst im Reinen zu bleiben. Wohl wissend, dass man die Zukunft, auch die allernächste, nicht mit letzter Sicherheit vorausahnen kann.“

Denn die Leute, die einen meist ganz freundlich zum ach so geliebten opportunen Verhalten drängen, die sterben auch bei den schönsten Revolutionen nicht aus. Die tauchen immer dann auf, wenn es um Macht, Einfluss, Pfründe, Prestige und – na ja – Geld geht. Und es sind immer wieder dieselben Verhaltensweisen, die Menschen auch gegen ihr Gewissen und vor allem gegen besseres Wissen handeln lassen. Das steckt in diesem fast bescheidenen „wohl wissend“.

Die Mahnung gilt.

Der Anglist Volkmar Munder steuert dann seine Herbsterlebnisse von 1989 bei, als er zu den wenigen Universitätsmitarbeitern gehörte, die sich die Ereignisse gleich draußen unterm Fenster in der Grimmaischen Straße und auf dem Nikolaikirchhof zu eigen machten. Dieser Abschnitt ist mit Bildern von Armin Kühne aus dem Herbst 1989 illustriert, bevor Fritz König noch einmal auf die sehr weitreichende Umstrukturierung der Alma mater Lipsiensis bis zum Jahr 1994 zu sprechen kommt, die deutliche Reduzierung der Personalstellen, das Schließen von Instituten und den parallel in Dresden stattfindenden Aufbau einer „Hauptstadt-Universität“.

Was Leipzigs Universität oft genug ins Hintertreffen brachte, wenn es um die Bewerbung um lukrative Forschungsprojekte und Förderungen ging, oft auch nur zum traurigen Zweiten machte – wie 2006 bei der Bewerbung um ein so wichtiges Exzellenzcluster, das auch die nach wie vor hochkarätige Leipziger Mathematik einbezogen hätte.

Es deutet also manche kleine Erinnerung auch in die Gegenwart, die damals noch Zukunft war. Denn das mit dem In-den-Spiegel-Gucken-Können gilt für eine Menge Leute, die Verantwortung übernehmen – oder auch lieber nicht. Was dann entsprechend fatale Folgen hat. So gesehen, ist 1989 immer irgendwie aktuell. Nur rührt dieses Jahr eben nicht an die übliche Gedenk- und Feierkultur, sondern an den Schweinehund in uns, den es zu überwinden gilt. Immer wieder aufs Neue. Und Parteien, Chefs und Chefinnen, die gern alles beim Alten belassen möchten, die gibt es immer wieder. Nichts reproduziert sich emsiger als das Besitzstandswahren – und das Bangemachen vor allen Veränderungen.

Fritz König Alma mater Lipsiensis im Umbruch (1989 bis 1994), Edition am Gutenbergplatz, Leipzig 2017, 19,50 Euro.

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