Es geht nicht nur uns so: Man fasst sich an den Kopf. Nicht nur über die Ignoranz von Politikern, ihre Phrasen oder – wie mit Donald Trump nun wirklich exemplarisch – ihre Lügen. Aber auch über Medien, die da all die Jahre fleißig mitgemacht haben. Höchste Zeit für ein Manifest. Geschrieben hat es eine amerikanische Philosophin, die sogar die Ostdeutschen ganz gut kennt.
Susan Neiman ist Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Seit 17 Jahren lebt sie in Deutschland und hat die Gnade der Distanz: Sie kann auch das, was die Deutschen einander antun, mit Abstand betrachten. Das hilft. Der Beobachter sieht besser, was Menschen tun, die glauben, ganz ohne Vorurteile zu sein. Gar noch anständig, rücksichtsvoll und ehrlich.
Dass sich die Deutschen selbst belügen – es kommt auch mit vor in diesem Buch, das sich eigentlich mit Lügen beschäftigt. Auch wenn ein paar gebildete Deppen mittlerweile vom „postfaktischen Zeitalter“ reden – als hätte Trump mit seiner Ungebildetheit und seinen offensichtlichen Lügen tatsächlich ein neues Zeitalter eingeläutet.
Wer hat eigentlich angefangen, von „post truth“ und „postfaktisch“ zu reden? Journalisten, die meinten, damit ein Phänomen zu beschreiben?
Ich weiß es nicht. Ich vermute eher, dass selbst die Beschreibung eines unübersehbaren Phänomens aus demselben Klammersack kommt, aus dem so viele Lügen der Gegenwart kommen. Susan Neiman kommt auch darauf zu sprechen. Denn Trump ist kein Zufall, sondern Ergebnis eines ziemlich langen Prozesses, in dem Lügen zum akzeptablen politischen Instrument gemacht wurden. Es waren viele kleine Schritte – hier ein bisschen, da ein bisschen. Ein Prozess der Gewöhnung, der die Bewohner der westlichen Staaten so langsam daran gewöhnt hat, dass lügen im Namen der Politik eigentlich nicht schlimm sei. Neiman geht bis zu Ronald Reagan zurück, jenem Rechtsaußen der amerikanischen Politik, der es genauso wie Donald Trump verabscheute, zu lesen, Bücher gar. Selbst das Bild dieses knallharten Hardliners, der die atomare Aufrüstung vorantrieb, hat sich im Lauf der Zeit gewandelt. Fast gütig schwebt er in der Erinnerung, obwohl er einen Prozess eingeleitet hat, der die Welt in einen schlimmen Ort verwandelt hat.
Er hat den Neoliberalismus zwar nicht erfunden, aber er hat ihn als erster Präsident der USA – mit einer öffentlichen Lüge – zur politischen Praxis gemacht. Die Lüge hat er im Fernsehen als „Trickle Down Effect“ inszeniert. Wer mag, kann auf Youtube die Clips dazu suchen. Er wird auch die Beiträge von Ökonomen finden, die die Farce dieser Inszenierung auseinandernehmen. Denn nichts ist mit den „Reaganomics“ nach unten durchgesickert. Reagan hat die erste große Umverteilung von Vermögen von unten nach oben eingeleitet. Und jeder republikanische Präsident nach ihm hat dieselben Lügen erzählt.
Und bis heute dominiert diese zusammengesponnene Theorie, die vor allem die Umverteilung des Reichtums zu den Superreichen befördert, in den Köpfen westlicher Politiker. Selbst die sozialdemokratischen Parteien sind von diesem Unfug durchtränkt.
Eigentlich ein Nebenthema. Susan Neiman wollte ja kein Buch über die Folgen der neoliberalen Ideologie schreiben. Aber die gehört dazu. Sie hat zwei Dinge bewirkt – das eine ist die Etablierung der offensichtlichen Lüge in der Politik: Politiker stellen sich vors Mikrofon, wissen, dass sie die Wähler belügen, und schämen sich nicht mal dabei. (Logisch, dass Neiman auch diesen neuen Politikertyp kurz streift – der nicht einmal mehr Scham kennt.) Und das andere ist die Desavouierung aller alternativen Ideen. Die „Linken“ sind regelrecht verstummt, sie wagen nicht einmal mehr, über andere, solidarischere Gesellschaften nachzudenken. Obwohl die Europäer ein Buch wie „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty regelrecht verschlingen. Die wissenschaftliche Analyse all dessen, was in den westlichen Gesellschaften schiefläuft, ist da.
Nur: Sie findet ihren Weg nicht mehr in die politischen Debatten und Parteien. Die Politik wirkt wie ein UFO, das über den Massen schwebt, sich aber um ihre Probleme nicht mehr kümmert. Die zunehmende Wahlabstinenz im Westen hat genau damit zu tun.
Aber was passiert, wenn die politischen Debatten darauf nicht mehr eingehen? Keine Lösungen mehr anbieten?
Logisch: Das „Volk, der große Lümmel“ (Heine) wendet sich ab und trollt. Es ist zwar nicht dumm. Aber klug ist es auch nicht. Und: Es reagiert auf die schwadronierenden Politiker, die scheinbar „aus dem Bauch heraus“ regieren (und sich und ihren Kumpeln dabei sichtlich die Kassen füllen) mit Emotionen – und zwar blanken. Mit Wut, Zorn, Hass, Grimm. Was in den sozialen Netzwerken wütet, ist auch ein Ergebnis dessen.
Und es ist ein Ergebnis jener Entwertung der Wahrheit, die die konservativsten Akteure im politischen (und medialen) Geschäft die ganze Zeit betrieben haben. Denn die größten Lügenschleudern im Medienbusiness wurden ja nicht von armen Proleten gegründet, die jetzt mal endlich ihren Frust rauslassen wollen, sondern von Milliardären – genau solchen Typen, wie sie heute bei Trump am Beratertisch sitzen. Sie haben ihre eigene, oft zutiefst rassistische und chauvinistische Gesinnung zum Sendeprogramm gemacht. Sie haben sehr viel Geld investiert, um ihr Weltbild zu propagieren. Und Munition dazu bekamen sie aus ganz rechten Denkschmieden.
Das ist kein neues Phänomen. Das ist schon ein ganzes Stückchen älter.
Dazu zitiert Neiman einen Essay von Umberto Eco aus dem Jahr 1995. (Den behandeln wir aus einem einfachen Grund gleich noch extra.) Der Essay heißt „Der immerwährende Faschismus“ und darin analysiert Eco, wie Faschismus eigentlich in die Welt kommt und welche Formen er annimmt, bevor er überhaupt eine Partei wird oder gar den ganzen Staat übernimmt. Wer den Essay liest wird staunen, wie viel davon er heute in den Reden eines Donald Trump wiederfindet – vom (auf den Kopf gestellten) Elitedenken bis hin zur Verachtung für jegliche Vernunft.
„Die Welt wird verändert, wenn sich bestimmte Ideen als normal durchsetzen“, schreibt Neiman. Wenn bestimmte Lügen und sichtlich falsche Behauptungen immer wieder auf allen Kanälen wiederholt werden, sorgen sie dafür, dass diese Art, die Welt zu sehen, irgendwann als normal angesehen wird. Das geht auch im Positiven. Keine Frage. Aber wenn die Menschen immer stärker das Gefühl haben, dass das nicht ihre Wirklichkeit ist, dann entsteht das, was Orwell „Neusprech“ nennt: Das, was gesagt wird, bedeutet tatsächlich das Gegenteil dessen, was gemeint ist. Logisch, dass sein „1984“ nach Trumps Wahlsieg wieder zum Bestseller wurde in den USA.
Aber – auch das betont Neiman – es fängt schon früher an: Da, wo dem Bürger falsche Werte gepredigt werden. Da schon beginnt die Gesellschaft auseinanderzufallen. „Eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, Menschen das Gefühl zu vermitteln, ihr Leben habe mehr Sinn als nur Konsumgüter aufzuhäufen, wird scheitern.“
Schauen Sie sich um: Ist es so oder ist es nicht so?
Daher rührt übrigens auch die tiefsitzende Angst in den westlichen Gesellschaften, denn wenn der Wohlstand (sprich: das Besitztum) bedroht scheint, dann beginnen die Ängste zu nagen, wird es existenziell, geht es ans Eingemachte. Und dann kommen die Endzeitstimmungen auf. Man kann es auch Fatalismus nennen. Auf einmal sind selbst gebildete Menschen bereit, alles dem Gott „Sicherheit“ zu opfern, wenn nur ihr Hab und Gut gerettet wird. Die Mehrzahl der Trump-Wähler ist nicht arm und arbeitslos, sondern gutverdienend. Es sind diese von Existenzangst besessenen Bürger, die Trump und seine europäischen Schattengewächse wählen.
Und die auch rücksichtslos und giftig werden, wenn ihnen auch nur der geringste Widerspruch begegnet.
Pure Emotionen sind immer missbrauchbar.
Deswegen kommen so viele Menschen an Kant nicht heran, der nicht nur die Grunddefinition der Aufklärung geliefert hat, sondern auch die durch nichts geerdete Vernunft kritisiert hat. Das ist Vielen zu kompliziert. Er hat ja nicht nur gesagt, der Mensch möge sich trauen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Er hat auch die Grundlagen der Erkenntnis definiert.
Neiman erwähnt das nicht ohne Grund. Denn was wir heute unter der Fahne „Postfaktisch“ erleben, ist ein Angriff auf all das, was die Menschheit im Zeichen der Aufklärung erreicht hat. Denn um von Fakten reden zu können, muss man die wissenschaftlichen Grundlagen der Erkenntnis akzeptieren.
Was nicht ausschließt, dass wir Ideen und Ideale haben, die über all das, was jetzt ist, hinausweisen. Es gibt genug davon, auch wenn Margaret Thatcher und alle ihre NachbeterInnen immer wieder erklärt haben: „There is no alternative.“ Theresa May ist ihre direkte Erbin: So regiert Dummheit mit Scheuklappen.
Die Wahrheit ist: Es gibt immer Millionen Alternativen. Das macht sogar die menschliche Freiheit aus. Und mindestens die Hälfte davon würde unsere Gesellschaft reicher machen und voranbringen.
Aber eines haben die Neoliberalen auch geschafft, stellt Neiman fest: Sie haben den Fortschritts-Begriff demoliert. Sie haben ihn plattgemacht und auf die reine Mehrung von Besitztum und „Wohlstand“ reduziert. Ein echter politischer Erfolg, könnte man sagen: Kein Mensch denkt mehr über andere Arten von Fortschritt nach oder darüber, wie eine menschliche Gesellschaft besser gemacht werden könnte.
Nicht mal mehr die Sozialdemokraten, die einst mit Eduard Bernstein einen überzeugten Kantianer zu ihren Größen zählten. Und heute?
Allein der Fortschritts-Begriff würde genügen, um zu demonstrieren, wie die Lüge in der Politik installiert wurde. Aber die offizielle Verachtung der alten und neuen Rechten für alles, was die Aufklärung verkörpert (und dazu gehört auch das wissenschaftliche Denken) hat noch viel schlimmere Auswirkungen, sie hat auch sämtliche Türen geöffnet, um die Bildungssysteme dem neoliberalen Effizienzwahn zu öffnen und vor allem die sogenannten „soften“ Fächer zum Einsparen und Abschaffen preisgegeben – die ganze Palette der philologischen und sozialwissenschaftlichen Fächer. Da wird nämlich noch über Gesellschaft nachgedacht, etwas, was die Vertreter des gierigen Egoismus natürlich nicht mehr wollen. Sie wollen keine andere Gesellschaft. Sie wollen auch keine Kritik.
Und da stolpert man über einen weiteren Zweig, den Neiman aber nicht auch noch erwähnt: den Frontalangriff auf alle kritischen Medien – nicht nur in Russland, Ungarn und der Türkei. Bei Trump ist es Methode. Und in Deutschland laufen genug aggressive Neurechte herum, die nichts lieber tun, als über „Lügenpresse“ und „Fakenews“ zu lamentieren. Denn sie hassen Kritik und demokratische Kontrolle. Sie verachten alles, was über die gedankenlose Abschottung der auf Nationalität und Hautfarbe reduzierten Truppe, die sie vertreten, hinausgeht.
Auch das ist schon Faschismus. Natürlich. Er ist die blanke Angst vor Veränderung, Freiheit und Komplexität. Eco lesen. Machen wir auch gleich.
Man merkt schon, dass Susan Neiman auf unsere Gesellschaft mit nicht nur kritischem Blick, sondern auch mit einem kleinen Entsetzen schaut. Denn so eine Gesellschaft, wie wir sie jetzt haben, ist anfällig. Nicht nur für Ängste und Panikreaktionen (augenscheinlich haben das die Terroristen tatsächlich als Erste kapiert).
Susan Neiman: „Zynismus wird von den Rechten benutzt, um Resignation zu befördern, damit wir uns nicht weiter bemühen, Fortschritt zu machen.“
Genau darum geht es. Eine Gesellschaft, die resigniert und sich nicht einmal mehr traut, über das Gegebene hinauszudenken, beginnt zu erodieren, beginnt in Endzeitphantasien zu schwelgen und zeigt auch keinen Mut mehr, Veränderungen zu fordern, die alle voranbringen und alle reicher machen.
Und dabei ist das Büchlein nur 76 Seiten stark. Die meisten Gedanken stubst Susan Neiman nur an, zeigt, wie all die Dinge, die uns heute so betroffen machen, miteinander zusammenhängen und auch ein System haben. Und welche Rolle gerade der Neoliberalismus dabei spielt, nicht nur alle unsere Werte infrage zu stellen, unsere Ideen und Ideale zu killen, sondern auch genau die Lethargie zu erzeugen, die den neuen Feinden von Wissen und Vernunft Tür und Tor geöffnet hat.
Lest, Leute, kann man da nur sagen. Lest, schmeißt die Zeitfresser aus eurem Leben und engagiert euch wieder.
Dieses Büchlein wäre ein guter Anfang, sich wieder Nachdenk-Anregungen zu holen.
Susan Neiman Widerstand der Vernunft, Ecowin Verlag, Saslzburg und München 2017, 8 Euro.
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