Ojemine, Flensburg! Wenn man den Namen hört, stellt man sich eine langweilige Stadt in Niedersachsen vor, irgendwo bei Wolfsburg, damit es die Autofahrer nicht so weit haben, um sich ihre Punkte abzuholen. Dabei liegt Flensburg ganz oben und ganz friedlich am Wasser der Flensburger Förde und dicht an der dänischen Grenze. Eigentlich ganz ruhig, wenn nicht gerade Werner durch die Straßen knattert.
Dabei kommt Werner erst ganz zum Schluss, etwa so, als wenn Leipziger Stadtrundgänge in Connewitz enden würden und Schweinevogel noch einen großen Auftritt bekäme. Das wäre was. Aber bestimmt ist der Stadtteilführer Connewitz ja in Arbeit. Immerhin ist es ein Mammutwerk, das da im Hause Lehmstedt entsteht: Stadt um Stadt wird in einem dieser handlichen „… an einem Tag“-Stadtführer porträtiert. Das zwingt die Autoren zur Konzentration, zum Wesentlichen an all den Orten, die nun Jahr für Jahr in der seit zehn Jahren laufenden Stadtführer-Reihe aufploppen. Anfangs sollte sie ja mal die Lücke füllen zwischen den eher kargen Angeboten für lesbare Stadtführer in den kleinen Städten der Republik, die trotzdem bei Touristen beliebt sind, und den großen Tourismus-Hochburgen, wo sich die Stadtführer-Titel aus dutzenden Verlagen stapeln.
Aber die Reihe ist so ausgereift und konzentriert, dass Mark Lehmstedt immer neue Landschaften mit aufnehmen kann und das Bild der als Reiseziele beliebten Städte im Land immerfort ergänzen kann.
Mit Flensburg wird die nächste Ostsee-Stadt vorgestellt, einst eine der größten Hafenstädte Europas mit reichen Handelshäusern, die sich im Westindien-Handel betätigten – auf dänischer Seite, wie der Leser erfährt. Denn lange Zeit hatten hier die dänischen Könige das Sagen. Erst der deutsch-dänische Krieg von 1864 änderte das und brachte Schleswig und Holstein endgültig zu Deutschland, auch wenn man sich gerade in Flensburg schon fast wie in Skandinavien fühlt. Es hat sich viel bewahrt aus dieser Zeit, als der dänische Westindienhandel über Flensburger Kontorhäuser lief und Rum zum erfolgreichsten Exportprodukt aus Flensburg wurde. Was er übrigens heute noch ist.
Wer nach Flensburg fährt, kann die Geschichte und die Produktion von Rum kennenlernen, lernt auch was über die legendären Butterfahrten, die erst ein Ende nahmen, als die Binnengrenzen der EU geöffnet wurden. Kaum ein junger Mensch kann sich heute noch vorstellen, was „zollfrei“ eigentlich bedeutet. Was ja die Tragik aller Freiheiten ist: Solange man sie hat, bemerkt man sie nicht. Zur Qual wird ihre Abwesenheit erst, wenn man sie nicht mehr hat und Zöllner einem bei jedem Grenzübertritt klarmachen, dass man eben kein EU-Bürger mehr ist, sondern ein mit Misstrauen beäugter Untertan.
Heine lesen, kann man nur empfehlen. Heinrich Mann sowieso, und vielleicht auch Theodor Storm, den Novellen-Dichter des Nordens, auch wenn er sich nach Flensburg eher nur thematisch mal verirrt hat und seine Heimat ein wenig südlicher liegt.
Was auch egal ist. Da die Flensburger mit viel Akribie ihre alte Stadt und die alten Abspann-, Handels- und Lagerhöfe sanieren, lernt man hier trotzdem eine schöne alte Handelsstadt kennen, die ihre Strukturen aus der Zeit der Lastensegler und Kauffahrerschiffe bewahrt hat. Manches davon museal und voll betriebsfähig im Hafen zu besichtigen und zu erleben. Fast neigt man dazu, die Tour gleich mit einer großen Hafenrundfahrt auf einem alten Salondampfer zu beginnen. Man hat ja Zeit und keine Kirche mahnt: Komm beten! Natürlich besucht Tomke Stiasny auch die alten und eindrucksvollen Backsteinkirchen der Stadt, aber man merkt, dass hier keine Bischöfe und Jesuiten versucht haben, dem Volke Frömmigkeit einzutrichtern. Vielleicht sorgt auch die Meeresnähe schon dafür, dass es nicht so muffig riecht und man immer das Gefühl hat, dass man stets Kontakt zur Welt da draußen hat. Rechts ab geht es eigentlich immer zum Hafen – und man kann sogar noch die alten Kapitänsquartiere, die Speicher und den Oluf-Samson-Gang besichtigen, wo sich einst die Mädchen tummelten, die den Seebären nach langer Fahrt wieder Freude machten.
Heute sind sie nicht mehr da, stellt Stiasny trocken fest. Flensburg ist nicht mehr der große Handelshafen. Alles wirkt ein wenig kleiner. Aber nicht weniger weltläufig. Denn eigentlich ist kein anderer Ort vorstellbar, an dem eine Beate Uhse ihre erfolgreiche Volksaufklärung hätte starten können. Das ist zwar bei vielen Leuten in lauter Sex-Spiele ausgeartet, aber nicht in wirklich freie Beziehungen zur Liebe. Aber was will man machen, wenn sich andernorts die Leute die Lederhosen noch mit der Kneifzange anziehen?
Dafür gibt es in all den liebevoll restaurierten Höfen von Flensburg lauter ruhige Freisitze. Da bekommt man schon beim Anschauen das Gefühl, dass sich hier gut klönen lässt, wenn die Sonne scheint. Und sollte doch mal stürmisches Seewetter herrschen, gibt es Museen für jeden, der sich langweilt – vom Kunstgewerbe bis zum Schifffahrtsmuseum. Unterwegs auch was für die ganze Familie: die Phänomenta. Allein für den Hafen und die Höfe lohnt sich hier ein Wochenende, das man auch noch hübsch ausweiten kann, denn Dänemark ist ja quasi gleich um die Ecke und zum Schloss Glücksburg ist es ein Katzensprung. Dass die hier heimischen Herzöge praktisch in jedes namhafte Königshaus Europas eingeheiratet haben, hat man zuvor ja schon erfahren. Vielleicht gab es ja eine Schiffsladung Rum als Brautgeschenk.
Aber da das nun auch vorbei ist und nur noch die bunten Gazetten interessiert, fragt sich der Laie: Und womit vertreiben sich die Flensburger so die Zeit?
Mit Handball natürlich. Bei den Nordderbys zwischen Flensburg-Handewitt und Kiel geht es hoch her. Handball ist hier, was anderswo der Fußball ist. Manchmal kommt dann nur eine recht auffällige Comic-Figur dazwischen, die hier zu ihrer großen Karriere gestartet ist: Werner, den Brösel von Flensburg aus auf die Tour schickte. Und natürlich lebt Werner von einem Ur-Flensburger Getränk – freilich nicht Rum. Aber Flensburger Pilsener ist auch ein guter Treibstoff für Abenteuer, bei denen man nicht erst die Anstandsparagraphen der Heiligen Josepha unterschreiben muss.
Tomke Stiasny Flensburg an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2017, 5 Euro.
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