Für Freikäufer Es war nicht der „Kirchentag auf dem Weg“, zu dem Harald Kirschner seine Fotos zeigte über das religiöse Leben in der DDR, sondern der Katholikentag im Vorjahr. Mit großer Resonanz. Da staunte so Mancher, dass es so viel öffentlich gelebte Religiosität in der DDR überhaupt gab. Sogar Wolfgang Thierse irgendwie. Der schrieb nun das Geleitwort für diesen Fotoband.

Der Band baut direkt auf dem auf, was 2016 im Museum der bildenden Künste zu sehen war. Natürlich enthält er noch viel mehr Fotos aus Erfurt, dem Eichsfeld, aus Magdeburg und Grünau. Nicht die Bilder vom Papstbesuch in Polen, mit dem für Harald Kirschner die Beschäftigung mit dem Thema 1979 anfing. Ein Thema, mit dem er etwas anfangen konnte, auch wenn das für einen Absolventen und Dozenten der HGB in Leipzig eher ungewöhnlich war. Aber er ist in einem katholischen Elternhaus aufgewachsen, hat bis zum 17. Lebensjahr ministriert. Kirche und ihre Rituale waren ihm also nicht fremd, auch wenn er – wie im Grunde alle DDR-Bürger – dann eine Zeit der Entfremdung durchmachte.

Darüber schreibt Wolfgang Thierse in seinem Geleitwort. Denn der SED-Staat versuchte gerade in den 1950er Jahren die gesellschaftliche Rolle der Kirchen zurückzudrängen und ihre eigenen Massenorganisationen zum herrschenden Standard zu machen. Wer dennoch an Glauben und Kirche festhielt, musste mit Restriktionen rechnen. Ergebnis war natürlich eine weitgehende Säkularisierung des Ostens. Waren 1949 noch drei Viertel der Ostdeutschen kirchlich gebunden, so waren es am Ende der DDR nur noch ein Viertel.

Was natürlich gerade deshalb verblüfft, weil ein Großteil des Protestes in den 1980er Jahren aus den Kirchen kam. Hat sich denn in den verbliebenen Kirchgemeinden allein ein widerständiger Geist erhalten? Die Antwort – auch bei Thierse – liest sich komplizierter. Aber Tatsache ist auch: Wer sich als junger Mensch in der DDR zur Kirche bekannte, demonstrierte ganz eindeutig ein eigenständiges Denken, auch die Bereitschaft, Nachteile im Berufsleben auf sich zu nehmen.

Aber die Bilder, die Harald Kirschner aufnahm, zeigen auch etwas anderes, etwas, was Menschen auch dann wichtig ist, wenn Parteiführungen etwas ganz anderes meinen: vertraute Rituale, verlässliche Gemeinschaften, einen selbstverständlichen Rahmen, in dem das Leben stattfindet. Auch das Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören, die nicht staatlich befohlen ist.

Erstaunlich ist eher, dass davon so wenig fotografisch überliefert ist. Besonders Thierse staunt. Und im Gespräch mit Harald Kirschner versucht sein Fotografenkollege Bernd Lindner herauszufiltern, woran das lag. Ein wichtiger Grund war unübersehbar: Es gab praktisch keine Veröffentlichungsmöglichkeit für die Fotos, wenn man von den wenigen Kirchenpublikationen im Land absah. Die Medien der Staats- und Parteipresse ignorierten diese ganze Lebenswelt komplett, auch wenn es ein Fotografieverbot nicht gab.

Aber das trifft auch auf viele andere Bereiche aus dem alltäglichen Leben der DDR-Bewohner zu. Nicht nur Kirchenleben war in den offiziösen Medien nicht erwünscht. Deswegen sind die Bildbände mit den eindruckvollen Dokumentarfotografien der besten Fotografinnen und Fotografen des Ostens heute so begehrt: Sie alle waren für diese Fotoserien immer wieder ohne offiziellen Auftrag unterwegs, beseelt von dem Wunsch, das richtige Leben der Menschen jenseits der offiziellen Kulissen abzulichten.

Es gab genug, was die offiziellen Medien nicht zu zeigen bereit waren. Das Besondere bei Harald Kirschner ist freilich, dass er sich in den 1980er Jahren sehr konsequent kirchlichen Ereignissen widmete und zeigte, dass Kirchentage, Prozessionen, Jugendtreffen und Kirchenweihen ganz und gar keine Ereignisse für ein schwindendes Häuflein von Gläubigen waren. Kirschner, der in Leipzig besonders durch seine Grünau-Fotografien bekannt wurde, hatte ja mit den beiden Kirchneubauten in Grünau die Ausnahme direkt vor der Nase – die eigentlich keine Ausnahme war, sondern sichtlich Bedürfnis eines nicht unwesentlichen Teils der Gesellschaft. Pauluskirche und St. Martin waren beide ein Teil der Grünauer Identität – hier spielte sich kulturelles und gesellschaftliches Leben schon lange ab, bevor an Kino oder Theater in Grünau überhaupt zu denken war.

Im Kosmos Kirche spiegelten sich eine Menge gesellschaftlicher Bedürfnisse, die der Staat selbst nicht bedienen wollte. Am Rand von Kirchentagen und Jugendtreffen wird auch der jugendliche Protest gegen die Aufrüstungspolitik der Zeit sichtbar. Kirche war der Ort, an dem der Wunsch nach Frieden geäußert werden durfte – verbunden mit der Forderung nach einem Friedensdienst, statt der Verpflichtung zum Wehrdienst. Man sieht Basare, spielende Kinder, ganze Familien, für die das kirchliche Ereignis selbstverständlicher Raum des Daseins ist. Auch wenn der Ernst in den Gesichtern auffällt. Das kennt man auch aus anderen Dokumentarfotos aus der DDR. Man musste niemanden mit einem aufgesetzten Lächeln beeindrucken. Im sichtbaren Ernst steckt auch eine allgegenwärtige Würde: Man hatte zwar ständig mit staatlicher Indoktrination und Bevormundung und Aufpassern zu rechnen – aber das stellte das eigene Sosein nicht infrage. Im Gegenteil: Man war ganz Mensch, gerade wenn man sich nicht verkleidete und an staatlichen Aufzügen teilnehmen musste.

Das Luther-Jahr 1983 steht natürlich auch für den Versuch einer Einvernahme von Luther und Evangelischer Kirche durch den Staat, der wenigstens nach außen Weltoffenheit und Toleranz demonstrieren wollte. Was nicht im Band ist, ist natürlich die Ereignisreihe nach Helsinki. Wo ein Mann wie Erich Honecker um internationale Anerkennung buhlte, brauchte er auch Bilder der Rücksichtnahme auf die Gläubigen im Land. Was zwangsläufig aber auch dazu führte, dass viele Menschen den Kirchlichen Raum als gesellschaftlichen Raum des Diskurses für sich entdeckten. Man sieht es in einigen Bildern. Die Dissonanzen – wie sie zum Beispiel Friedrich Magirius in seinem Erinnerungsbuch beschreibt, sieht man nicht.

Denn es war keine heile Welt, auch wenn viele Gläubige diese wohl suchten. Worauf auch Thierse zu sprechen kommt: Die Kirchenhierarchien waren durchaus hin- und hergerissen zwischen Abschottung, Bewahrung und Positionierung zum Staat und zu einem Land, von dem keiner wusste, wie lange es existieren würde. Der Streit brannte auch 1989 noch, als evangelische genauso wie katholische Pfarrer um die Abgrenzung gegen das rangen, was da rumorte und möglicherweise auch die Kirche gefährdet hätte. Es waren immer Einzelpersönlichkeiten, die die Kirchen öffneten für den immer drängender werdenden Protest – Thierse erinnert an den Prenzlauer Berg, lässt aber auch die Nikolaikirche in Leipzig nicht außen vor.

Und so seltsam es scheint: Die Bilder wirken auch heute noch. Denn augenscheinlich stehen wieder ganz ähnliche Fragen: Wie sehr ist Kirche eigentlich Teil der Gesellschaft und spielt in den wichtigen gesellschaftlichen Diskursen überhaupt eine Rolle? Oder bleiben Kirche und Gläubige lieber in ihrer Diaspora, die dann der Fotograf von außen beobachtet – einfühlsam und verständnisvoll wie Kirschner zum Beispiel?

Augenscheinlich ein recht aktuelles Buch, das nur scheinbar aus einem längst vergangenen Land erzählt und einer Zeit, als nicht nur der Friedensgedanke junge Leute aufschloss für den Raum, den Glauben und Kirche bieten konnten.

Harald Kirschner Credo. Kirche in der DDR, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2017, 24,95 Euro.

In eigener Sache: Abo-Sommerauktion & Spendenaktion „Zahl doch, was Du willst“

Abo-Sommerauktion & Spendenaktion „Zahl doch, was Du willst“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar