An Arne Ulbricht ist – zum Glück – kein Lehrer verloren gegangen. Auch wenn der Teilzeitlehrer aus Wuppertal heute wie aus der Zeit gefallen wirkt. Denn dass Lehrer aus dem deutschen Schulwesen „nebenbei“ auch noch schreiben und forschen, das war mal das Ideal im vorvorletzten Jahrhundert. Die heutigen „Bildungsreformer“ ahnen nicht mal, was sie schon alles kaputtgemacht haben. Aber was hat das mit Guy de Maupassant zu tun?

Eine Menge. Denn die französische Literatur ist für Arne Ulbricht das, was man dermaleinst eine Passion nannte. Mal ganz zu schweigen von einem Begriff, der regelrecht ausgestorben scheint: passionierter Lehrer.

Über letzteres hat Ulbricht nun schon mehrere Bücher geschrieben, die für positives Echo gesorgt haben. Nur nicht bei denen, die es eigentlich angeht: den vereinigten deutschen Kultusministern, die mit ihrer versammelten Unfähigkeit, überhaupt zu begreifen, was beim Lehren und Lernen vorgeht (oder vorgehen sollte) zeigen, was herauskommt, wenn Mittelmaß in Führungsämter kommt. Und Deutschland ist ein Land, in dem Mittelmaß bevorzugt wird, wenn es um Karrieren geht.

Was auch wieder mit den speziellen Talenten des Mittelmaßes zusammenhängt: Es beschwert sich nicht mit Wissen, es zweifelt nicht an sich, tritt aber mit einer Selbstgewissheit auf, die absolutes Wissen vortäuscht. Das überzeugt natürlich in einer Welt, in der die Bühne dem Mittelmaß gehört. Nur ja niemanden überfordern.

Das Problem ist nur: Die wirklich engagierten Lehrer und Lehrerinnen gehen in diesem System kaputt, werden verheizt wie der Herr Gödel in Ulbrichts Roman „Nicht von dieser Welt“. Sie brennen aus, weil sie benutzt werden wie Roboter, die Kinder so effizient zu verarbeiten haben, dass für das Eigentliche – die Entdeckung der eigenen Möglichkeiten zur Erkenntnis – kein Platz bleibt. Schule wird nicht zum Abenteuer einer kosmischen Entdeckung, sondern zu einer für alle frustrierenden Fließbandarbeit, in der nur noch fertige Pressteile abgeliefert werden.

Ulbricht ist irgendwann wenigstens so weit ausgestiegen, dass er sich gesagt hat: Ich lasse mich nicht verheizen. Ich unterrichte die Fächer, die mir wichtig sind (Französisch und Geschichte) und behalte mir noch so viel Zeit übrig, dass ich auch meine Passion noch pflegen kann. Und das ist bei ihm die französische Literatur. Eigentlich noch genauer: die französische Literatur des 19. Jahrhunderts.

Mit Zola – so schreibt er – fing es 1997 an. Dessen Roman „Germinal“ brachte ihn zum Schreiben. Und nicht nur das: Einem der Fixsterne des französischen Schriftstellerhimmels widmete er auch etliche Jahre der Forschung. Darüber berichtet er im Vorspann dieses Buches. Denn augenscheinlich fehlt es in Deutschland nicht nur an einer großen aussagekräftigen Biografie über den berühmten Novellisten, sondern auch an einer vollständigen Werkausgabe für Guy de Maupassant. Seine berühmten Romane wie „Bel-Ami“ oder „Pierre et Jeanne“ werden zwar immer wieder als Taschenbuch aufgelegt, seine Reiseberichte erscheinen ab und zu in Sondereditionen. Aber schon bei seinem gigantischen Novellen-Werk hört es auf, bekommen die Leser in der Regel nur immer neue Auswahl-Bände angeboten. Die letzte vollständige und zeitlich geordnete Novellen-Ausgabe erschien in den 1980er Jahren im Aufbau Verlag. Als Arne Ulbricht gar nach den Ausgaben von Maupassants Gedichten und Theaterstücken suchte, wurde er selbst in Frankreich nur teilweise fündig, auch wenn ihm die dort verfügbare biografische Literatur regelrecht glücklich machte.

Daran, dass Maupassant in Deutschland nicht gelesen würde, kann es nicht liegen. Er wird gelesen. Aber es ist bei ihm genauso wie mit Flaubert, Zola, Balzac: Sie tauchen im deutschen Schulunterricht kaum auf. Und so beschäftigen sich auch die üblichen Groß-Philologen selten bis nie mit diesen beeindruckenden Autoren des französischen Realismus, wühlen sich lieber zum 100. Mal durch Goethe und die mühseligen Erzählprodukte des deutschen Romans.

Wer die Franzosen gelesen hat, weiß, wo der Unterschied liegt. Und auch, dass der Literaturmarkt schon zu Maupassants Zeiten in Frankreich anders funktionierte. Kein deutscher Autor wäre auf die Idee gekommen, über Veröffentlichungen in publikumsstarken Zeitungen bekannt werden zu wollen und den Durchbruch zu schaffen.

Und genau das ist die Stelle, die Ulbricht an diesem Schriftstellerleben interessiert hat: Wie hat es Maupassant geschafft? Dass der berühmte Gustave Flaubert irgendwie eine fördernde Rolle in seinem Leben gespielt hat, ist bekannt. Jeder Flaubert-Biograph wiederkäut den Satz. Aber wie spielte es sich wirklich ab? War Maupassant tatsächlich Flauberts „Schüler“, wie immer wieder leicht hingeschrieben wird?

Man merkt: Hier schaut einer mit Lehreraugen. Und kluge Lehreraugen sind kritisch. Was einem mehrfach auffällt an diesem Buch, denn es beinhaltet ja auch jene Kindheits- und Jugendphase, die Maupassant in einem katholischen Internat zubrachte – einem aus heutiger Sicht fürchterlichen Lerninstitut, in dem die Jungen wie Mönche lebten, bis in die letzte Minute ihrer Freizeit überwacht und bevormundet wurden und jede menschliche Regung bestraft wurde. Oft mit einem Verweis von der Schule, was für die Eltern, die das Schulgeld bezahlen mussten, in der Regel eine Katastrophe war. Balzac hat ja ganz Ähnliches berichtet.

Und das Glück für Ulbricht ist, dass Vieles (nicht Alles) aus der frühen Zeit im Leben Maupassants in Briefen überdauert hat. In Briefen an seine Mutter und seine Freunde schilderte der Junge, der im „wilden“ Etretat eine glückliche Kindheit erlebt hatte, wie es ihm unter den tristen Verhältnissen des klösterlichen Internats erging. Eine Welt, aus der er auch flüchtete, indem er seiner Leidenschaft für das Schreiben frönte. Man merkt, was Ulbricht hier spannend findet. Denn an solchen Stellen in großen Schriftstellerkarrieren wird mehreres deutlich: einerseits, wie echte Passionen einen sensiblen Menschen aus unaushaltbaren Zuständen befreien oder zumindest für die Stunden der Beschäftigung daraus erlösen können. (Etwas, was heutige Schüler kaum noch kennen, weil ihnen eine unterhaltungsbesessene Welt lauter Spielzeuge an die Hand gegeben hat, mit denen sie sich per Knopfdruck – also ganz und gar nicht passioniert – aus der Gegenwart verabschieden können.)

Und zum anderen: Wie es die Passionen sind, die jungen Menschen erst den Weg weisen in ihr eigenes Leben. Sie geben dem Leben einen Sinn. Sie machen den jungen Menschen zum Schöpfer seines eigenen Lebens.

Welcher Lehrer darf das heute seinen Schülern noch beibringen?

Natürlich hat es auch Maupassant niemand beigebracht, schon gar nicht die verklemmten Lehrer im Internat. Aber bestärkt wurde er darin – von Menschen, die ihn bestätigt haben in seiner Neugier und in seinem Schreiben. Wobei Flaubert zwar nicht der Erste war, der das tat. Das war seine Mutter, die den Jungen schon früh begeisterte, indem sie ihm die großen Neuerscheinungen der französischen Literatur vorlas. Und so wie Zolas „Germinal“ auf Arne Ulbricht wirkte, so muss Flauberts „Salammbo“ auf Maupassant gewirkt haben – so dass seine Jugendzeit auch einer beharrliche Suche gleicht, mit dem verehrten Autor in Kontakt zu kommen, was irgendwann in das mündete, was die Vorwortschreiber so lax ein Lehrer-Schüler-Verhältnis nennen.

Aber so lernt man nicht schreiben, schon gar nicht packend, lebendig und so, dass noch Generationen von Lesern von diesen Texten beeindruckt sind. Tatsächlich findet man den großen Flaubert in Ulbrichts Buch als großen Forderer, Unnachgiebigen, der den jungen Dichter zwar lobt, kritisiert und wertschätzt, ihn aber vor allem mahnt, sich vom tristen Alltag im Büro nicht verschlingen zu lassen, sondern jede verfügbare Stunde zum Schreiben zu nutzen.

Wer aufmerksam liest, der merkt, dass man Schreiben nicht lernen kann. Schon gar nicht, indem man Genies wie Flaubert oder Zola (der mit dem Naturalismus ja gleich mal eine eigene „Schule“ kreierte) nachahmt. Man schafft es nur so, wie es sich der junge Maupassant immer wieder sagt, so oft ihm auch Veröffentlichungen und Anerkennung versagt bleiben: Man muss seinen eigenen Weg finden. Der hat nicht immer (wie bei seinem großen Vorbild Flaubert) mit Stil zu tun. Oft ist es die endlich begriffene Fähigkeit, Geschichten, die andere Leute als ganz alltäglich beschreiben würden, als etwas Ungewöhnliches, zutiefst Menschliches zu beschreiben. Ganz in Goethes Sinn, der es als Erster definierte – aber selbst ein grottenschlechter Novellist war.

Maupassant gilt heute als der beste aller Novellisten, nicht nur der französischen. Und während seine Art, zutiefst Menschliches auf wenigen Seiten packend und treffend zu erzählen, in Frankreich ein wenig Zeit brauchte, bis er mit „Boule de suif“ tatsächlich den Durchbruch schaffte, waren die Amerikaner sehr schnell begeistert von diesen Geschichten, die im Grunde auch die Seele der Zeit erfassen (die Themen der Zeit sowieso – Maupassant scheute sich nicht, über die Tragik des deutsch-französischen Krieges zu schreiben, den er als Soldat selbst miterlebte, aber auch nicht, Prostituierte zu Heldinnen seiner Geschichten zu machen). Die amerikanische Short novel hat ihre Wurzeln in den Maupassantschen Novellen.

Die biografischen Dokumente, auf die Arne Ulbricht zugreifen konnte, belegen, dass dieser junge Maupassant all das, worüber er schrieb, in der Regel auch erlebt hatte. Bis hin zum ausschweifenden Liebesleben, das ihm dann wohl auch die Syphilis einbrockte, an der er fortan litt. Wobei die Dokumente nicht eindeutig klären können, was am Ende sein Leiden verstärkte – ob es die Syphilis war, eine familiär vererbte Geisteskrankheit oder der Missbrauch von Suchtmitteln. Immerhin verbot ihm ein kluger Arzt den ausschweifenden Nikotinmissbrauch. Aber noch lebte man in einer Zeit, in der der Genuss von Suchtmitteln in allen Gesellschaftsschichen an der Tagesordnung war. Wobei sich Maupassant mit der Sucht des einfachen Volkes in seinen Texten besonders beschäftigte: der Trunksucht.

Ulbricht beginnt seinen biografischen Roman praktisch mit dem Ende: Maupassants Selbstmordversuch und der Klinikeinweisung. So ist sich der Leser stets der Tragik dieses kurzen Lebens bewusst, das Ulbricht danach sehr plastisch und lebendig erzählt. Denn im Grunde besteht ja Maupassants Leben aus lauter Novellen. Man hat den Stoff, aus dem er schöpfte, direkt vor sich. Und irgendwann bangt man mit dem frustrierten Ministerialbeamten: Schafft er nun den literarischen Durchbruch oder scheitert er?

Man merkt, dass auch Zola und Flaubert für ihn keine Wunder vollbringen können, nur ein paar Türen öffnen. Das Herz der Leser muss Maupassant selbst aufschließen. Und die dreisten Kommentare vieler Kritiker bis in die Gegenwart zeigen, dass das durchaus hätte schiefgehen können. Denn um Leser zu bezaubern, braucht es in der Regel auch wieder Kritiker, die darauf hinweisen, was für ein Schatz da liegt.

Auch wenn Ulbricht dieses Schriftsteller-Leben wie einen Roman schreibt, oft genug auch mit Dialogen gespickt, von denen er extra betont, dass es dafür keine Dokumente gibt, dass sie aber die Personen in Aktion zeigen, wie sie wohl wirklich waren, bekommt man hier erstmals im deutschen Sprachraum so umfassend einen Einblick in die frühen Jahre Maupassants. Bis zu den Tagen, an denen ihm der Durchbruch gelingt. Nur noch in einem Satz erwähnt Ulbricht dann, dass für Guy de Maupassant da im Grunde erst die Hatz begann. Denn die ersten Alarmsignale seine Körpers ließen ihn ahnen, dass ihm nicht viel Zeit bleiben würde. Sein gigantisches Werk, von dem sich augenscheinlich alle deutschen Verlage überfordert fühlen, schuf er in knapp fünfzehn Jahren.

Arne Ulbricht Maupassant, KLAK Verlag, Berlin 2017, 16,90 Euro.

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