Da waren wir jüngst erst mit dem Stadtführer „Frankfurt an einem Tag“ in Frankfurt, haben Goethe und Schiller getroffen – aber zur Nationalbibliothek, der Schwestereinrichtung der Leipziger DNB, sind wir nicht gekommen. Sie liegt ein wenig außerhalb des Stadtzentrums, vom Verkehr umrauscht. Aber sie ist, wie dieser kleine Katalog verrät, einen separaten Besuch wert.
Vielleicht nicht unbedingt der Bücher wegen. Die bekommt man auch in Leipzig. Doch während die Leipziger Bibliothek auch nach allen Anbauten im Kern das Schmuckstück aus der wilhelminischen Ära ist, bekam Frankfurt 1997 einen imposanten Neubau, für den dann auch für 1 Prozent der Bausumme Kunstwerke angeschafft wurden. Haben sich die Frankfurter damals auch so darüber aufgeregt, dass es vom Planungsbeginn 1981 bis zur Eröffnung mit Bundeskanzler Helmut Kohl so lange dauerte, wie es heute beim Flughafen BER der Fall ist?
Die Frankfurter werden es wissen. Dabei ist die Neueröffnung nun auch schon 20 Jahre her, ein Zeitpunkt, den Generaldirektorin Dr. Elisabeth Niggemann zum Anlass nahm, einen professionellen Katalog zu den in, vor und auf der Bibliothek zu sehenden Kunstwerken erstellen zu lassen. Dieser Aufgabe hat sich die Kunsthistorikerin Ruth Langen-Wettengl gewidmet – die Fotos hat Stephan Jockel beigesteuert, der hauptamtlich in der Stabsstelle Kommunikation der DNB tätig ist. Da hat er sozusagen seinen Arbeitsplatz mal fotografisch abgelichtet, wenn auch nur jene Teile, in denen die in diesem 100-seitigen Katalog beschriebenen Kunstwerke von neun Künstlern zu sehen sind. Im Vorspann erfährt man noch ein wenig über die Art und Weise, wie die extra berufene Kunstjury 1994 zur Auswahl der Künstler kam.
Ein Vorgang, der durchaus Anlass für Streit hätte geben können. Aber irgendwie hat man sich wohl recht friedlich geeinigt auf das, was heute zu sehen ist.
Auch wenn es eben keine übliche klassische Kunstwelt ist, die man da sieht, sondern durchaus anspruchsvolle Gegenwartskunst. Dass der Katalog jetzt erstellt wurde, hat auch damit zu tun, dass die moderne Kunst oft nicht ohne Erklärung funktioniert. Was nicht unbedingt an der Kunst und den Künstlern selbst liegt, wie Ruth Langen-Wettengl deutlich macht. Doch während die meisten Menschen in der Regel eine recht gute Vorstellung über die Bilder- und Symbolsprache klassischer Kunstrichtungen haben, haben es ja Künstler der Moderne spätestens seit den 1920er Jahren regelrecht darauf angelegt, den klassischen Formenkanon zu durchbrechen und zu zeigen, dass Kunst mehr sein kann und auch mehr bedeuten kann.
Und der Rundgang beweist, dass es gut ist, wenn man über die Künstler und die Kunstwerke mehr weiß. Man versteht sie dann wirklich besser. Hinter jedem Kunstwerk steht der Anspruch, dem Betrachter mehr zu vermitteln als nur den bloßen Anblick.
Das beginnt bei der Backsteinfigur, die der Däne Per Kirkeby direkt vor der Freifläche des Bibliotheksneubaus hat bauen lassen: eine mäandernde, aus roten Klinkern gemauerte Pergola, oder auch nicht. Man kann hindurchspazieren, die Durchblicke genießen, die Schönheit der gemauerten Klarheit (in der nicht unabsichtlich das berühmte Quadrat von Malewitsch steckt). Man kann das Mauerwerk in seiner strukturellen Schönheit genießen. Und irgendwie hat diese durchlässige Wand es tatsächlich auch noch geschafft, den Platz vor der Bibliothek von der stark befahrenen Straße abzutrennen. Dahinter ist ein ruhiger Ort entstanden, gleichzeitig Platz zum Ausruhen und Übergang zur Bibliothek.
Jockels Bilder machen erst recht deutlich, dass diese scheinbar so deplatzierte Mauer tatsächlich „wirkt“.
Schon etwas komplizierter wird es mit Ilya Kabakovs Installation „Flügel“ im Treppenschacht, die aus drei großformatigen Bildern besteht, die selbst schon verwirren, weil sie das Unfertige, auch Luschige und Provisorische betonen. In Lesevitrinen gibt es dazu auch noch lauter Kommentare von (fiktiven) Besuchern, die sich über die Installation unterhalten und unterschiedliche Deutungen anbieten. Was im Grunde für moderne Kunst typisch ist: Erst in der Rezeption entfaltet ein Kunstwerk die Vielfalt seiner Möglichkeiten. Es ist nicht so eindeutig und plakativ wie zum Beispiel die Bestell-Kunst des sozialistischen Realismus, mit der Ilya Kabakov in seiner Jugend in der Sowjetunion zu tun hatte, wo er sich mit Auftragsarbeiten (Kinderbuchillustrationen) durchschlug, aber längst schon das Konzept für seine Installations-Kunst verwirklichte, die in der Sowjetunion immer im unerwünschten Rahmen stattfand. Langen-Wettengl zeigt, wie sehr und warum Kabakovs Arbeit nach wie vor im ironischen Dialog mit dem sozialistischen Kunstverständnis steckt, wie es die Erwartungen konterkariert und dem westlichen Betrachter ein Stück weit auch die unabhängige Künstlerszene der ehemaligen Sowjetunion näher bringt.
Georg Baselitz’ Plastik „Armalamor“ im Foyer ist die einzige Arbeit, die nicht direkt für die Bibliothek geschaffen wurde, die aber trotzdem angekauft wurde und ihre Anspielungen auf einige große Künstler und Kunststile des 20. Jahrhundert erst erschließen lässt, wenn man um den Hintergrund des Namens der Skulptur weiß und um die Bezüge auf andere Kunstwerke, die Baselitz ganz bewusst immer wieder herstellt, auch wenn er keineswegs fein geschliffene Kunstwerke liefert, die auch in einem hellenistischen Tempel stehen könnten, sondern mit Kettensäge sehr grobschlächtig und schweißtreibend arbeitet. Was Absicht ist.
Ein Projekt, das weit über den Rahmen der Frankfurter Bibliothek hinausweist, ist dann Candida Höfers Fotoserie „Bibliotheken“, aus der 13 Arbeiten in Frankfurt hängen. Die Fotografin bereist seit Jahren alle großen Städte des Kontinents, um dort die oft geschichtsträchtigen, zuweilen sehr modernen, immer aber eindrucksvollen großen Bibliotheken zu fotografieren. Manches Foto gewinnt schon binnen weniger Jahre historische Dimension, weil – wie etwa in der Leipziger Nationalbibliothek – der gezeigte Raum mit dem Interieur aus DDR-Zeiten wieder aufwendig im ursprünglichen Stil restauriert wurde, oder weil – wie die Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar – der Bau wenige Jahre nach dem Foto abbrannte und aufwendig wieder neu gebaut werden musste.
Im Grunde hat jedes Kunstwerk auch eine leichter oder schwerer zu entdeckende Beziehung zur Bibliothek.
Ganz offensichtlich ist es bei Jochen Gerz’ Fiberglasregal „Heimkehr der Erinnerung. Fragen für Walter Benjamin“, das ursprünglich im Foyer an die Bücherverbrennung der NS-Zeit erinnern sollte, aus Sicherheitsgründen seinen Platz aber auf dem Dach der Bibliothek fand. Mit den beigegebenen Fragen an Walter Benjamin wird das Kunstwerk auch zum Anreger, sich über unser Verhältnis zum Denken, zu Büchern, zur Macht Gedanken zu machen.
Und erst recht spielt Tobias Rehberger mit der Kunstinstallation „Short Time, Short Work 1966-1991“ mit dem Mythos Bibliothek auch als Ort der Fiktionen. Mit der Figurengruppe, die in der Direktionsetage ihren Platz gefunden hat, schickt Rehberger den Betrachter regelrecht hinein in den Kosmos der Bibliothek, wo ein (tatsächlich existierender) Katalog über den scheinbar gescheiterten Künstler Tobias Rehberger erst recht in die Fiktion führt – einen Roman von Henry James, der natürlich von einem gescheiterten Künstler handelt. Dass selbst die Figurengruppe in mehrfacher Weise die alte Überzeugung bricht, Kunstwerke müssten vom Künstler selbst geschaffen werden und auch das zeigen, was sie sind, macht Langen-Wettengl recht anschaulich in ihrer kleinen Detektivrunde durchs Haus deutlich.
Gewürdigt werden im Katalog auch Arbeiten von Helmut Newton, Klaus Schneider und Wolfgang Nieblich – auch hier bieten die Texte jene zusätzlichen Informationen, die dem (zufälligen) Betrachter einen breiteren Zugang zur Ideenwelt des Künstlers geben. Der Katalog sei im Haus erhältlich, betont die Hausleitung. Man kann also hinfahren nach Frankfurt und sich mit dem Katalog an die Entdeckung der ausgestellten Kunstwerke machen. Führungen gibt es auch ab und zu. Und die Caféteria ist gleich im Foyer. Was will man mehr?
Ruth Langen-Wettengl, Stephan Jockel „Zugabe. Kunst in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main“, Deutsche Nationalbibliothek, Frankfurt 2017, 10 Euro.
In eigener Sache: Lokaler Journalismus in Leipzig sucht Unterstützer
In eigener Sache (Stand Mai 2017): 450 Freikäufer und weiter gehts
Keine Kommentare bisher