Abschieds-Bücher müssen nicht traurig sein. Sie müssen auch nicht immer dieselben rührseligen Geschichten enthalten. Und sie müssen auch nicht immer vom Tod und vom Sterben erzählen. Denn ein Menschenleben ist voller Abschiede. Und auf die meisten sind wir nicht vorbereitet. Auch jene Leute nicht, die immerfort anderen Menschen Abschiede zumuten wollen.
Auch wenn Georg Magirius als Autor und Herausgeber dieser Geschichtensammlung scheinbar eine ganz andere Literaturgattung aufs Korn nimmt: die der üblichen Abschieds-Ratgeber, die die Menschen mit lauter Ratschlägen zum Trauern, Überwinden und Wieder-dem-Leben-Zuwenden überschütten. Sein Buch „misstraut den Lebensvereinfachern, die selbst noch den Tod zu einer Problematik erklären, die sich lösen lässt, sofern man nur die passende Bedienungsanleitung zur Hand hat.“
Da verlässt er sich lieber auf die Sensibilität der Dichter und Dichterinnen, die ja heute so gern in ihre Nische gedrängt werden. Als wäre all das, was sie geschrieben haben, irgendwie nur unter dem Aspekt des Artifiziellen zu betrachten – und nicht als intensives Nachdenken von sensiblen Erzählern über all das, was unser Leben wirklich ausmacht. Wer Literatur nicht (mehr) ernst nimmt, weil er glaubt, fürs ganze Leben die richtigen Rezepte zu haben, der behandelt dann meist auch seine Umwelt so, als wäre es ein technischer Apparat, bei dem man nur Knöpfe drücken muss, und schon lösen sich die Probleme von selbst. Empathie, Respekt, Verständnis für Verletzungen und Verluste?
Woher denn! Ist doch viel einfacher, eine technokratische Partei zu gründen und auf anderen Menschen und ihren Gefühlen herumzutrampeln, nicht wahr?
Das ist doch das, was uns heute an dem ganzen Strauß sogenannter „populistischer“ Parteien so entsetzt: Dass sie wieder mit derselben Arroganz der Technokraten auf dem Leben anderer Menschen herumtrampeln. Egal, ob es Ausländer, Andersdenkende oder Andersliebende sind …
Gehört das hierher?
Ja. Denn die Geschichten, die Magirius ausgesucht hat von Hesse bis Özdogan, von Brecht bis Reinerová, erzählen davon, wie sehr unser Leben immerfort mit Abschieden gespickt ist. Wie es davon sogar ausgemacht wird, denn erst im Verlust wird uns meist offenbar, wie sehr wir an dem Verlorenen hingen, wie tief die Emotionen gingen, die uns mit dieser Welt verbanden. Mit Landschaften und Jahreszeiten zum Beispiel – ein Thema, zu dem Magirius bei Stefan Zweig fündig geworden ist, mit geliebten Menschen, ihren Marotten und Vorlieben (da spüre jeder mal selber nach, wie wichtig die ihm sind), selbst mit Menschen, die uns kurzzeitig Gastgeber waren und die man beim nächsten Mal nicht wiederfindet. Tucholsky weiß zu erzählen, wie seltsam der Abschied vom Urlaub stattfindet. Und Bert Brecht erzählt frappierend von seiner eigenen Großmutter und ihrem ganz und gar gegen alle Konventionen verstoßenden Auskosten der letzten Lebensjahre.
Man merkt schon. Das hier ist ein ganz und gar unpietistisches Buch, regelrecht gegen den Kamm eines ganzen Gebirges von Trauer-Literatur gesammelt, die bisher die christlich-kirchliche Sicht auf das Abschiednehmen prägte. Was aus tiefen pietistischen und lutherisch-orthodoxen Zeiten kommt (über die Luther nur geflucht hätte), als selbst der Protestantismus daranging, den Menschen alle Lebensfreude auszutreiben und sie in Freudlosigkeit und Trauerkloßigkeit zu drücken, auf dass ja niemand dieses Leben mit allen Sinnen genieße.
Zeit wird’s, dass auch gegen die falschen Facetten des orthodoxen Protestantismus protestiert wird, die alle noch lebendig sind. Die „pure Lebensfreude“, die unsere Werbung zeigt, ist nur Talmi. In Wirklichkeit ist unsere Gesellschaft noch genauso lust- und sinnenfeindlich wie die Zeit der Frömmler. Denn dahinter steckt der Neid: Man missgönnt es den anderen, wenn sie Freude am Lebendigsein zeigen. (Insbesondere Ausländern, Andersdenkenden und Andersliebenden, nicht wahr?)
Das Schöne an dem Büchlein: Es zeigt diesen Neid nicht. Es lässt ihn einfach fort und lässt die Autoren erzählen, wie vielfältig und ergreifend Abschiede in unserem Leben sind. Und wie sehr Verluste erst zeigen, wie reich wir tatsächlich waren. Oder noch sind. Auch weil uns die Erinnerungen nicht verloren gehen. Der Verlust macht uns das Erlebte oft erst emotional greifbar. Auch wenn die Trauer mitschwingt – selbst über die einstige Liebe in der Jugend und die damaligen Träume. Wobei es Trauer allein nicht fasst, wenn man Elke Heidenreichs Geschichte „Wurst und Liebe“ liest. Es ist etwas anderes daraus geworden – und trotzdem erzählen die alten Tagebücher von einer Person, die einem seltsam fremd-vertraut vorkommt. Verschüttet irgendwie. Haben wir also auch klammheimlich von unserem früheren Selbst Abschied genommen?
Gerade weil es nicht tieftraurig wird, oft humorvoll und spielerisch ist, wird deutlich, dass die Rückschau auch sensibel macht dafür, dass Leben selbst immerfort mit Abschieden zu tun hat. Und damit mit Weitergehen. Was hinter uns liegt, sind eben nicht nur die versiebten Chancen, sondern auch die Wege, die wir tatsächlich gegangen sind.
Was so einen nicht ganz unwichtigen Gedanken im Hinterkopf anstößt: Dass Leben eigentlich immer bedeutet, nicht alles haben zu können. Dass wir erst dadurch unser Leben leben, weil wir auf all die scheinbar nicht genutzten Möglichkeiten verzichtet haben. Und lebendig wurden wir nur, weil wir auch gelernt haben, loszulassen und loszugehen.
Kann es sein, dass der Unmut vieler Menschen heute genau daher rührt? Aus diesem Zwiespalt, dass ihnen eingeredet wurde, sie könnten Alles haben, ohne aufbrechen und loslassen zu müssen? Kommen sie einem deshalb wie beleidigte Klammeraffen vor mit lauter Angst vor der Welt?
Einer Welt, die man nur kennenlernt, wenn man den Mut hat, Abschied zu nehmen.
Was natürlich nicht ausschließt, dass wir durch Abschiede tatsächlich verlieren. Eine eindrucksvolle Geschichte über so einen Abschied erzählt Lenka Reinerová. Aber sie ist es auch, die den Band mit einem kleinen Text beschließen darf, in dem es auch heißt: „Wir sind imstande, das Auf und Ab unserer Tage zu empfinden, können Anteil nehmen an den Begebenheiten in der Welt und wissen dabei sehr wohl, dass wir nur ein Körnchen im unendlichen Meer der Menschheit sind. Gerade das ist aber, so glaube ich, vor allem beruhigend.“
Georg Magirius Abschied, Evangelische Verlagsbuchhandlung, Edition Chrismon, Leipzig 2017, 15 Euro.
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