Am Ende seines Buches kommt Benjamin Hasselhorn zu dem Fazit, dass man das Luthertum möglicherweise noch einmal retten kann, wenn man jetzt zu ein paar wichtigen Luthergrundsätzen zurückkehrt – aber den Mitgliederschwund der evangelische Kirche könne man wohl nicht stoppen. Da hat er dann 300 Seiten gut fundierter Analyse all der Rettungsversuche hinter sich, mit denen zumeist Theologen versuchten, die Lutherkirche zu retten.
Sein Spezialgebiet ist die Religionsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Er hat sich mit all den Leuten beschäftigt, die mit gewaltigen Gedankengebäuden versuchten, der bedrohten protestantischen Kirche ein neues Korsett zu verpassen. Wobei er in der Regel die Lösungen im Spannungsfeld zwischen liberalen und konservativen Lutheranern sucht. Im Grunde eine innertheologische Geschichtsschreibung, die dann und wann auch jene Philosophen berührt, die versuchten, die Religion auch in einer veränderten säkularen Welt zu definieren – so wie Kant, Schleiermacher, sogar Goethe und Lessing.
Was nur ein Spannungsfeld ist – das nächste ist das zwischen Staat und Kirche, Religion und Politik, aber auch Vernunft und Glauben. Kant ist ja nicht nur der wichtigste deutsche Aufklärungsphilosoph, er ist auch derjenige, der versucht hat, die menschliche Vernunft mit einer Moralphilosophie zu untersetzen. Was den meisten Menschen ebenfalls viel zu kompliziert war. Wer braucht schon einen kategorischen Imperativ, wenn er sich ganz ohne Nachdenken den herrschenden Erwartungen unterordnen kann?
Dass Kant tatsächlich tief in Luther wurzelt, man ahnt es schon.
Aber eben nicht im esoterischen Luther. Sondern in dem, den Hasselhorn in den vier Grundprinzipien des Luthertums fasst. Für Nicht-Gläubige erst einmal eine ganz verzwickte Kiste.
Das sind die vier Grundprinzipien: Gottvertrauen, Hoffnung auf Gnade, Gewissensernst und Mut zum Bekenntnis.
Am heftigsten wird jeder, der mit Kirche nichts mehr am Hut hat, über den Begriff Sünde stolpern. Immerhin baut Luthers ganze Theologie darauf auf. Überzeugte Protestanten sagen noch heute eifrig in der Kirche: „Wir sind alle Sünder.“ Und auch noch mit Überzeugung. Auch Luther war überzeugt, dass der Mensch per Geburt ein Sünder ist. Was dann die ganze Orakelei mit Erbsünde usw. nach sich zieht.
Heute, so Hasselhorn, werde viel zu wenig über Sünde gepredigt. Es herrsche eher so eine Art Eiapopeia-Protestantismus, der oben im Himmel einen immerliebenden Großvater sieht, der alles verzeiht und jeden Gläubigen so annimmt, wie er ist, mit all seinen Sünden. Alles sei ihm verziehen. Das Ergebnis ist die Wohlfühlkirche von heute. Und ein ausgreifender Subjektivismus, wo jeder meint, er müsse nur immer seinem „eigenen Gewissen“ folgen und sonst auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Alles sei egal. Man kommt auch so in den Himmel.
Übrigens eine Einstellung, die nicht nur fröhliche Protestanten teilen, sondern die unsere ganze Gesellschaft durchtränkt. Deswegen empfinden es auch so wenige Menschen als Widerspruch, wenn verantwortliche Politiker vom christlichen Abendland schwadronieren und christliche Werte als Leitkultur verankern wollen.
Hasselhorn versucht greifbar zu machen, was Luther eigentlich unter Sünde verstand. Und warum das mit dem heutigen Wohlfühl-Rummel nichts zu tun hat.
„Die als lutherisch verkaufte Botschaft ‚Du bist gut so, wie du bist‘ ist im besten Fall banal, im schlimmsten Fall gefährlich“, schreibt er. „Denn das Luthertum ist nur dann plausibel, wenn man eben nicht davon ausgeht, dass Gott mich liebt, wie ich bin.“
Es braucht das Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit. „Ohne ein Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit, nicht nur im Kleinen, sondern auch und gerade im Großen, kann es kein Luthertum geben.“
Erst so kommt der Mensch in eine verantwortungsvolle Beziehung zur Welt. Oder in Luthers Verständnis eben: zu Gott. Denn zu seiner Zeit umfasste Kirche nun einmal die ganze Gesellschaft. Sie war die ausschlaggebende moralische Anstalt.
Mal so beiseite gesagt: Was Luther von dieser Kirche forderte, war schlichtweg, dass sie sich so moralisch verhielt, wie es in der Bibel stand.
Hasselhoff hat auch ein ganzes Kapitel geschrieben, das sich mit der Geschichte der Bibelforschung beschäftigt und den (aus Kirchensicht) tragischen Folgen für die Gläubigkeit der Menschen. Denn Generationen von Bibelforschern haben das Buch der Bücher ja so gründlich auseinandergenommen, dass eigentlich niemand mehr annehmen kann, es würde historisch reale Tatbestände schildern oder gar das Wort Gottes sein. So eine Erforschung der Quellen kann oft ernüchternd sein.
Aber: Hat diese wissenschaftliche Demontage der Quellen nicht auch ein positives Ergebnis? Denn gerade dadurch wird ja sichtbar, wie frühe Autoren- und Priestergenerationen bemüht waren, den Menschen eine Geschichte zu geben, die ihnen erklärt, warum es Regeln gibt und jeder Mensch seiner Gemeinschaft verantwortlich ist.
Die großen Religionen sind ja nicht Widerhall irgendwelcher frühen Götterauftritte, sondern Ergebnis von einige Jahrtausenden menschlicher Zivilisation. Einer Zivilisation, die auch Regeln entwickeln musste, die für alle gleichermaßen gelten. Regeln, die nicht immer einfach einzuhalten sind, die Gesellschaften aber trotzdem stabilisieren und vor allem friedlicher machen, wenn sich auch nur die Meisten dran halten.
Selbst wenn man Gott aus dem Zentrum der ganzen Sache nimmt (was Hasselhorn als unerträgliche Leere empfindet), bleibt dieses Gegenüber. Denn diese Regeln haben wir alle verinnerlicht. Sie sind Teil unseres kulturellen Erbes.
Hasselhorn empfindet es auch als extreme Schutzlosigkeit, wenn zwischen dem Gläubigen und Gott kein Vermittler mehr steht. Denn Luther hat ja Papst und Kirche als Vermittler ausgeschaltet. Bei ihm steht der Gläubige Gott direkt gegenüber, der Gläubige hat eine ganz individuelle Beziehung zu seinem Gott – was für Hasselhorn die Quelle des modernen Subjektivismus ist. Motto: Jeder sucht sich seinen Gott, der ihm gefällt.
Aber gerade die Beschäftigung mit Luthers Sündenbegriff zeigt, dass es eigentlich die ganze Zeit nicht um Gott geht. Der ist selbst aus protestantischer Sicht nicht zu fassen.
Aber es geht um unsere eigene Beziehung zu dem, was wir tun und denken. Um genau dieses Gegenüber, auch wenn wir dann für Gott die Welt setzen oder die Gesellschaft. Wir stehen ihnen in genau dieser Einsamkeit und Schutzlosigkeit gegenüber. Zumindest, wenn wir – wie Luther – den Mut zum Bekenntnis und zur Tat haben und heraustreten und sagen: „Ich kann nicht anders.“
Deswegen steckt für Hasselhorn der Kern des Luthertums just in diesem Reichstag zu Worms, auf dem Luther seine Schriften nicht widerrief. Weil er sein Gewissen geprüft hatte und keinen vernünftigen Grund sah, das, was er geschrieben hatte, zu widerrufen. Erst einmal möchten seine Gegner ihm beweisen, dass er geirrt habe.
Das haben sie bis heute nicht geschafft.
Zwei Worte in dieser Aussage sind wichtig und werden oft negiert: Das eine ist Vernunft. Denn indem Luther sich (ausschließlich) auf die Bibel berief, führte er in die schwammige Beziehung zwischen Mensch und Kirche einen Vernunftgrund ein. Wer kirchliche Gebräuche begründen wollte, musste die Gründe dafür in der Bibel finden. Alles andere ist Brimborium.
Und das andere Wort ist Gewissen. Wer wichtige Entscheidungen trifft, sollte sein Gewissen prüfen. Und das hat –- wie Hasselhorn zu Recht betont – nichts damit zu tun, dass jeder meinen und tun darf, was er will. Denn die Regeln, wie wir Menschen eigentlich richtig und friedlich miteinander leben könnten, die sind uns alle anerzogen. Vielleicht nicht angeboren. Aber anerzogen. Sie sind Teil unserer Gesellschaft. Und wer behauptet, dass es diese Regeln nicht gibt, der lügt schon wie gedruckt.
Sie stecken in unseren Gesetzen, in Mythen, Märchen und großen Romanen, man lernt sie in Familien, Schulen, Kitas (ja: Stichwort soziales Verhalten) und Kirchen. Und sie sind immer da. Für Mancheinen viel zu sehr, weil er unter seinen Skrupeln und dem nagenden Gewissen leidet. So wie Luther. Unser Gewissen sagt uns, wann wir uns falsch verhalten haben. Ergebnis: ein schlechtes Gewissen, bestenfalls sogar Scham und Reue.
Man merkt, wohin man kommt, wenn man versucht, Luthers Denken über Sünde zu verstehen. Da braucht es keine vererbte Sünde. Das ist Quatsch. Aber wir sind durch unser Menschsein schon sündhaft: weil wir Fehler machen, uns irren, aus der Haut fahren, andere Menschen verletzen, rücksichtslos sind, gierig, eitel, selbstsüchtig …
Die Latte ist ziemlich lang. Es ist gar nicht einfach, ein wirklich immer freundlicher, rücksichtsvoller und gerechter Mensch zu sein.
Und selbst wenn wir es sind und uns tagtäglich so verhalten, wie es Jesus in der Bergpredigt verlangt: In Gedanken sind wir eben doch in der Lage, die schlimmsten Frevel zu begehen. Wir wissen also, dass wir fehlbar sind und auch einen Batzen negativer Gefühle und Gedanken mit uns herumschleppen.
Für Leute, die darüber mit niemandem sprechen können, eine Last. Oder eine riesige Einsamkeit.
Tatsächlich kommt Luther dem Dilemma des modernen Menschen sehr nah. Denn wie geht er um mit dieser frustrierenden Einsamkeit? Wenn ihn das Gewissen plagt und er trotzdem eine menschliche Entscheidung treffen muss?
Mal wieder Hasselhorn zitiert: „Im Gewissen nämlich erlebt der Mensch ganz radikal, dass er eigentlich immer anders will, als er soll. Eigentlich sind wir von ‚Ichsucht‘ beherrscht, von dem Streben nach unserem individuellen Glück ohne Rücksicht auf anderes“, erläutert er einen Gedankengang des Kirchenhistorikers Karl Holl. Stimmt. Denn das Gewissen ist immer ein soziales Gewissen, es mahnt uns, uns so zu verhalten, dass wir den Menschen um uns herum guttun. Da steckt unsere Verantwortung für unsere Mitwelt, unsere Gesellschaft, unsere Welt.
Wer auf sein Gewissen hört (und viele schlagen es lieber tot oder ersäufen es), der kann nicht mehr wegsehen, wenn Dinge schieflaufen, kaputtgehen, unmenschlich werden, sterben. Der stellt sich seinen Widersprüchen. Auch da hat Hasselhorn Recht: Das ist fast das Schwerste am Luthertum, diese Widersprüche auszuhalten, wenn man sein Gewissen nicht einfach bei der nächsten Beichte erleichtern oder gleich ganz abgeben kann. Das lutherische Denken konfrontiert uns damit, dass dieses Gewissen in uns auch Forderungen an uns stellt. Manchmal welche, die unsere Kraft übersteigen.
Eigentlich zeigt Hasselhorn, dass das lutherische Denken die Kirche längst verlassen hat. Es ist keine Wohlfühlreligion, sondern die Konfrontation des Menschen mit seiner ureigensten Verantwortung, seinem eigenen Gewissen. Es ist der Widerspruch zum rücksichtlosen Individualismus. Es gibt keine Entschuldigung dafür, wenn man ohne Rücksicht auf Andere einfach drauflos lebt und einem die Leiden der Nächsten egal sind.
Und das ist schon lange keine innerkirchliche Angelegenheit mehr. Was auch an Luther liegt. Denn sein „Hier stehe ich“ hat Konsequenzen. Mehr, als Benjamin Hasselhorn lieb sein dürften. Denn damit wird Luthers Anliegen eine gesellschaftliche Forderung. Es gibt keine künstlichen Schranken zwischen Luthertum und Aufklärung (oder Wissenschaft). Auch wenn es Hasselhorn immer wieder versucht zu postulieren. Nicht die Wissenschaft hat Subjektivismus und Individualismus in die Welt gebracht, nicht die Aufklärung hat die Verrohung der Sitten bewirkt. Und vor allem haben sie auch nicht das Verschwinden des Gewissens bewirkt. Es ist kein spezielles Gut der Gläubigen. Es ist der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Auch wenn es ziemlich wenige Luthers gibt, die tatsächlich den Mut haben aufzustehen, wenn sich ihr Gewissen meldet, und zur Tat schreiten und das tun, was ihr Gewissen sagt, dass es das Richtige sei.
Dazu muss man in keiner Kirche sein und auch nicht an die Schöpfungslehre glauben.
Hasselhorn gibt sich am Ende überzeugt, dass eine heutige Theologie wieder „Gott im Zentrum“ braucht.
Wahrscheinlich ist genau das der Irrtum. Genauso wie einige andere komplett innerkirchliche Positionen zu Fortschritt, Wissenschaft und Aufklärung. Man behandelt diese Dinge wie etwas Fremdes, als wären sie Konkurrenz und Feinde der Kirche. Als würde aufgeklärtes Denken lutherischer Gewissenserkundung widersprechen. Das Gegenteil ist der Fall: Beides braucht einander. Ohne Gewissenserkundung und das Bewusstsein der eigenen, menschlichen Unvollkommenheit fehlt dem Technikglauben, der Politik, auch der Forschung das wichtigste Korrektiv.
Aber selbst die meisten Gläubigen wissen Wissenschaft, Fortschritt und Aufklärung zu schätzen. Und viele fliehen aus der Kirche, weil dort die großen Gewissenskämpfe der Zeit nicht mehr stattfinden. Stattdessen wird Kirche als verschlossene Gemeinschaft erlebt, die sich regelmüßig selber feiert, an den großen Gewissenserforschungen der Zeit aber nicht mehr teilhat.
In gewisser Weise hat also die Beschäftigung mit Luther wieder einiges aufgerührt. Und sie hat vor allem zutage gebracht, wie fremd die heutige Kirche diesem Lutherschen „Ich kann nicht anders“ geworden ist. Und das (aus Lutherscher Perspektive) einem Gott gegenüber, von dem man niemals weiß, ob er einem das durchgehen lässt.
Dass es einem eine Reihe mächtiger Menschen nicht durchgehen lassen, das weiß man schon vorher. Das muss man dann aushalten, ohne umzufallen, bevor es wirklich darum geht, sich für eine gute Sache wirklich mal mit aller Kraft einzusetzen.
Das ist ganz heutig und auch ganz Luther. Ob das noch Kirche ist, ist wohl die Frage.
Benjamin Hasselhorn Das Ende des Luthertums?, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2017, 19 Euro.
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