Roman steht auf dem Cover. Was wohl dazu fรผhren wird, dass das Buch in der falschen Abteilung der Buchhandlungen landen wird. Aber welches ist die richtige? Eigentlich: Zeitgeschichte. Vielleicht auch: Autobiografie. Denn hier erzรคhlt einer aus seinem Leben. Zwar fabulierfreudig, aber wie erzรคhlt man sonst รผber Erlebtes? Gar noch mit dem Schalk im Nacken?
Und erst recht รผber eine Zeit, in der der Schalk im Nacken zur Konfrontation mit der Staatsmacht fรผhrte. Es ist schon erstaunlich, wie viele Bรผcher sich in letzter Zeit mit den frรผhen, traumatisierenden Jahren der DDR beschรคftigen. Vielleicht auch nicht. Irgendwann muss es ja mal erzรคhlt werden. Die, die es erlebt haben, sind lรคngst hochbetagt. Und nicht jeder sieht sich dabei als so eigenstรคndiger Akteur wie Hans-Henning Paetzke, 1943 in Leipzig geboren, so dass auch Leipzig einen gewissen Teil dieser Erinnerungen ausmacht, auch wenn es eher nur die Kindertage sind.
Wobei der Leser durchaus bei einem Erzรคhler landet, der sein Leben nicht einfach chronologisch aberzรคhlt, sondern vor- und zurรผckblendet. Und das auch nicht aus einer starren, irgendwo in abgeklรคrter Zukunft liegenden Position. Denn Paetzke macht etwas, was sich nur wenige Autobiografen zutrauen: Er versucht die Motive fรผr seine Lebensentscheidungen immer wieder zu hinterfragen, Ursachen dafรผr in frรผher Kindheit und Jugend zu finden, vielleicht auch im konkreten Verhรคltnis zu Mutter, Vater, Geschwistern โ aber auch Onkeln und Tanten.
Denn die Nachkriegszeit, in der Hans-Henning Paetzke aufwuchs, war ganz gewiss keine eindeutige. Kaum ein Mensch in diesem Stรผck Ostdeutschland war ohne Brรผche, ohne dunkle Schatten in der Biografie, ohne dieses Dilemma, wie man nun eine neue Gesellschaft mitgestalten kรถnnte, wo man doch gerade eine Menge Schuld in einer Gesellschaft auf sich geladen hatte, die das Menschlichste mit Fรผรen trat. Und selbst, wer sich in dieser Diktatur nicht schuldig gemacht hatte, trug an seinen Gewissensbissen. Und mancher warf sie gleich wieder รผber Bord und diente sich den neuen Machthabern an und sorgte dafรผr, dass Kinder und Jugendliche wie Hans-Henning schnell merkten, wo Hammer und Sichel hรคngen.
Dass einer sich dann so vehement fรผr die Verweigerung entscheidet und die Klappe nicht halten kann, das war auch damals eher selten. Und zumindest das lernt man aus diesen Biografien aus diesen frรผhen Jahren: Wie frรผhzeitig die neuen Machthaber dazu รผbergingen, die Bรผrger zu bevormunden und jeden Widerspruch mit Sanktionen zu belegen.
Was den heranwachsenden Hans-Henning dann ziemlich bald in eine Rolle drรคngt, die ihn in der durchregulierten DDR รผber Jahre zum Auรenseiter machte, zum Beobachtungsobjekt sowieso. Was mit einem Verweis vom Gymnasium 1960 beginnt und mit Paetzkes kompletter Wehrdienstverweigerung 1963 einen Gipfelpunkt findet. Was 1963 noch ein echtes Wagnis war, denn die Wiedereinfรผhrung der Wehrpflicht war noch frisch. Der Staat duldete keine Verweigerung โ der Prozess gegen Paetzke aber scheint tatsรคchlich der erste dieser Art in der DDR gewesen zu sein. Anlass fรผr jenen Kompromiss, der dann in der Einfรผhrung des Ersatzdienstes als Bausoldat in der DDR mรผndete.
Aber auch das verweigerte der junge Mann, der in seiner eigenen Erinnerung wie ein Strohhalm im Wind erscheint, hin- und hergetrieben zwischen einer Sehnsucht nach Freiheit, einem Studium, das ihn ausfรผllen kรถnnte, und den Frauen. Ein echter Casanova, hat man den Eindruck. Die vielen Mรคdchen- und Frauennamen kann man sich irgendwann gar nicht mehr merken. Erst recht, weil Paetzke nicht innehรคlt und immer wieder zurรผck- oder vorblendet. Etwa in die Knastzeit, in der er Freunde fรผrs Leben kennenlernte, aber auch Geschichten, wie sie so typisch waren fรผr diese Zeit: รผber versuchte Grenzรผbertritte oder den Umgang mit โgefallenenโ Funktionรคren. Tatsรคchlich lernte er ja die tatsรคchliche Seele dieses Funktionรคrsstaates kennen, der alles abweichende Denken und Verhalten gnadenlos verfolgte und so zwangslรคufig den inhaltsleeren, aber rรผcksichtslosen Funktionรคrstyp begรผnstigte.
Wรผrde man das nicht schon aus anderen Schilderungen kennen, man kรถnnte entsetzt sein. Oder ernรผchtert. Denn auf diese Weise verlor eine Idee schon frรผhzeitig alles Vertrauen. Denn dass diese Idee durchaus lebendig sein konnte, lernt der junge Paetzke ja auf seinen Reisen nach Prag, Budapest und Poznan (Posen) kennen. Just wรคhrend des Prager Frรผhlings wird er durch Prag spazieren und auch noch ein Fernsehinterview geben โ ganz zufรคllig. Er ist da hineingeraten, ohne es zu beabsichtigen. Wie so viele seiner Lebenswege eher zufรคllig scheinen โ im Nachhinein aber folgerichtig. Vielleicht sogar das mit den Frauen und der spรคten Verzweiflung des Erzรคhlers darรผber, wie schรคbig er sich dabei oft benommen hat den Mรคdchen gegenรผber, die ihn regelrecht zu umschwรคrmen schienen.
Erst spรคt findet er mit einer Budapester Freundin eine Partnerin, die ihn auch geistig fordert und ihn auf jenen Weg bringt, fรผr den er heute bekannt ist. Denn als รbersetzer aus dem Ungarischen hat Hans-Henning Paetzke den deutschen Buchmarkt mit den Bรผchern von Gyรถrgy Konrรกd, Pรฉter Esterhรกzy, Magda Szabรณ und vielen anderen wichtigen ungarischen Autoren bereichert. Er wurde zum Brรผckenbauer, auch weil er 1968 konsequent Abschied nahm von der DDR, in der ihn die Staatsorgane fest im Blick hatten und als subversives Element einschรคtzten. Was er ja auch war: Alles, was in diesem Ulbricht-Land eigenstรคndig und widerstรคndig dachte und seine eigenen Lebensvorstellung zu verwirklichen versuchte, galt als subversiv. Dass das Land 1989 so kleinkariert und schรคbig wirkte, war die direkte Auswirkung dieser kleingeistigen Rahmensetzung.
Was nicht verhinderte, dass von Paetzke รผbersetzte Titel auch in der DDR erschienen und dort fรผr ungarische Lese-Entdeckungen sorgten.
Es ist im Grunde die Geschichte einer gar nicht so langen Suche. Andere suchen viel lรคnger nach dem richtigen Weg in ihrem Leben, der richtigen Frau sowieso. Viele suchen auch nicht. Das sind die Leute, die alles mit sich machen lassen und gar nicht merken, dass sie ihr eigenes Leben gar nicht leben, sondern nur ein fremdbestimmtes. Die erpressbar werden und angepasst bis zur Rรผckgratverkrรผmmung. Logisch, dass das Land 1989 so wirkte und schon die mutige Erprobung des aufrechten Ganges das Regime der ratlosen Verwalter ins Wanken brachte.
Aber das ist eine andere Geschichte. Paetzke beendet seine Geschichte mit der Ausreise nach Ungarn, nach Budapest, das ihm erstmals wieder das Gefรผhl gab, eine Heimat zu haben. Und so emsig er immer wieder in andere Kapitel seiner Jugend hin- und herblendet, kommt man nicht wirklich durcheinander. Im Gegenteil: Die Technik zeigt, wie sehr der Autor all die Ereignisse in seinem Leben miteinander verwoben weiร. Manches Erlebnis erklรคrt sich aus frรผher Erlebtem, mancher Charakterzug findet sich in familiรคren Erinnerungen wieder. Ein schรถnes Beispiel, wie man sein Leben unter die Lupe nehmen kann und dabei auch noch was รผber sich selbst lernt. Und die Schuld an allem eben nicht immer nur bei anderen sucht.
Denn alle unsere Handlungen haben Konsequenzen โ egal, ob wir Entscheidungen ausweichen oder einfach stur hineinlaufen, wie es diesem jungen Burschen passierte, der auch im hohen Alter noch รผber ein enormes Erinnerungsvermรถgen verfรผgen muss. Denn so viele Details und Geschichten, die verblรผffen beim Lesen schon. Da hat einer augenscheinlich ein richtig gutes Gedรคchtnis fรผr Menschen und Erlebnisse.
Ergebnis ist eine sehr lebendige Autobiografie, die tatsรคchlich etliche Qualitรคten eines Romans hat.
Hans-Henning Paetzke Andersfremd, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2017, 14,95 Euro.
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