Eigentlich kann man über das Thema ganze Buchserien schreiben. Und zumindest Titel und Untertitel versprechen eigentlich zwei Bücher, die gar nicht drinstecken. Dafür steckt das dritte drin und wird vielen Betroffenen helfen. Es könnte heißen: „Wie gehe ich mit dem verbalen Brutalismus von heute um?“ Der „verbale Brutalismus“ stammt wirklich von Jan Skudlarek. Er macht sich berechtigte Sorgen.
Dafür stecken die anderen beiden Bücher nicht drin. Was sicher Herausforderung für andere kluge Leute ist. Denn es wäre wirklich spannend zu erfahren, warum die Stinkefinger-Pöbeleien, Hass und Beleidigung so zugenommen haben in den letzten Jahren. Skudlarek gibt zumindest eine Antwort, wie er das sieht. Denn die Radikalsierung der öffentlichen Nicht-Diskussion hängt natürlich eng mit dem Aufkommen des Internets und der „social media“ zusammen. Facebook hat ja vorgemacht, wie man diese Zerstörung der Kommunikation erst zulässt und dann auch noch ewig zögert, irgendetwas dagegen zu tun.
Sicher würde eine eingehende Untersuchung auch ergeben, dass die Hass-Botschaften nicht wirklich mehr geworden sind, gerechnet auf die Bevölkerung. Doch vor dem Aufkommen der sogenannten sozialen Netzwerke tobten sich Hass, Verachtung und Verächtlichmachung immer nur im kleinen Kreis aus, am sogenannten Stammtisch. Pöbler und Menschenhasser blieben unter sich. Die Bildung größerer Menschenhasser-Netzwerke war aufwendig. Man musste Büros gründen und Parteien und aufwendige Treffen organisieren, wenn man mal ein Haufen von 100 oder 1.000 werden wollte.
Aber das hat sich mit Facebook & Co. geändert. Diese Netzwerke sind geradezu darauf ausgelegt, dass sich Menschen mit gleichen Denkweisen finden. Sind also auch ideal für Rassisten, Antisemiten, Wütende, Beleidigte und sowieso allerlei unglückliche Leute, die das Gefühl haben, dass sie zu kurz gekommen sind. Auf einmal haben sie direkten Zugang zu scheinbar richtig vielen Menschen, die genauso verbiestert sind wie sie selbst, fühlen sich stark, bekommen Beifall von Ihresgleichen und können sogar noch eins draufsetzen: Da auch die Leute, die sie nicht mögen, in diesem Netzwerk sind, können sie ihren Hass und ihre Wut direkt bei denen abladen. Auf einmal wird das, was sonst eher im Verborgenen vor sich hinpöbelte und stänkerte, für alle sichtbar und nimmt, da die Wut immer gegen Personen gerichtet ist, eine unglaubliche Wucht an.
Das Hauptkennzeichen dieser Beleidigungskultur ist übrigens – wie Skudlarek sehr schön herausarbeitet – die Unfähigkeit zur Reflexkontrolle.
Es ist nicht nur die emotionale Wucht dieser Äußerungen, dass hier ohne einen Moment des Nachdenkens und der Rücksichtnahme drauflos beleidigt wird. Es ist sogar das Grundkennzeichen, das sie ausmacht. Der Mittelfinger, wie Skudlerak es nennt, war vorher schon da. Doch er lebte in einer Umwelt, in der er immer eine Außenseiterposition einnahm. Wer in einer Gesellschaft, wo man den kritisierten Menschen täglich über den Weg läuft, lebt, der wird sich hüten, sie ständig zu beleidigen oder gar so zu piesacken, dass sie irgendwann zurückschlagen.
Stimmt nicht ganz. Ich weiß. Ein gut Teil der deutschen Literatur erzählt auch davon, wie das Mobben und Fertigmachen von Schwächeren in deutschen Provinznestern passiert ist und passiert. Die Meute fühlt sich immer dann stark, wenn sie das Gefühl hat, dass der Gegner schwächer ist und sich nicht wehren kann. Wenn dieser Gegner aber dummerweise auch noch Gesetz, Polizei und Gericht auf seiner Seite hat, wird die Meute vorsichtig, nimmt sich mehr in Acht, wird gezähmt.
Zivilisation ist die Zähmung der allgegenwärtigen Gewalt im menschlichen Dasein. Die Gewalttätigen halten sich zurück. Besser ist noch, wenn Menschen frühzeitig das lernen, was man früher mal Sitten, Manieren und Respekt nannte. Normalerweise lernen Kinder das. Aber augenscheinlich nicht alle. Und bei vielen Mitmenschen sind die Manieren augenscheinlich wirklich nur Hülle. Wenn sie die Tür hinter sich zu machen, fühlen sie sich nicht mehr daran gebunden und benehmen sich – saumäßig. Und die „social media“-Kanäle scheinen das zu bestärken, scheinen vielen Leute das Gefühl zu geben, dass sie hier völlig anonym sind und sich so rücksichtslos benehmen dürfen, wie ihnen gerade ist. Bis hin zu Hass, Verleumdung, Beleidigung, Gewalt- und Mordandrohung.
Sie verwechseln den öffentlichen Raum, den das Internet darstellt, mit ihren heimischen vier Wänden. Einige Untersuchungen und auch der kühne Besuch von Renate Künast bei einigen dieser Pöbler haben gezeigt, dass diese Leute sich wohl so nicht verhalten hätten, wäre ihnen bewusst gewesen, dass sie sich tatsächlich in aller Öffentlichkeit saumäßig benahmen. Und auch einen echten, lebendigen Menschen mit ihrem Hass trafen. Denn wenn sich Menschen tatsächlich begegnen, dann benehmen sie sich in der Regel nicht so. Da greift normalerweise der menschliche Anstand.
Es gibt natürlich auch Menschen, die dann weiterpöbeln. Die selbst diesen Unterschied nicht mehr begreifen und die Hasstiraden, die sie im Internet vorfinden, nun auch noch auf öffentliche Plätze tragen. Aber das wäre im Grunde das erste nicht in diesem Buch zu findende Buch – das wirklich die Senkung der Hemmschwellen und den „Aufstieg des Mittelfingers“ analysieren würde.
Und wer eigentlich an dieser Zerstörung gesellschaftlicher Kommunikation besonders Interesse hat und wie daran gearbeitet wird.
Denn wenn eine demokratische Gesellschaft nicht mehr zum Gespräch fähig ist, dann beginnt sie zu zerfallen. Dann radikalisieren sich jene Gruppen, in denen das Gefühl dominiert, nicht mehr mitreden zu dürfen. Das wäre dann eine wirkliche gesellschaftliche Analyse, die nicht nur den radikalen Randgrüppchen ein miserables Kommunikationszeugnis ausstellen würde.
Das Thema kann Skudlarek nur streifen. Genauso wie das andere im Untertitel: „Warum Beleidigung heute zum guten Ton gehört“. Tatsächlich weist er nach, dass Beleidigungen zwar zum menschlichen Kulturgut gehören und durchaus auch kreativ angewendet werden können. Aber zum guten Ton gehören sie nicht. Im Gegenteil: Dort, wo sie die Kommunikation dominieren, sind der Eskalation keine Grenzen mehr gesetzt. Sie zerstören jede Gesprächsbasis. Was Skudlarek natürlich in die Lage eines klugen Kommunikationsberaters bringt, der seinen aufmerksamen Lesern zeigt, wie man aufgeheizte Situationen entspannt und möglicherweise die Diskussion von der persönlichen Ebene (wo der Angriff auf die Person zielt) wieder auf die Sachebene holt, wo man sich über eine Sache, ein Thema unterhält. Was nicht heißt, dass man am Ende ein Herz und eine Seele werden muss. Man kann auch in dem Wissen auseinandergehen, dass man zum Thema keine gemeinsame Position hat. Auch das müsse eine demokratische Gesellschaft aushalten, stellt Skudlarek fest.
Der freilich auch an etlichen Stellen sehr emotional wird, wo es um die Frage geht, warum Gesprächsteilnehmer immer häufiger diese Sachebene verlassen und persönlich werden. Das hat nämlich mit dem ganzen Gespinst von Fakenews, Alternativen Fakten, Lügenpresse usw. zu tun.
Denn nicht nur klassische gute Erziehung geht in einigen Teilen der Gesellschaft immer mehr verloren. Augenscheinlich ist auch das Bildungssystem mittlerweile so desolat, dass immer mehr Menschen Fakten und Meinung vermengen, eins vom anderen nicht unterscheiden können und deshalb glauben, jeder könne meinen, was er wolle, egal zu welchem Thema.
So erodiert natürlich die Verständigungsbasis einer Gesellschaft. Was eben nicht nebensächlich ist. Im Gegenteil. Eine Demokratie lebt vom sachlichen und fundierten öffentlichen Gespräch. Das ist ihr Lebenselixier. Und früher gab es durchaus auch noch Leute, die glaubten, alle die schönen neuen Medien vom Fernsehen bis zum Internet würden genau dieses qualifizierte öffentliche Gespräch für alle erst ermöglichen. Wenn man genauer hinschaut, steckt das als Möglichkeit durchaus in diesen Medien. Die Umsetzung ist aber meist das Gegenteil. Die medialen Foren haben sich in Arenen und Schauplätze verwandelt, in denen die wildesten Prügeleien zelebriert werden.
Skudlarek bringt es mit einem Satz auf den Punkt: „Öffentliches Sprechen ist verwantwortungsvolles Sprechen.“ Was eben auch heißt: Wir haben immer Verantwortung für all das, was wir öffentlich äußern. Und vor allem auch: Wie wir es äußern. Was übrigens auch für die Pöbler und Provozierer gilt, die es sogar darauf anlegen, allen Respekt und jede Sachlichkeit mit Füßen zu treten, weil sie damit sofort die vollste Aufmerksamkeit bekommen. Und reihenweise spielen Medien, die auf Jagd nach Reichweite und Aufmerksamkeit sind, dieses Spiel mit. Jede Provokation, jede Grenzüberschreitung, jede absichtlich lancierte Bosheit wird aufgenommen, kommentiert und damit verstärkt. Was für Pöbler aller Couleur ja eindeutig sagt: Wenn ich beleidige, pöble und wüte, bekomme ich die meiste Aufmerksamkeit.
So hat Donald Trump seine Wahl gewonnen. So gewinnen europäische „Populisten“ ihre Wahlen. Und vor allem: Sie verändern damit den gesellschaftlichen Diskurs. Sie sorgen dafür, dass ihre Themen dominieren und alle sachlichen Debatten über die Probleme, die jede Gesellschaft hat, beiseitegeschoben werden, regelrecht verdrängt. So sehr, dass man sich beim Einschalten diverser Talkshows nur noch fragt: Sind die alle bekloppt geworden?
Sind sie möglicherweise nicht. Aber wer die Gesprächskultur derart zum Boxkampf macht und nicht mal mehr weiß, wie man zur sachlichen Debatte zurückkommt, der verstärkt natürlich den Stinkefinger-Effekt, den Skudlarek beschreibt. Denn wer stänkert und pöbelt, bekommt die volle Aufmerksamkeit. Wer sachlich argumentiert, wird niedergeschrien. Und logischerweise hat dann eine ganze Gesellschaft das Gefühl, dass sich Themen und Gesprächsklima völlig verändert haben, dass Hass und Wut allgegenwärtig sind und vor allem: in der Mehrheit.
Denn der gut erzogene Mensch pöbelt ja nicht, der meidet Streit und Geschrei. Und wird deshalb auch nicht wahrgenommen, selbst dann nicht mehr, wenn die Sachlichen und Nachdenklichen die Mehrheit bilden.
Demokratie ist im Grunde die Gesellschaftsform des gegenseitigen Respekts. Sie ist darauf angewiesen, dass die Menschen im Gespräch eben nicht wüten und pöbeln und beleidigen, ständig einander den Stinkefinger zeigen.
„Höflichkeit und Respekt sind also freiwillige Selbstkontrolle“, schreibt Skudlarek. „Man kontrolliert sein Verhalten freiwillig, so dass man möglichst wenig beleidigt – und möglichst sinnvoll miteinander redet. Frei von unnötigen Ablenkungen auf der Beziehungsebene.“
Es ist also in weiten Teilen (bei aller ironischen Emotionalität) ein ziemlich therapeutisches Büchlein, das der Philosoph und Lyriker hier geschrieben hat. Eines, das uns daran erinnert, dass es für eine lebendige Diskussion immer Regeln und Rücksichtnahme braucht. „Ohne Beleidigungen können wir störungsfrei reden. Wir verstehen uns besser, wenn niemand schreit.“
Das Schreien kann ein Signal sein. Kein zu unterschätzendes. Denn – auch das stellt Skudlarek fest – zumeist hat der Schreihals Gründe dafür, warum er das Gefühl hat, dass ihm niemand zuhört und keiner seine Probleme ernst nimmt. Doch wenn es den Verantwortlichen nicht gelingt, mit ihm auf der Sachebene zu reden (und besonders angestrengt haben sich unsere politischen Schwergewichte dafür nun wirklich nicht), dann landen diese Düpierten und Ausgegrenzten meist dort, wo ihnen wenigstens andere applaudieren, weil sie im Schreien auf einer Wellenlänge sind. Was gefährlich ist für eine Gesellschaft, betont Skudlarek immer wieder.
Man fühlt sich zwar groß und mächtig im Gebrüll und Gepöbel – aber ein Gespräch findet nicht statt.
Und wer sich an einige der verzweifeltsten Szenen aus dem Familienleben erinnert, weiß, dass die verzweifeltsten Situationen immer welche waren, in der beide Seiten nicht wussten, wie sie aus dem Geschrei wieder auf eine Sachebene kommen sollten. Kind nicht und Elternteil nicht.
Was rät also der Philosoph?
Luft holen, bis 30 zählen, den Brass abklingen lassen und über die (gemeinsame) Situation nachdenken. Und dann nach sachdienlichen Lösungen suchen.
Ein Buch also für alle, die selbst rauskommen wollen aus diesem blinden Hin- und Herpöbeln und wieder auf eine Gesprächsebene wollen, wo man sachlich und neugierig über die Dinge redet, zuhört, zu verstehen versucht und auch sachlich antwortet, wenn man eine Position nicht teilt.
Denn die Wut steckt an. Beleidigungen erzeugen immer neue Beleidigungen, immer neuen Frust, immer neue Wut.
Weiter bringt uns das alles nicht. Nicht einen Schritt.
Da hilft so ein freundlich mit Beleidigungen gespicktes Buch, sich einfach mal einen Schritt rauszunehmen, ein bisschen Distanz zu gewinnen und auf diese ganze Stinkefingerei zu verzichten. Denn die nutzt nur einer Gruppe. Und das sind eindeutig die Leute, die keine offene Gesellschaft wollen, keine Demokratie, in der Meinungsfreiheit für alle gilt. Was man oft vergisst, wenn man so richtig in Rage ist. Aber es stimmt schon: Freiheit hat immer etwas mit Verzicht und Selbstkontrolle zu tun. Und noch viel mehr mit dem Respekt voreinander.
Genau da verläuft die Grenze.
Jan Skudlarek Der Aufstieg des Mittelfingers, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg 2017, 9,99 Euro.
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