Selbst die Beiden, die fรผr diesen Stadtfรผhrer in Kassel unterwegs waren, รคuรern ganz am Anfang so einen leisen Zweifel: Lohnt es sich denn รผberhaupt, nach Kassel zu fahren? Ist da nicht viel zu viel zerbombt worden im 2. Weltkrieg? Und danach? War da nicht was? Warum sollte man ausgerechnet nach Kassel? Es gibt erstaunlich viele Grรผnde. Denn: Es war einmal ...
Es war einmal ein Brรผderpaar, das war 1837 schon so berรผhmt, dass es โ obwohl als Professor (Staatsrecht und Germanistik) im Staatsdienst angestellt โ รถffentlich gegen die Abschaffung der erst 1833 eingefรผhrten liberalen Verfassung im Kรถnigreich Hannover protestierte. Was in dieser Zeit schon etwas tollkรผhn war. Da galten Verfassungen noch als fรผrstlicher Gnadenerweis. Die beiden taten es nicht allein, sondern mit fรผnf anderen Professoren zusammen. Alle sieben wurden entlassen und berรผhmt als die Gรถttinger Sieben.
Die beiden Berรผhmtesten hieรen Jakob und Wilhelm Grimm und im damaligen Deutschland kannte sie jeder. Ihre โHausmรคrchenโ lagen in der dritten Auflage vor. Und die wichtigste Quelle fรผr diese Mรคrchen lebte einst in Kassel: die Gastwirtstochter Dorothee Viehmann, die die beiden emsigen Forscher 1813 kennenlernten. Da war zwar die erste (noch einbรคndige) Ausgabe der von ihnen gesammelten Mรคrchen schon drauรen. Aber mit Dorothees Mรคrchen kam auch noch all das in die Sammlung, was seinen Ursprung tatsรคchlich in der franzรถsischen Mรคrchenwelt hat โ mitgebracht von den Hugenotten, die in Kassel einst herzlich aufgenommen wurden.
Hier mischen sich die Kulturen. Und hier sind die Mรคrchen zu Hause, auch weil Jakob und Wilhelm hier zur Schule gingen. Und weil das so ist, hat Kassel seit 2015 ein richtig mรคrchenhaftes Mรคrchenmuseum, die GRIMMWELT oben auf dem Weinberg. Wer Kinder hat, der muss hinfahren. Wer noch ein kindliches Gemรผt hat, ebenfalls. Und wer unsere Sprache liebt, ebenfalls, denn auch den Sprachforschern begegnet man. Selbst Gรผnter Grass hat ja ein ganzes Buch รผber das Wรถrterbuch der Grimms geschrieben. Denn Mรคrchen erzรคhlen kann man nur, wenn man seine Muttersprache gut kennt, alle ihre Schรถnheiten und Altertรผmer und Wurzeln tief drinnen im Born unserer Geschichte. Anfangs sollen die Kasseler gefremdelt haben mit der GRIMMWELT, aber nur kurz. Heute lieben sie das Haus genauso wie ihren Herkules und die ganze UNESCO-geschรผtze Wilhelmshรถhe mit der weltberรผhmten Kaskade.
Und dem Schloss Wilhelmshรถhe, das eigentlich unten liegt, am Fuร der Hรถhe. Residenzschloss des Kurfรผrsten, der so gern Kรถnig der Chatten geworden wรคre. Die es tatsรคchlich mal gab zu Tacitusโ Zeiten. Die lebten hier in diesen Tรคlern um die Fulda herum, die durch Kassel flieรt. Ein Kรถnig residierte hier tatsรคchlich auch einmal, der legendรคre Kรถnig Lustick, Napoleons Bruder Jerome, der hier mal fรผr ein Weilchen Kรถnig von Westfalen spielen durfte. Spรคter musste hier auch noch ein Kaiser zwangspausieren: Napoleon Nr. 3, der den Krieg gegen die Preuรen verloren hatte.
Was zwar im Bรผchlein steht, aber es braucht keinen zwangslogierenden Kaiser, wenn man zwei Grimms hat und eine Elisabeth Selbert, quasi die Mutter unseres Grundgesetzes, denn die Rechtsanwรคltin aus Kassel hat den Satz ins Grundgesetz schreiben lassen: โMรคnner und Frauen sind gleichberechtigt.โ
Das haben die meisten Mรคnner bis heute nicht kapiert. Nicht weil der Satz so schwer ist, sondern weil man das im Herzen begreifen muss. Und dazu hat man in Kassel viel Gelegenheit. Denn hier darf man schlendern und sich anstupsen lassen. Allรผberall stehen Kunst-Werke herum, die Strandgรผter der vielen โdocumentasโ, die mittlerweile in Kassel stattgefunden haben. Seit 1955, als der Maler Arnold Bode die naheliegende Ideee hatte, parallel zur Bundesgartenschau auch eine groรe Schau der modernen Kunst zu organisieren. Weil ihm klar war, dass das in Deutschland nach 1.000 Jahren germanischer Schinkenkultur notwendig war. Und am Ende wurde es durchschlagend und hat Kassel verรคndert. Die Kasseler wohl auch. Denn manches auf diesem Rundgang mit seinen eigentlich mehr als 34 Stationen erzรคhlt davon, mit welcher Offenheit die Bewohner der kleinen Groรstadt heute auch architektonisch Mutiges annehmen. Es taucht meist unverhofft auf neben Gebรคuden, die richtig alt aussehen, aber fast alle nach 1945 mit viel Feingefรผhl wieder aufgebaut wurden. Denn vor den Bombardements war Kassel eine bezaubernde Stadt. Manches davon wurde wieder aufgebaut. Anderes wurde umgewidmet, so wie der einstige Hauptbahnhof, der heute ein Kulturbahnhof ist mit eingebauter Karikaturen-Galerie.
Verweilen kรถnne man ja, so die beiden Autoren, auf der einst auch bei Filmregisseuren beliebten Treppenstraรe, wenn man sich den Hunger nicht gar fรผrs Ende der Tour auf der Wilhelmshรถhe aufhebt. Was gefรคhrlich werden kรถnnte, denn unterwegs lauern etliche Museen auf den Wanderer โ sogar die legendรคre Holzbibliothek des Carl Schildbach und der Goethe-Elefant, der nicht so heiรt, weil er in Goethes โElefant, Teil 1โ, vorkommt, sondern weil Goethe das fein prรคparierte Skelett besichtigte. 1783 war das. Nicht nur im Ottoneum und im Astronomisch-physikalischen Kabinett in der Orangerie begegnet man hier der Geschichte der Naturwissenschaft. Auch noch so nah beieinander: Mรคrchen und Wissenschaft. Aber dass es die Grimmschen Hausmรคrchen gab, war ja erst einmal ein wissenschaftliches Forschungsprojekt. Das vergisst man manchmal, wenn man die zuweilen kindischen Bearbeitungen fรผr dumme Kinder von heute in die Hand bekommt. In denen die besten Stellen und die nachdenklichsten Passagen fehlen.
Zu den Wissenschaftlern, die man hier trifft, gehรถrt auch Georg Forster โ Weltumsegler und Revolutionรคr. Aber das war dann schon in Mainz. In Kassel blieb man ganz kurfรผrstlich und spรคter erholte sich auch Kaiser Wilhelm Zwo in Kassel, wenn er genug hatte von seinen widerborstigen Berlinern. Womit der Rundgang beschlieรt. Es sei denn, man macht noch schnell einen Abstecher auf die Roseninsel, wo Jakob und Wilhelm das Mรคrchen von Schneeweiรchen und Rosenrot erfunden haben โฆ Quatsch, das ist jetzt ein Mรคrchen. Aber zumindest wissen wir jetzt: Ein Tag in Kassel ist nicht verschwendet. Nur die Fรผรe tun weh. Und der ICE nach Hause ist weg.
Christine Lang-Blieffert, Wolfgang Blieffert โKassel an einem Tagโ, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2017, 5 Euro
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