Beim Leipziger Einbuch-Verlag dürfen sich Autoren auch mal ausprobieren. Auch mal Texte in Buchform bringen, die eigentlich noch kein Buch sind. Auch kein Roman. Was vorkommen kann. Gerade, wenn man erst mal anfangen möchte in dem Metier. Bei Hans Fallada hat es ja auch zwölf Jahre von seinem wilden Erstling bis zum ersten richtigen Fallada gedauert.
Und natürlich gibt es Parallelen, die sofort auffallen. Auch weil sie den meisten Menschen überhaupt nicht bewusst sind. Sie rauschen durch ihre Jugend, rennen ins Arbeitsleben, kriegen Kinder, graue Haare – und wundern sich, dass sie die Kinder und die Welt nicht verstehen. Sie haben nie innegehalten, um sich ihres Lebens bewusst zu werden – ihrer alten Träume und ihrer neuen. Manche schaffen es auch nicht, aus den Irritationen der Pubertät herauszukommen, bleiben ihr Leben lang ganz auf sich selbst fixiert und wundern sich, dass ihr Leben gerade deshalb an ihnen vorbeirauscht.
Denn ein zentrales Erlebnis – zumindest für Jungen – ist es ja, Pubertät als einen Rausch zu erleben – mit riesigen Ansprüchen, gewaltiger Selbstüberschätzung, gekoppelt mit Erlebnissen der absoluten Unsicherheit. Das Mächtigseinwollen kollidiert mit zumeist ganz emotionaler Ohnmacht. Gerade wenn es um Mädchen geht. Aber nicht nur.
Deswegen lassen sich all diese Baller-, Imperiums-, Macht- und Heldenspiele so gut absetzen an die jungen Männer. Das ist der Stoff, an dem sie sich berauschen können. Fatal ist nur, wenn sie das nicht herausfinden und auch noch später, in verantwortlichen Positionen, diesen Rausch auszuleben versuchen – und dabei über Leichen gehen, die Schicksale anderer Menschen zertrampeln, Staaten ruinieren, ihre Ohnmacht in Machtrausch verwandeln. Man schaue sich um: Die Welt ist voller Typen dieses Kalibers.
Und das ist die Keimzelle dieses Buches, auch wenn Raphael Goldmann wohl nicht einmal ahnt, dass sie es ist. Und was das eigentlich für Konsequenzen haben kann. Die man in jungen Jahren oft nicht kennt. Weil man die Distanz noch nicht hat. Auch nicht zu sich selbst.
Mal so als beiläufiger Gedanke: Erwachsenwerden heißt vor allem, Distanz zu sich selbst und seinen überbordenden Gefühlen zu gewinnen. Was auch heißt: Sich selbst kennenlernen. Will kaum einer, versuchen immer weniger. Ich weiß.
Deswegen ist unsere Gesellschaft so, wie sie ist. Ein Tobeplatz alt gewordener Pubertierender.
Die glauben, ihr Ego sei das Zentrum der Welt.
Wir haben eigentlich eine ziemlich bekloppte Gesellschaft, eine, die ihren Mitgliedern beibringt, die brauchten gar nicht erwachsen zu werden. Sie dürften ihr Leben lang spielen.
Goldmanns Buch ist nicht das erste, das einen jugendlichen Helden in dieser Zwickmühle zeigt. Auch nicht das erste, das zeigt, wie sehr die Kulissen einer kindisch gewordenen Welt, die diese Art Jungsein geradezu anhimmelt, den Blick auf die Kompliziertheit des eigenen Lebens und Handels verstellt. Deswegen tendiert das Buch anfangs zu einem dieser schablonenhaften Teenie-Romane, in denen die Hormone dafür sorgen, dass eine Verliebtheit zum großen Drama und dann zur Katastrophe wird, wenn sich Bosheit und Mobbing einmischen.
Eine Stelle, an der man sich sagt: Ja, jetzt hätte er die Kurve kriegen können. Die schöne hippe Jugendkulisse verlassen und erzählen, wie gerade diese Oberflächlichkeit, dieses Zurschaustellen und Sich-Öffentlich-Machen geradezu die Grundlage bietet für all die Verheerungen, die Stalking, Mobbing, Verächtlichmachen in unseren ach so sozialen Medien anrichten. Wo der Mensch sich selbst zum Objekt macht und das Außenbild alles ist, da wird er als Bild seiner selbst angreifbar. Da ist die Zerstörung des schönen Scheins gleichzeitig ein Angriff auf den Menschen selbst.
Die Geschichte könnte eine Kurve nehmen, sehr kritisch und sehr genau werden.
Aber irgendwie hat Goldmann mehr gewollt. Viel zu viel. Was man mit 20 Jahren meistens noch nicht leisten kann. Siehe oben. Man muss diese Abgeklärtheit dem eigenen Leben gegenüber erst lernen. Das dauert. Und vor allem sollte man dafür nicht die üblichen Medien konsumieren, deren Zweck es ist, den Nutzer infantil zu halten.
Auch das nur als beiläufige Anmerkung: Facebook ist ein Konstrukt für infantile Nutzer. Und es bestärkt infantile Verhaltensweisen. Auch und gerade die negativen.
Was dann auch wieder Sichtweisen auf Geschichten verändert. Was sind denn eigentlich starke, ergreifende und menschliche Geschichten?
Eine zweite steckt in der Beziehung des jugendlichen Helden zu seinem Vater, einem gefühllosen Mann, der zu echten Beziehungen zu Frau und Sohn nicht fähig ist und die Jugend des Helden scheinbar in eine Hölle verwandelt. Scheinbar deshalb, weil man es nur reflektiert erfährt. Viel zu reflektiert, weil Goldmann genau hier seine dritte Erzählschiene ansetzt, die seinen Helden zum Mörder macht. Was den Leser zwangsläufig emotional aussteigen lässt. An so einem Thema sind auch schon große Autoren gescheitert – oder haben beklemmende Romane dazu geschrieben wie Dostojewski in „Schuld und Sühne“. Und wer das liest, weiß, wie viel Vorarbeit vonnöten ist, um dem Leser überhaupt plausibel zu machen, warum dieser vertrackte Held nun zum Mörder wurde.
Eine harte Arbeit. Die sich erfahrene Autoren trotzdem immer wieder vornehmen, weil sie verstehen wollen, warum und wie das Böse in die Welt kommt.
Das Problem an unseren heutigen Medienwelten ist: Sie wählen fast immer den billigen und faden amerikanischen Weg. Der setzt „das Böse“ einfach als gegeben. Und wenn es nicht von allein kommt, wird es halt einfach vom Präsidenten erklärt.
Was das Böse dann kaum noch fassbar macht. Es ist dann absolut. Und es gibt nur noch einen Weg, es zu bändigen: Es muss vernichtet werden. 90 Prozent aller Computerspiele funktionieren genau so – und suggerieren den Spielern, dass sie die Welt retten oder die Sache „in Ordnung bringen“, wenn sie das Böse vernichten.
Was dann auch ziemlich schnell zu einer bekloppten Politik führt.
An der Stelle, an der Goldmanns Held zum Mörder wird, wäre also eine gute Gelegenheit gewesen, innezuhalten und einen anderen Abzweig zu nehmen. Was man an der Stelle eigentlich auch erwartet. Immerhin hat sich dieser Junge in eine völlig aussichtslose Situation gebracht und ist sogar zum blutrünstigen Täter geworden.
Aber irgendwie wollte Goldman dann unbedingt noch etwas Größeres und Schlimmeres aus diesem Helden machen – den Erlöser, wie er auf dem Titel steht und wie er in den vorletzten Kapiteln vorkommt, bevor die Welt ganz und gar umkippt in eine große Katastrophe.
Noch ein Katastrophenszenario also. Nach so vielen, die einen eh schon immer mehr verblüffen, weil man das Gefühl hat, dass da pubertierende Jungen in einem nie gelösten Allmachtswahn versuchen, die ganze Menschheit zu ihrer einen radikalen und endgültigen Lösung zwingen zu wollen. Weil sie es nicht aushalten, dass die Dinge KEIN Ende haben, sondern immer weitergehen. In Millionen Alternativen, unberechenbar, selten heroisch.
Man ahnt, welche Auswirkungen all diese modernen Allmachtsphantasien haben. Und wie sie schon junge Autoren dazu bringen, Geschichten schreiben zu wollen, die alle in einem völlig sinnfreien Showdown enden.
Wer Lösungen für die Welt und sein eigenes Leben tatsächlich in diesem alternativlosen Entweder-Oder sucht, weil er den selbstbewussten Umgang mit den unendlichen Möglichkeiten des eigenen Lebens nicht gelernt hat, der wird natürlich zu einem sehr radikalen Bestandteil der Gesellschaft.
Davon steckt einiges im Keim dieser Geschichte. Man ahnt schon, wohin sie hätte laufen können, wenn der Autor schon so weit wäre, so einen Stoff zum Leben zu erwecken. Die Sache mit Gut und Böse ist nicht so einfach, wie uns Hollywoodregisseure gern einreden wollen. Der Mensch ist leider (oder zum Glück) wesentlich komplexer. Aber das lernt man in der Regel erst, wenn man den Käfig der wilden Jugendjahre verlässt und mit den Menschen um sich herum auch sich selbst besser kennenlernt. Und all diese Narrentänze um Glamour, Karriere, Erfolg und „sexy Mädchen“ nicht mehr so ernst nimmt. So dämonisch ernst.
Das sind die Seifenblasen-Träume anderer Leute. Nicht unsere eigenen. Surrogate für das richtige Leben mit seinen Millionen Ungewissheiten, die gerade deshalb so faszinierend sind, weil man sie nicht in Einheitspackung aus dem Regal bekommt, sondern jeden Tag aufs Neue davon verwirrt ist. Und mit der Zeit auch lernt, wie oft man sich irrt mit seinem eigenen kleinen Blick auf die Welt. Wenn die Allmachtsphantasien beginnen, hilft vielleicht ein netter Kräutertee, eine kleine Entspannungsübung. Man muss nichts. Man muss auch niemandem etwas beweisen. Und wenn’s nicht gleich geklappt hat, dann fängt man eben von vorne an. Immer wieder. Der Weg ist das Leben.
Raphael Goldmann „Der Erlöser“, Einbuch Buch- und Literaturverlag, Leipzig 2017, 13,40 Euro
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