Für FreikäuferDass der Leipziger Lyriker Peter Gosse seinen Lesern gern Nüsse zum Knacken aufgibt, das zeigt schon der Titel, den er seinem Band mit Liebesgedichten gegeben hat: „Stabilierte Saitenlage“. Ein kleiner Seitenhieb auf den „bewunderten Mit-Leipziger“ Gottfried Wilhelm Leibniz, dessen 300. Todestag 2016 gefeiert wurde, und dessen „prästabilisierte Harmonie“.
Da legt man die Liebesgedichte natürlich erst mal beiseite und schaut bei Leibniz nach. Denn mit seiner „prästabilisierten Harmonie“ hat er ja die Philosophen des 18. Jahrhunderts zum Verzweifeln gebracht. Darin steckt der ganze Determinismus des Philosophen, über den schon Voltaire spottete. Denn es war Leibniz, der versucht hat, die Welt als eine vom großen Uhrmacher Gott bestens eingerichtete, voreingestellte und damit bestmögliche zu definieren. Das haben zwar auch 2016 etliche Leute belustigt karikiert. Aber sie haben nicht begriffen, was Leibniz damit angerichtet hat. Und wie weit er damit seiner eigenen Zeit hinterher war. Ein Anti-Aufklärer im Aufklärer-Gewand.
Den Rest kann man bei Voltaire nachlesen.
Und bei Gosse?
Eigentlich darf man skeptisch sein. Auch wenn er dem „Uhrmacher“ Leibniz durch sein ursprüngliches Studium der Hochfrequenztechnik nahe ist. Er hat dasselbe, die Welt als große Maschine entziffernde Kalkül. Den Ingenieur konnte der 1938 Geborene nie verleugnen. Er steckt auch in seinen Nicht-Liebesgedichten.
Und in seinen Liebesgedichten erst recht. Obwohl der Untertitel trügt: Es sind nicht alle Liebesgedichte drin. Etliche aus der Frühzeit, als er noch schnodderiger und sarkastischer mit der Liebe und allen ihren Folgeerscheinungen umging, sind nicht drin. Vielleicht aus eben diesem Grund: dem fehlenden, stabilen Gleichgewicht. Was der zweite Punkt ist, an dem er diesem Leibniz nahe ist: dem Bedürfnis nach ausgewogenen Gleichgewichten, dem beruhigenden Funktionieren der Maschine Mensch und der Welt. Ein großer Harmoniker.
Der zumindest die dumme Ahnung hat, dass Harmonie nicht zu erreichen ist. Nicht mal als glücklicher und vergänglicher Moment, wie er die Liebesgedichtbände anderer Dichter füllt. Denn das Problem der Tüftler ist: Sie können nicht loslassen. Nicht mal in Zeiten des Rausches oder der friedlichen Erschlaffung danach. Nicht mal da. Sie misstrauen den Dingen, der Liebe erst recht. Denn sie ist – Pech für sie – ein unbeherrschbares Gefühl. Eines, das Chaos ins Leben bringt, in die Gefühle sowieso. Andere finden das toll. Peter Gosse nicht. Er findet das gefährlich, subversiv. Auch wenn es ihn immer wieder hintreibt zum Weiblichen. Ob zur konkreten Frau im Besonderen, das weiß man hernach nicht. Denn mit nie nachlassendem Ingenieursblick beobachtet er selbst noch mitten im Verschlungensein, wie’s vor sich geht: spürt jeden Knochen, riecht den Schweiß, empfindet die ganzen Sekrete. So wird aus Seid-Umschlungen eine „Vollziehens-Not“. Not ganz elementar begriffen: Selbst im schönsten Moment ist der Beobachter hellwach und barmt: Möge doch die „von Vorher, von Nachher befreite“ Zeit anhalten. „Ränderlos“. Dumm nur: Sie hält nicht an.
Heute noch viel weniger als dereinst in Brno oder anderswo. Denn nun haben wir auch noch Ansprüche. Die ganze Verschmelzung von Mann und Frau ist vermessen, bewertet, eingenordet. Und sie hat perfekt zu sein. Wir sind zu Leistungserbringern in Sachen Liebe geworden. Und sichtlich gehen die sanftesten Beziehungen zu Schanden, wenn auch nur der Zweifel nagt: War’s das jetzt? Haben sich „des Fleisches Räume/In schöner Nötigung zum Punkt“ verdrillt?
Zu einem? Und wenn nicht? Dann ist die Eine sauer und der Andere hat ein Problem.
Erst recht, wenn er darum weiß, dass die Dinge nicht immer funktionieren. Und schon gar nicht harmonisch sind. Auch und gerade aus Eigenverschulden, das Viele gar nicht kennen, weil sie nicht drüber nachdenken und sich nicht selbst sezieren beim Liebemachen. Beim Verfallensein an „das Weib“, das sich der Dichter am Ende sogar abgewöhnen will. Weil die Sache zu „schalem Liebesfleiß“ geworden ist. So nüchtern schaut nicht jeder auf eine lange Beziehung, in der am Ende eben nicht immer nur der Andere „schuld“ ist. Wenn überhaupt. Denn in manche Rolle gerät man, ohne daran etwas zu beherrschen: „Ich hab mich satt. Entpflichtung wäre höflich.“
Geht man dann auseinander? Und warum eigentlich? Oder: Warum nicht. Denn so auf seine alten Tage wird auch dieser faunische Dichter nachdenklich und anhänglich. Die alte, spöttische Distanz zu allen Emotionen wird brüchig: „Hab mich in das Häppchen Sein verbissen.“ Nach so einer Zeile in „Zeit wird’s“ darf der Leser zu Recht erwarten, dass es weniger von diesen skeptischen Gedichten über allerlei zufällige Frauenbegegnungen gibt. Dass sich der Fokus ändert. Denn auf einmal merkt auch der große Uhrmacher: Das Leben wird kürzer, der Körper beginnt zu stottern. Und: Es gilt etwas zu verlieren.
Hat das auch den alten Leibniz mal erwischt? Zu gönnen wäre es ihm. Niemand hat 2016 gewagt, dieses vielgepriesene Universalgenie zu befragen, warum er so bedürftig war, sich die beste aller Welten konstruieren zu müssen. Denn – philosophisch betrachtet – ist das die größtmögliche Abwehrschlacht gegen das, was dem Menschen hienieden Angst macht: zu sterben, zu vergehen. Eingestehen zu müssen, dass alles einmal vorbei ist. Und das möglicherweise (Doktor Faust lässt grüßen) im Moment der allergrößten Gier nach Leben. „Gier, warum jetzt, / da ich mich auflöse“, schreibt Gosse. Nix da mit Rilkes „Herr, es wird Zeit“.
Zeit ist schon lange. Und spät erst merkt man, wie viel man mit der Suche nach der stabilen Harmonie versäumt hat, nicht gesehen, nicht geschmeckt, nicht an sich herangelassen. Gosse: „Herrliches Hiersein, ja./ Ach wie es doch kost, / Da es das Leben / Kostet.“
Da kommen die Kinder und Enkel ins Bild. Da ordnet sich das alles ganz anders, wird das Sterben zum Teil des Lebens. Nicht endgültig. Denn es kündigt sich an. Und nur zaghaft die Hoffnung, dass bei den Enkeln eine Erinnerung bleibt: „Vielleicht dass beim Hören meines Namens / ein Lichtstäubchen Heimelung dermaleinst, ein Lichts-Splitterchen / Ihr noch vorüberflöge?“
Und was folgt daraus? – „Ich entschloss mich zu weilen.“
Und nicht nur das. Auch der faunische Ton, der viele seiner Liebes-, Lebens- und Genussgedichte bestimmte, weicht auf einmal einem dankbareren. Auf einmal taucht ein Wort auf, das der Faun und Satyr so zuvor lieber mied, lieber ganz skeptisch auf Distanz blieb zu all den wirrenden Gefühlen: Nähe.
Und auf einmal merkt man, dass die Illustrationen, die er sich aus dem grafischen Werk von Gerhard Kurt Müller ausgesucht hat, doch passen. Fast alles vertraut sich, umarmende Paare. Na so was? „Ineinsgebogen gehen wir, / Aus.“, heißt es in „Für Dich, Helga“.
Ein Abschied in Moll?
Gar nicht. Denn jetzt lässt dieser Dichter auch zu, was er zuvor immer so skeptisch distanziert beschrieb: Dass Leben vor allem Liebemachen ist. Oder schön poetisch: „Das ist an Erde das Schöne: / Dass an ihr allüberall, / Jedes Ärschchenbreit, / Beilager wo nicht gewesen ist so / Sein wird.“
Der Atem des Abschieds öffnet sichtlich den Blick dafür, dass auf dieser Welt gewaltig Schönes los ist. Was nicht bedeutet, dass der Dichter nun noch sentimental wird. Kommt gar nicht in die Tüte. Nur das Lieblingsgetränk wechselt ganz zum Schluss noch. Einst war es Wodka. Nun? – „Nun nimm schon Deine Hände vom Gesicht / Und trink Gehopftes.“
Denn irgendwie ist Liebe eben doch mehr als nur dieser kurze, vergängliche Rausch in nassem Gras oder anderswo. Muss man ja mal sagen dürfen, auch wenn man als Dichter für ganz andere Töne bekannt ist. Nicht so beeindruckte, wie diese vom Blick übers Meer: „Da der wispernde Globus / Dir in die Muscheln brandet.“
Das klingt schon ganz anders als der im ersten Gedicht noch beschworene „lässige, fast teilnahmslose Kaltsinn“, wo er „Enttäubte messerklar das Lirumlarum / Der Lüste zu des Lebens-Muss Durchvöllern.“
Auch Völlerei und Rausch sind kein Muss. So wenig, wie das Leben. Aber dazu muss man wohl erst ein Weilchen alt werden, um das zu verstehen.
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