Schon mehrfach haben Klaus Behling und Jan Eik mit Bรผchern aus jener Schattenwelt erzรคhlt, die die 1990 hingestorbene DDR bis heute umgibt. Sie haben sich in alte Gerichts- und Polizeiakten vertieft und Bรผcher geschrieben mit Titeln wie โ€žVertuschte Verbrechen โ€“ Kriminalitรคt in der Stasiโ€œ und โ€žVerschlusssache โ€“ Die grรถรŸten Geheimnisse der DDRโ€œ. Nun also das Honecker-Attentat? Oder geht es eigentlich um viel mehr?

Denn gerade Ostdeutsche sind zu Recht immer wieder verwirrt darรผber, wie die dominante Denkelite des Westens die DDR betrachtet, einschรคtzt und wertet. Und wie das immer wieder zu Vorwurfshaltungen verkommt, krassen Missverstรคndnissen und neuen Oberlehrerbelehrungen. Mal abgesehen von Onkel Hubert oder Tante Friedchen, die den Ossis nun seit 27 Jahren vorhalten, dass sie immer mit durchgefรผttert werden mรผssen.

Auf den ersten Blick sind die Aktenerkundungen von Eik und Behling wieder das, was man von ihnen kennt: Sie schauen nach, was damals tatsรคchlich die Ermittler der Polizei, die Stasi-Ermittler und die Parteiinstanzen herausbekommen, protokolliert und ordentlich archiviert haben รผber jene Ereignisse, die immer nur mit kleinen Meldungen in die Parteipresse fanden, aber als Gerรผcht durch das kleine Land fegten und die Phantasie zum Sprudeln brachten. Denn wenn ein Staat immerfort alles unter Verschluss hรคlt, die Nachrichten zensiert und dem Volk alle Details und Hintergrรผnde vorenthรคlt, dann ersetzen logischerweise Gerรผchte die Fakten. Dann spekuliert eine zu Recht tief misstrauische Bevรถlkerung รผber Vertuschung, Stasi-Machenschaften und verschwiegene Machtkรคmpfe in der Parteifรผhrung.

Das war 1983 so, als der โ€žSternโ€œ mit einer groรŸen Anschlagstory aufmachte, bei der Erich Honecker im Zentrum stand. Das war 1955 so, als das neue Funkhaus in der NalepastraรŸe in Berlin niederbrannte und die Stasi selbst versuchte, einen westdeutschen Sabotageakt daraus zu basteln. Das war beim Hubschrauberabsturz von Werner Lamberz 1978 in Libyen so, als die Gerรผchtekรผche munkelte, hier habe Honecker wohl einen ihm gefรคhrlich werdenden Kronprinzen aus der Welt geschafft.

Oder 1965, als sich der talentierte Planungschef der DDR, Erich Apel, erschoss. Allein diese Stories versprechen dem Leser schรถnstes Lesevergnรผgen. Da steckt alles drin: Geheimniskrรคmerei, Vertuschung, Geheimdienst und auch eine Menge Machtkampf. Denn was das Volk mutmaรŸte, hatte immer einen realen Boden, auch wenn es bei seinen Gerรผchten gern zu viel Phantasie walten lรคsst. Und manchmal daneben liegt.

Aber das hat Grรผnde. Weil Eik und Behling tatsรคchlich die originalen Ermittlungsakten aufstรถbern, kรถnnen sie natรผrlich all diese Sensationsgeschichten, die bis heute immer wieder in diversen bunten Medien aufploppen, korrigieren, zurechtrรผcken. Was ihnen manchmal den Nimbus des Sensationellen nimmt โ€“ aber dafรผr passiert etwas anderes: Der Leser lernt die Funktionsweise des Landes kennen, das 40 Jahre lang versuchte, irgendwie den Schritt zu einem wirklich eigenstรคndigen, unabhรคngigen Staatsgebilde zu schaffen. Was ihm nie gelang.

Das sang- und klanglose Ende war ihm in die Wiege gelegt. Was dem Leser ziemlich deutlich wird, wenn er im letzten Kapitel โ€žGeheimnisse der โ€šFreundeโ€˜โ€œ nicht nur etwas รผber die vertuschten Unfรคlle und Verbrechen der in der DDR stationierten sowjetischen Soldaten erfรคhrt, sondern auch etwas รผber die Macht und die Sonderbefugnisse der sowjetischen Besatzer. Denn das waren sie bis zum Schluss. Und die Honecker-Regierung wusste es. Honeckers Vorgรคnger Walter Ulbricht auch โ€“ aber der hatte tatsรคchlich das bisschen Mumm, wenigstens zu versuchen, sich aus der brรผderlichen Umklammerung zu lรถsen und einen eigenen Weg zum Sozialismus wenigstens probieren zu wollen, nachdem er sich in den 1950er Jahren selbst mit groรŸen Schauprozessen das stalinistische Wohlwollen aus Moskau erkauft hatte. 1953 erst hatte die Besatzungsmacht gezeigt, wer im Osten das Sagen hat. Es waren keine DDR-Truppen, die den Aufstand vom 17. Juni niederschlugen, sondern sowjetische Panzer.

Und in einem kleinen Nebensatz weisen die Autoren darauf hin, was das mit der Grรผndung der NVA zu tun hat. Denn die wurde gleich nach den Ereignissen von 1953 gegrรผndet, immer mit der Behauptung, man habe damit auf die Aufrรผstung im Westen reagiert, die man bis dahin auf allen Kanรคlen verteufelte.

Dass die NVA tatsรคchlich auch zur Disziplinierung der eigenen Bevรถlkerung gedacht war, gibt zu denken. Erst recht, wenn man weiรŸ, wie stark die DDR bis 1955 noch von der Besatzungsmacht regiert war. In diese Zeit fallen die sowjetischen Speziallager, die tausenden ErschieรŸungen, die neuen Verschleppungen von Arbeitskrรคften nach Workuta, aber auch die Existenz der groรŸen Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG), die vor allem fรผr die Sowjetunion produzierten (und damit dem Osten massiv Kapital entzogen), auรŸerdem die vielen Demontagen im Rahmen der Reparationsleistungen. Die Rechnung taucht natรผrlich in jenem Beitrag auf, in dem die Grรผndung der Wismut AG als sowjetische Enklave in der DDR geschildert wird.

Spรคtestens da gibt man den wenigen Stimmen Recht, die festgestellt haben, dass der zweite Weltkrieg fรผr die Ostdeutschen tatsรคchlich erst 1989 zu Ende ging. Sie haben die milliardenschweren Zerstรถrungen, die die Hitlertruppen in der Sowjetunion angerichtet haben, mit ihrem Startkapital bezahlt. Und das war nicht einmal eine einsame Entscheidung Stalins, das hatten die Alliierten sogar gemeinsam beschlossen und der Sowjetunion ihren Teil von Deutschland quasi als Wiedergutmachung fรผr die Kriegsschรคden angeboten. Etwas, worauf die zerstรถrte Sowjetunion dringend angewiesen war โ€“ es nutzte nur nichts. Tatsรคchlich war die Ostzone viel zu klein, um auch nur einen Bruchteil dessen wieder in Ordnung zu bringen, was der Krieg in der Sowjetunion zerstรถrt hatte.

Was einen daran erinnert, dass sich die Westmรคchte immer verdammt stolz gaben, wie sie ihre Besatzungszonen binnen weniger Jahre wirtschaftlich wieder flott machten. Tatsรคchlich hatten sie der Sowjetunion nicht nur die Hauptlast des Krieges รผberlassen โ€“ sie lieรŸen den einstigen Alliierten auch gleich nach Kriegsende gemeinsam im Stich, lieรŸen ihn mit den Milliardenschรคden allein und stรผrzten sich sofort in den Kalten Krieg.

Und tatsรคchlich hat sich die Sowjetunion nie von diesem Tiefschlag erholt. Was auch die Planer der DDR zu spรผren bekamen, die anfangs froh waren, als sie die SAG-Betriebe endlich wieder in eigene Regie bekamen und endlich wieder fรผr die eigene Bevรถlkerung planen konnten. Aber dazu brauchten sie Rohstoffe, die sie auf dem Weltmarkt schon aus finanzieller Schwรคche nicht kaufen konnten. Blieb also der โ€žgroรŸe Bruderโ€œ. Und wenn man bislang dachte, die Sowjetunion hรคtte erst in den 1970er und 1980er Jahren Schwierigkeiten gehabt, die notwendigen Rohstoffe in die DDR zu liefern, der lernt am Fall Apel, dass das auch fรผr die 1960er Jahre schon galt.

Der Fall Apel aber erlaubt auch einen kleinen Einblick in das Haifischbecken Politbรผro, das niemals so souverรคn war, wie es sich immer gebรคrdete. In Ostberlin durfte man bis zum Schluss immer nur mit Moskaus Gnaden regieren. Was eigentlich auch schon andere Bรผcher immer wieder andeuteten: Sowohl der Botschafter der UdSSR in der DDR als auch der Chef der sowjetischen Streitkrรคfte hatten mehr zu sagen als der Generalsekretรคr der SED. Das Politbรผro reiste nicht nach Moskau, um dort im Einvernehmen รผber politischen Entwicklungen zu plaudern. Es wurde zum Rapport beordert und holte sich seine Weisungen ab. Auch der Sturz Ulbrichts wurde von der Honecker-Gruppe langfristig vorbereitet und hatte im Wesentlichen die Grundlage, dass Ulbricht fรผr seine Eigenmรคchtigkeiten in der Wirtschaftspolitik in Moskau angeschwรคrzt wurde.

Eigenmรคchtige Staatschefs in den besetzen Lรคndern aber duldete man nicht. Honecker bekam grรผnes Licht zum Ulbricht-Sturz. Ulbrichts Versuch, zusammen mit Apel ein bisschen mehr Wettbewerb in die Planwirtschaft einzufรผhren, war vorher schon radikal beendet worden. Dafรผr hatten die eher ungebildeten Hardliner um Honecker gesorgt. Auch mit einer der รผblichen Kampagnen gegen Apel. Wer die Berichte aus dem Herbst 1989 kennt, weiรŸ, wie eingeschรผchtert die Honecker-Truppe war und dass sich nicht einmal die vorsichtigsten Kritiker wagten, eine Kritik am Kurs der beiden Erichs zu รคuรŸern. Der alte Stalinismus herrschte dort auch noch in diesen letzten Tagen in allen Formen des Belauerns, der Intrige, der Feigheit.

Im Grunde ist die DDR mit ihrer Regierung von Moskaus Gnaden ein ideales Forschungsfeld fรผr Psychologen, die sich mit den psychischen Wirkmechanismen der Macht beschรคftigen und der Entstehung von Strukturen der Feigheit und der Angst, die Alleinherrschaften erst mรถglich machen. Nicht nur das Volk wird in Unmรผndigkeit und latenter Furcht vor den grauen Mรคchten des Staates gehalten, auch die scheinbar Mรคchtigen selbst sind in ein krisenhaftes Gleichgewicht der Bedrohung gebunden. Jeder beargwรถhnt jeden, keiner vertraut dem anderen. Und wer kann, schwรคrzt die Gegenspieler beim Zaren in Moskau an, von dem man zumindest bis Gorbatschow wusste, dass der Alleingรคnge in seiner deutschen Besatzungszone nicht dulden wรผrde.

Was sich also auf dem Cover des Buches wie eine Sammlung zu lauter Besonderen Vorkommnissen der DDR-Zeit darbietet, ist ganz beilรคufig eine sehr klar strukturierte Analyse der Machtmechanismen, mit denen SED und Stasi im Osten regierten und irgendwie versuchten, das Offensichtliche zu vertuschen und Informationen รผber all jene Ereignisse, die als Gerรผchte durchs Land fegten, unter Verschluss zu halten. Bis hin zu den kriminellen Machenschaften ihrer eigenen Leute, was dann in โ€žGenossen im Goldrauschโ€œ erzรคhlt wird. Denn wer eine Elite mit Sonderrechten schafft, egal, ob Partei-, Regierungs- oder Geheimdienstkader, der รถffnet auch der Korruption Tรผr und Tor.

Fรผr die einen sah das aus wie das Paradies auf Erden โ€“ so wird auch die Dean-Reed-Geschichte aktenfundiert sehr detailliert erzรคhlt. Und trotzdem konnten sie daran scheitern. Nicht nur gefeierte Schauspieler, auch Kreissekretรคre, Kรผnstler, Funktionรคre aller Art, die ab 1990 mit der neuen Zeit nicht mehr zurechtkamen. Auch die so oft beschworene โ€žSelbstmordwelleโ€œ wird kurz beleuchtet. Die freilich auch so simpel nicht ablief, wie es die bunten Blรคtter gern erzรคhlten. Denn auch das trifft zu: Manch einer scheiterte auch, weil ihn die neue Zeit regelrecht abservierte. So wie den Dichter Manfed Streubel (โ€žDie Heimat hat sich schรถn gemachtโ€œ) oder den Schauspieler Wolf Kaiser.

Insgesamt ein sehr unsentimentales Buch, das in weiten Teilen die DDR so zeigt, wie sie tatsรคchlich funktionierte. Und warum sie tatsรคchlich eine Illusion war, ein Stรผck besetztes Land im Wartezustand, das Stalin selbst schon gern fรผr 10 Milliarden Dollar verkauft hรคtte, wenn er einen Abnehmer dafรผr gefunden hรคtte. Geschichte kann so ernรผchternd sein wie ein Eimer mit Eiswรผrfeln, die man sich รผber den Kopf kippt.

Jan Eik; Klaus Behling Attentat auf Honecker und andere Besondere Vorkommnisse, Jaron Verlag, Berlin 2017, 12 Euro.

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