Für FreikäuferErstmals erschienen ist dieses Buch der Wittenberger Historikerin Elke Strauchenbruch 2010. Dass es im Jubiläumsjahr des Thesenanschlags noch einmal überarbeitet wurde, freut bestimmt alle Lutherfreunde oder Lutherinteressierten. Denn selten war die Neugier auf das eigentliche Leben des Wittenberger Theologieprofessors größer. Aber in „Luthers Kinder“ geht es nicht nur um Luthers Kinder.
Auch nicht um die vielbeschriebene besondere Beziehung Luthers zu Kindern im Allgemeinen (die so schön ohne Fragen und Zweifel an Gott glauben) und seine eigenen im Speziellen. Auch wenn die natürlich im Zentrum dieser Recherche in den verfügbaren Überlieferungen stehen. Denn Luther selbst steht zwar da wie ein Denkmal ganz allein in der Dunkelheit der Geschichte. Aber was wurde denn nun aus Johannes, Paul, Martin und Margarete? Sie blieben doch nicht ewig Kinder, mussten erwachsen werden und schon früh auch lernen, Verantwortung zu übernehmen, denn ihre Eltern starben früh. Im Vergleich zu heute sehr früh.
Das 16. Jahrhundert war kein sehr gesundes Jahrhundert. Immer wieder suchte die Pest auch Wittenberg heim, die Frauen starben oft jung im Kindbett, die Kindersterblichkeit war hoch. Die tragische Geschichte um den frühen Tod von Luthers Lieblingstochter Magdalena (Lenchen) ist ja bekannt. Und auch Luthers frühe Todesahnungen sind bekannt – seine Zeit mit Katharina ist auch eine Zeit vieler Krankheiten, unter denen er litt. Man merkt schnell, dass die romantischen Bilder, die vom Lutherschen Haushalt gerade im 18. Jahrhundert gemalt wurden, so nicht stimmen können. Es ist, als zöge Elke Strauchenbruch einen Vorhang beiseite und machte ein Leben sichtbar, das so glatt und museal nicht war, wie es gern erzählt wird. Die Bedrohungen, die die Menschen dieser Zeit verspürten, waren nicht eingebildet, sondern real.
Und da sie über all die medizinischen Errungenschaften unserer Zeit noch nicht verfügten, kam ihnen der eigene Tod und der ihrer Liebsten berechtigterweise wie eine Strafe vor, eine unfassbare Entscheidung des allgegenwärtigen Gottes. Man versteht selbst diesen Martin Luther besser, der so lange gebraucht hat, sich selbst einen gnädigen Gott zu erschaffen – und dann wurde er durch die Liebe zu seiner Familie in neue Nöte gerissen.
Aber er selbst starb ja, als seine überlebenden Kinder alle noch Teenager waren. Die Söhne steckten noch mitten im Studium. Und Katharina musste kämpfen, um die Kinder überhaupt behalten zu dürfen. Auch das muss erzählt werden, weil es die wenigen Jahre betrifft, in denen sich Katharina ohne den schützenden Mann an ihrer Seite allein durchschlagen musste. Und das war ein hartes Brot. Das wäre es sogar gewesen, wenn nicht der Schmalkaldische Krieg nach Wittenberg gekommen wäre und die Güter und Gärten verwüstet hätte. Was Katharina zwei Mal zur Flucht zwang, denn es waren ja die kaiserlichen Truppen, die Wittenberg bedrohten und damit den Mittelpunkt der Reformation, die Reformatoren und ihre Familien. Beim dritten Mal war es die Pest, die Katharina zur Flucht zwang.
Aber nicht nur das wird plastisch, denn bevor Luther starb war das Luthersche Anwesen eines der wohlhabendsten in Wittenberg. Nicht nur die Studenten der Universität lebten in der von Katharina betriebenen Burse im Schwarzen Kloster, das zum Lutherhaus geworden war. Die Luthers nahmen all die Zeit auch immer wieder Kinder aus ihrer Verwandtschaft auf. Man lernt ein wenig, wie Fürsorge damals funktionierte, wie Brüder, Schwestern, Onkel und Tanten für die anderen einsprangen, wenn die Eltern verwitweten oder gar beide starben. Auch Martin und Katharina sprangen so selbstverständlich ein, dass man staunt. Denn dabei beschränkten sie sich nicht nur auf Kinder aus der engsten Verwandtschaft. Auch Kinder aus etwas fernerer Verwandtschaft nahmen sie auf, wenn diese zum Studium nach Wittenberg geschickt wurden.
Plastisch schildert Elke Strauchenbruch den Lutherhof, der (aus heutiger Sicht) ein Paradies für Kinder gewesen sein muss, denn hier gab es nicht nur den Garten, der die Küche für die vielen Bewohner des Hauses mit Obst, Gemüse und Kräutern versorgte, sondern auch all jene Nutztiere, die man brauchte, um sich mit Fleisch, Eiern, Milch zu versorgen. Die Kinder lernten zwangsläufig auch alle Tätigkeiten, die zur Bewirtschaftung eines solchen Hofes gehörten. Nicht unbedingt die Kunst, so ein Gut auch gut verwalten zu können, was später Martin junior leidvoll erfahren sollte.
Die Autorin erzählt das, was über all die Kinder zu finden ist in den schriftlichen Überlieferungen, schön ordentlich sortiert. Allein bei den Luther-Geschwistern wird immer wieder deutlich, dass ja immer Kinder verschiedensten Alters im Haus waren. Da die konkreten Schilderungen fehlen, kann man sich nur selbst ausmalen, wie viele Kinder da tatsächlich meist gleichzeitig im Haus waren – spielend und den Hof erkundend die kleinen, die größeren schon zu strenger Zucht angehalten und zum eifrigen Lernen. Ein Stück weit blicken auch Luthers Erziehungsmethoden durch. Von seinen Kindern (und denen, die ihm anvertraut waren) verlangte er durchaus Gehorsam und sittliches Betragen. Wenn doch mal ein Kind nicht spurte, konnte er rigoros sein im Liebesentzug.
Obwohl er doch eigentlich – genauso wie sein Freund Melanchthon – lernen konnte, dass elterliche Strenge auch ins Unglück führen konnte. Denn immer wieder versuchten sie (so war es ja üblich) auch zu regeln, wen die Kinder zu heiraten hatten und wen nicht. Es ging dabei nicht immer nur um Versorgung, oft genug spielten auch die alten, noch immer gültigen Standesschranken hinein.
Und gerade beim späteren Schicksal der Kinder merkt man, wie unruhig diese Zeiten waren. Die Reformation hatte das ganze Land in Bewegung gebracht – was Unsicherheit bedeutete, aber auch neue Chancen. Man wäre ja fast geneigt, Engels wieder zu zitieren mit seinen „Riesen“. Aber wenn man so ein Buch liest, merkt man, dass auch Engels es sich (zu) einfach gemacht hat. Gerade nach Luthers Tod merkte Katharina, wie abhängig sie war von der Unterstützung des Herzogs – und wie schutzlos, als der Fürst nicht mehr helfen konnte. Der Freiraum, den Luther bekommen hatte, war ein geschenkter. So etwas ist auch heutzutage eher die Ausnahme. Was gilt, sind die Zwänge von Broterwerb und gesicherter Existenz. Um die Luthers Kinder alle kämpfen mussten. Paul und Johannes gingen später in (wechselnde) fürstliche Dienste. Wobei Paul sich einen eigenen guten Ruf als Mediziner erwarb.
Was ihn nicht davor bewahrte, dass die Leipziger 1968 auch seine Grabstätte zerstörten, als sie die Paulinerkirche sprengten. Denn dort war er beigesetzt, so wie Tetzel, so wie Gottsched. Elke Strauchenbruch erwähnt es nur beiläufig – aber gerade deshalb stolpert man, wird einem eben auch beiläufig bewusst, wie viel Leipziger Geschichte da 1968 von blinden Machthabern einfach zerstört wurde.
Während über die Lutherkinder noch recht viel bekannt ist, weil sie zeitlebens noch die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen hatten, verschwinden die anderen Kinder, die im Lutherhaushalt aufgenommen wurden oder für die Martin Luther Pate war, meist schnell aus den überlieferten Akten, verlieren sich ihre Leben im Dunkel. Auch das so eine kleine Lehre der Zeit – keine sehr tröstliche. Zum Beispiel für Spurensucher, die nur zu gern gewusst hätten, wie alle diese Geschichten weitergingen. Denn unter diesen Kindern sind sichtlich einige sehr spannende und faszinierende Persönlichkeiten – auch und gerade unter den Mädchen, die ja noch viel schneller aus der Geschichte verschwanden, wenn sie verheiratet wurden, Kinder bekamen und dann meist sehr früh starben.
Die Tragik wird besonders am Schicksal von Melanchthons Tochter Anna deutlich, die früh verheiratet wurde an einen Mann, den sie liebte, doch die Ehe wurde nicht glücklich. Als sie mit 24 Jahren starb, war sie zehn Jahre verheiratet gewesen und hatte sieben Kinder geboren.
Es ist in dieser Recherche zu Luthers Kindern ein Zipfel jener Realität, in der der berühmte Reformator wirklich lebte – mit all den Fährnissen einer Zeit, in der man sich gegen die Unbilden des Lebens nicht versichern konnte und Kindheit meist recht früh endete. Das mit dem „Ernst des Lebens“ war damals tatsächlich noch ernst zu nehmen. Und es wurde den überlebenden Kindern meist unverhofft auf die Schultern gepackt – so wie es den Luther-Kindern nach Katharinas frühem Tod geschah. Sie erbten zwar alles – aber sie konnten das Erbe nicht sichern.
Dass heute das Lutherhaus in Wittenberg besichtigt werden kann, ist ein Glücksfall. Denn später übernahm die Universität das Gebäude. Und es stand glücklicherweise in Wittenberg und nicht in Leipzig. Und es war ein doppelter Glücksfall, weil hinterm Haus viele Abfälle landeten, die den heutigen Archäologen einen plastischen Einblick ins tägliche Leben im Lutherhaus ermöglichen. Bis hin zu den Spielzeugen der Kinder, auch wenn eher nur jene aus Ton überdauert haben und nicht die vorherrschenden Holzspielzeuge.
Und trotzdem ist es schwer vorstellbar, sich diesen quirligen Haushalt mit lauter kleinen und großen Kindern vorzustellen, Teenagern, für die emsig nach Ehepartnern gesucht wurde, Studenten, die man heute einfach als minderjährig betrachten würde, wie das im Hof, im Garten, im Haus gewimmelt haben muss. Und Luther selbst war es ja nicht, der sich um all das kümmern musste. Der genoss es hingegen, mit den Kindern zusammen zu sein, ihnen die Bibel nahezubringen und zu singen. Das Weihnachtslied „Vom Himmel hoch“ erzählt davon noch. Und zum Glück erzählen wenigstens Luthers Briefe auch noch von den Kindern, sonst wäre die Quellenlage noch viel dünner. Denn die Nachgeborenen feiern meist nur den Berühmten und vergessen dabei gern, dass er auch ein ausgefülltes irdisches Leben hatte. Wenn er es hatte und das überhaupt zuließ und nicht mit Kindern so gar nicht konnte – erwähnen wir doch einfach mal Goethe und Napoleon.
Katharina musste zwar ein bisschen nachhelfen. Aber gerade deshalb gibt es über diesen Theologieprofessor mehr zu erzählen, als dass er wütende Schriften verfasste.
Elke Strauchenbruch “Luthers Kinder”, 2., überarbeitete Auflage, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2017, 15 Euro
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