Es ist ein Trumm von Buch, voller Zahlen, Daten, Dienstgrade, Truppenstärken und Schlachtverläufe. Geschrieben von einem, für den das Soldatenleben Beruf war und – nach der offiziellen Verabschiedung aus dem Dienst – Berufung. Denn eigentlich könnte Wolfgang Gülich auch noch stolz ein „Brigadegeneral a. D.“ vor seinen Autorennamen schreiben. Bis 2000 war er einer der höchsten Befehlshaber in Sachsen. So etwas verbindet.
Denn nach seiner feierlichen Verabschiedung blieb er im schönen Sachsen, lebt heute in Leipzig und hat nun schon drei dicke Bücher geschrieben über die sächsische Armee. Lang ist es her: Sachsen hatte mal eine Armee. Sachsen war auch mal ein souveräner Staat. Und es beteiligte sich immer wieder auch an Kriegen – nicht immer freiwillig, nicht immer erfolgreich. Was ja bekanntlich einige Witze über die Kampfmoral der Sachsen in die Welt setzte, die bis heute nicht totzukriegen sind. Witze, die auch davon erzählen, dass die meisten Witzeerzähler im Geschichtsunterricht geschlafen haben. Und auch weiter schlafen. Dumm wird es, wenn sie in politisch entscheidende Positionen kommen. Dann wird es brandgefährlich.
Es war zwar ein Preuße, der preußische Militärreformer Carl von Clausewitz, der den Krieg als „eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ bezeichnete. Aber das gilt auch für Sachsen. Und natürlich kommt Gülich ganz am Ende, als er die zunehmend von Kriegstrommeln übertönte Politik der wilhelminischen Ära beschreibt, auf das Versagen der (Reichs-)Politik zu sprechen, die nicht mehr die Kraft und den Mut hatte, den Primat der Politik über das militärische Denken durchzusetzen. Mit der Machtübernahme Wilhelms II. begann diese Gewichtsverschiebung, die dazu führte, dass am Ende militärische Prämissen das politische Handeln bestimmten und Deutschland in einen Krieg hineinmarschierte, der bis heute als Trauma nachwirkt.
Am Ende gab es auch keine sächsische Armee mehr, die tatsächlich ab 1867 noch als eigener Verband innerhalb der von Preußen dominierten Armee existierte. Mit eigenem Kriegsministerium, aber auch systematisch nach preußischem Vorbild formiert. Eine ähnliche Rolle hatten nach der Reichsgründung 1871 nur noch Bayern und Württemberg.
Mittlerweile hat Wolfgang Gülich drei solcher akribischen Armeegeschichten geschrieben. Auch der erste Band über „Die Sächsische Armee zur Zeit Napoleons“ und der zweite „Die Sächsische Armee zur Zeit des Deutschen Bundes“ erschienen (als Nr. 9 und 10) in der Reihe „Schriften der Rudolf-Kötzschke-Gesellschaft“ im Sax-Verlag.
Taucht die Frage auf: Wer war denn Rudolf Kötzschke?
Ein bisschen Blättern in Wikipedia und siehe da: „Rudolf Kötzschke wurde zum Begründer der Landesgeschichtsforschung als wissenschaftlicher Disziplin“, ist da zu lesen. Er war Historiker an der Universität Leipzig, 1867 geboren. Also ganz zufällig vor 150 Jahren. Und dass man diesen Mann, der 1945 mit der Gründung des Instituts für deutsche Landes- und Volksgeschichte betraut wurde, so wieder würdigt, hat mit der Tatsache zu tun, dass sächsische Landesgeschichte in DDR-Zeiten bis 1989 nicht mehr stattfand. War ja ein von der Landkarte verschwundenes Land.
Aber der Sax Verlag hat sich frühzeitig wieder der Landes- und Regionalgeschichte gewidmet.
Da erscheinen dann auf einmal solche Bücher, die das hochmilitärische Interesse des Militärhistorikers zeigen, der alles zusammenträgt, was über die Struktur, die Stärke, die Ausrüstung und die Einsätze der sächsischen Armee herauszubekommen ist. Damit verschiebt sich der Blick. Denn mit diesem ganzen organisatorischen Kram zur Funktionsfähigkeit einer Armee beschäftigt sich der Laie in der Regel nie. Der schaut lieber martialische Schlachtenfilme, freut sich über Action und ist dann, wenn er sich friedlich im Fernsehsessel aufgeregt hat, meistens froh, dass in seiner Straße gerade kein Krieg stattfindet.
Bis auf die Narren. Die fahren nach 43 Jahren Frieden auch noch mit Begeisterung in einen völlig sinnfreien Krieg. Was Gülich durchaus anmerkt. Man hat keinen Kriegsbegeisterten vor sich, sondern einen Mann, der gelernt hat, dass Armeen einen politischen Zweck erfüllen. Und dass es die Regierenden sind, die definieren, worin dieser Zweck besteht. Niemand sonst. Und wenn die politisch nicht in der Lage sind, Konflikte friedlich zu lösen, dann werden ganz schnell große Militäretats notwendig, um eine stehende Armee auszurüsten, auszubilden und kampffähig zu halten.
Im Grunde beginnt das Buch nach dem Ende der sächsischen Souveränität. Denn die ging nach der Schlacht bei Königgrätz 1866 verloren, wo Sachsen auf Seiten der Österreicher ins Feld gezogen war – aber die Preußen gewannen. Damit war der lange Streit um die Hegemonie in Deutschland zwischen den beiden Großmächten Österreich und Preußen entschieden. Österreich schied aus dem Staatenbund aus. Übrig blieb der Norddeutsche Bund, in den sich nun auch Sachsen einfügen musste.
Was auch bedeutete, dass die sächsische Armee die Standards der preußischen Armee übernehmen musste und der oberste Kriegsherr nicht mehr der sächsische König war, sondern der preußische. Der Anpassungsprozess war noch nicht ganz beendet, da hatte der preußische Kanzler Bismarck die Chance genutzt, den nächsten Krieg in die Wege zu leiten. 1870 zogen die sächsischen Truppen als XII. Armee schon an der Seite der Preußen in den Krieg.
Deswegen unterbricht Gülich seine detaillierte Beschreibung der Armeereform durch eine ebenso detaillierte Beschreibung der Märsche, Einsatzorte und Schlachten im Deutsch-Französischen Krieg, an denen die Sachsen beteiligt waren. Und sie waren an einigen der verlustreichsten und bis heute legendären Schlachten beteiligt. Auf etlichen alten Kriegerdenkmälern und auf Tafeln in Kirchen kann man die Ortsnamen Villiers, Sedan, St. Privat und Gravelotte noch heute lesen. Der sächsische Thronfolger Albert bewährte sich als Feldherr, was dann aus preußischer Sicht wohlwollende Anerkennung fand. So mochten die Preußen die Sachsen.
Gülich lässt übrigens auch nicht weg, was dieser siegreich beendete Krieg in Deutschland angerichtet hat. Mehrfach zitiert er den bekannten Autor Ludwig Renn, der vor seiner Schriftstellerkarriere unter seinem eigentlichen Adelsnamen Arnold Friedrich Vieth von Golßenau Karriere in der sächsischen Armee gemacht hatte. Den Militärdünkel, den man aus Preußen kennt, den gab es nach dem Deutsch-Französischen Krieg auch in Sachsen. Wer Wert auf Ansehen legte, versuchte sich einen militärischen Rang und eine Uniform zu erdienen.
Was zumindest für das Bürgertum galt. Der Adel fand in der Armee sowieso die besten Karrieremöglichkeiten für seine Sprösslinge. Die obersten Ränge der sächsischen Armee waren – wie in Preußen – vom Adel dominiert. Was, so vermutet Gülich, durchaus auch eine konservative, königstreue Grundgesinnung mit sich brachte.
Aber eigentlich liest man ja solche Bücher, weil man wissen will, wie es dem einfachen Malocher ging. Der eben eher nicht freiwillig Soldat wurde, sondern als Wehrpflichtiger erfasst wurde und tatsächlich drei Jahre lang dienen musste, danach in die Reserve und den Landsturm wechselte, also über Jahre bereit stand, im Kriegsfall mobilisiert zu werden. Und die Beschreibungen einiger Einsätze im Deutsch-Französischen Krieg lassen ahnen, was für eine Schinderei das für die Gemeinen war.
Und das sind die Stellen, an denen man merkt: Na hoppla, das meiste Wichtige haben dann die Militärverwalter damals wohl doch nicht aufgeschrieben. Nur an einer Stelle erfährt man kurz etwas über die Verpflegung der Truppen. Die im Deutsch-Französischen Krieg mehrmals hakte, weil der Nachschub nicht gesichert werden konnte. Armeen brauchen eine enorme Logistik, die immerfort neue Truppen, Munition und Fourage heranschafft. Die Logistik – die erstmals in großen Teilen mit der Bahn erfolgte – wird natürlich auch gewürdigt.
Aber wie ging es weiter mit der Verpflegung? Wie sahen Feldküchen und Feldbäckereien aus? Und wie war der Mampf in den Kasernen? Wie war es mit Urlaub und Freigang, mit Dienstzeiten? Immerhin entwickelte sich in dieser Zeit ja auch das „moderne“ Kasernenwesen. In Dresden entstand die größte Garnisonsstadt Sachsens, die zweitgrößte entstand im Leipziger Norden. Und noch heute tauchen in städtischen Planungen Hinweise darauf auf, dass es dort auch Großbäckereien gab. Und wahrscheinlich auch Großwäschereien. Oder haben die Soldaten ihre Uniformen selbst waschen müssen? Denn zu echten Schlammmanövern sind sie ja auch ausgerückt.
Man merkt schon, dass Gülich das Armeewesen aus der Warte des Generals betrachtet, der sich vor allem um Truppenformationen, Ausrüstung und Mannstärke kümmert und darum, dass die Logistik funktioniert, genug Männer da sind, wo sie gebraucht werden. Man kann sich die ganzen Kriegsfilme der Gegenwart anschauen und merkt: Die meisten Regisseure ticken nicht anders. Da werden die armen Hunde hingemäht zu Hunderten und Tausenden – aber die Kamera schwenkt zum kühn ins Schlachtenfeuer spähenden Feldherrn. Das sitzt tief. Und es verfälscht den Blick.
Wenigstens erfahren wir am Ende noch, wie emsig sich die frisch gegründete Feldpost 1870/1871 bemühte, die Millionen Feldsendungen der Soldaten nach Hause zu leiten – ganze Post-Kompanien sind da aufgebaut worden. Und wer es noch nicht anderswo gelesen hat, lernt hier, wie der moderne Krieg ein ganzes Staatswesen in Anspruch nimmt und gestaffelte Lazarette und Gefangenenlager hinter der Front braucht.
Und da denkt man an die Soldaten und ihre Bedürfnisse: Haben sie die in französischen Kneipen und Freudenhäusern erfüllt? Und wie hoch war dann die Ausfallquote durch Geschlechtskrankheiten? So was muss man doch mal fragen dürfen, oder?
Dass in diesem Krieg die Todesrate durch die üblichen Kriegsseuchen Typhus und Ruhr erstmals unter den Zahlen der im Gefecht Getöteten lag, hat ja auch mit der besseren sanitären Versorgung der Soldaten zu tun. Die Kriegsherren des 19. Jahrhunderts haben sich aus guten Gründen Gedanken darüber gemacht, wie man möglichst viele Soldaten am Leben erhält.
Es fehlt also – so aus Fußvolk-Sicht – noch ein bisschen Butter bei die Fische. Gab’s überhaupt Butter für die gemeinen Soldaten? Dass ihr Sold eher ein Hungersold war, das erfährt man ja. Und Gülich zitiert dazu einen, der es wissen musste, weil er es erlebt hat: den preußischen Unteroffizierssohn August Bebel. Das sind die Stellen, an denen man merkt, dass sich der Brigadegeneral a. D. schon sehr für diese ganz irdischen und ranglosen Dinge interessiert. Und dann eben auch mal abseits der Militärarchive fündig wird.
Mit diesem dritten Band hat er nun seine Geschichte der sächsischen Armee fürs 19. Jahrhundert vollendet. Wir wissen jetzt eine Ecke mehr darüber, wie Militärplaner damals dachten. Und der wichtige Hinweis auf den Primat der Politik pocht im Hinterkopf. Denn wenn die Chargen im Regierungskabinett versagen, dann wird wieder die Kriegsbegeisterung im Land geschürt und der Erzfeind beschworen. Und es werden Gräben aufgerissen, die für Generationen nicht wieder heilen. Und so endet das Buch nicht ganz zufällig kurz vorm Desaster. Denn das allerletzte Kapitel über die Sächsische Armee – das von 1914 bis 1918 – wäre dann ein sehr blutiges, tragisches und trauriges. Aber vielleicht traut sich ja doch noch einer, auch dieses letzte Kapitel noch zu schreiben.
Wolfgang Gülich Die Sächsische Armee im Norddeutschen Bund und im Kaiserreich, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2017, 30 Euro.
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