Vielleicht sollte man, wenn man zu viel grübelt, lieber doch kein Autor werden? Oder gehört das viele Grübeln notwendig dazu, weil einem sonst niemand abnimmt, dass man sich wirklich ernsthaft mit dieser Welt beschäftigt? Uli Hannemann ist so etwas wie der Moll-Ton in der Lesebühne LSD, „Liebe statt Drogen“. Neben eher quietschfidelen Herren namens Strübing, Tube oder Spider.

Über die Welt denken sie alle nach. Jeder auf seine Weise. Aber Hannemann ist der Knabe, der dabei nicht lächelt, auch keine Späße macht, sondern ganz ernsthaft die Dinge immer weiterdenkt im Kopf. Phantasiegeplagte Kinder kennen das. Mitten im Gehen und Nachdenken reicht ein einziger Anreger – ein Bagger zum Beispiel auf einem Kahn – und im Kopf geht eine ganze Spule los und es malt sich aus, wie das eigentlich enden könnte. Bremsen gibt es nicht. Man wird regelrecht hineingezogen in die Geschichte, von der man eigentlich gleich zu Anfang schon weiß, dass hier eigentlich irgendetwas falsch läuft.

Wer jetzt sagt, das könne ihm nicht passieren, der läuft augenscheinlich wirklich mit Kartoffeln vor den Augen durchs Leben. Oder hat da oben keine Denkmaschine im Kopf, sondern eher eine abgewischte Tafel. Denn das Leben besteht aus solchen kleinen, beängstigenden Was-wäre-wenns: Wenn einen eine wildfremde Frau im Schwimmbad zum Beispiel bittet, auf ihre Tasche aufzupassen – und dann kommt sie nicht wieder. Oder wenn man auf La Palma landet, mitten in fieser Jahresszeit, beneidet von den Daheimgebliebenen – und das Wetter auf La Palma ist noch fürchterlicher als daheim? Oder wenn man als Jogger im Wald unterwegs ist, in einem Wald, in dem die tollen Hechte von der Jägerzunft regelmäßig unterwegs sind? Was, wenn sie den Jogger prinzipiell mit einem Wildschwein verwechseln? Zugeben, dass sie beim Waldgeballer irgendwas falsch machen, werden die ja nicht. Und was, wenn das eigentlich aus Jägersicht normal ist? Oder wie ist das mit dem Sonntagsfrühstück, wenn die große Stadt endlich mal ruhig ist? Zumindest, bis das erste Rettungsfahrzeug mit Sirene durch die Straße prescht, weil sonntags die ganzen alten Leute den Notarzt rufen?

Da können einem schon Gedanken kommen. Und Hannemann kommen Gedanken, fiese und fürchterliche. Aber zumeist eben auch sehr fatalistische. Denn neben der rücksichtsvollen Welt des emsig schreibenden Autors gibt es da draußen noch eine Welt, die auf gar nichts Rücksicht nimmt und wo jeder so vor sich hinlebt, als gäbe es rechts und links keine Animositäten.

Nicht nur Bühnenautoren kennen das ja: „Manchmal habe ich das Bedürfnis, so zu tun, als wäre ich ein ganz normaler Mensch. Mit Freunden, Bekannten, einem erfüllten Leben, echten Gefühlen außer Hass und Raserei und sogar einer Beziehung.“

Mal abgesehen von der Beziehung, die er ja doch in einigen der in diesem Band versammelten Geschichten hat: Mit der Raserei im Kopf ist er ja nicht allein. Nur gibt es keine Instanz, an die man sich in dieser Welt wenden könnte, um den Irrsinn da draußen quasi per Anruf zu beenden. Die rasenden Fahrer weißer Lieferfahrzeuge zum Beispiel, die auch dann noch über die Kreuzung brettern, wenn die Fußgänger schon Grün haben. Na gut: Einer wie Hannemann kann sich zumindest in den getriebenen Fahrer hineinversetzen, sich ausmalen, wie einer nach vielen Semestern emsigen Studiums dann doch nur als Fahrer in so einem Lieferdienst landet.

Diese selbsttätig sich anknipsende Phantasie ist eigentlich ganz nützlich. Man kann sich in alle möglichen irren Situationen hineinfühlen und vielleicht sogar die Irren in diesen Situationen verstehen.

Aber man rutscht auch in irre Geschichten, die man eigentlich gar nicht im Kopf haben will. Wie in „Die Märchenbande“, wo es um ganz gemeine Babys geht, die sich zu fürchterlichen Missetaten zusammenrotten. Würden. Wenn sie schon tun könnten, was sie sich in ihren kleinen Köpfen ausmalen.
Man kann sich schon ganz gut vorstellen, dass Hannemann eine Menge solcher Situationen erlebt auf der Bühne, in denen es keine Lacher aus dem Publikum gibt und auch keinen Beifall. Nur dieses Schweigen, bei dem man nicht recht weiß: Sind die Leute jetzt verwirrt, sprachlos oder selbst in eine dieser Denkschleifen geraten, aus denen man nur mit Mühe wieder herauskommt, wenn man den Kopf kräftig schüttelt und mit aller Macht die Augen aufreißt?

Auch wenn man genau weiß, dass das Entsetzliche tatsächlich geschieht. In Berlin hat das ja schon diverse Namen, die immer wieder mediales Aufsehen erregen – Gentrifizierung zum Beispiel, was eben nun einmal auch für erfolgreiche Bühnenautoren heißt, dass sie meist umziehen müssen, weil die Mieten eher schwäbischen Verdienstverhältnissen angepasst werden. Oder die Geschichten über die Beschwerden über renitente Touristen sind ja auch nicht so weit hergeholt. Wenn man als Ureinwohner eines dieser zur neuen „Destination“ erklärten Gebiete auf einmal belehrt wird, wie rücksichtslos man sich laut Reiseführer in Berlin benehmen muss, dann weicht das Erstaunen ziemlich schnell dem Entsetzen.

Dem man nicht entweichen kann, schon gar nicht durch Flucht in die täglichen Nachrichten, die eigentlich noch viel dichter von menschlicher Dummheit erzählen – sei es das Gepöbel über den deutschen Sprachverfall („Die Sprache ist voll“) oder die Umtriebe losgelassener Pöbler auf allen Kanälen („Es wird einen Scheißsturm geben“). Wobei sich Hannemann tatsächlich auf den Weg macht, einen echten Troll zu fangen. Seine Phantasie kann gar nicht anders. Genauso, wie er zu Ende denkt, was wohl passieren würde, wenn man die Hooligans aus der Berliner Fußballszene einfach mal umlenken würde – zum Beispiel auf Rhythmische Sportgymnastik. Und was würde aus dem Catwalk der Tussi-Gemeinschaft werden, wenn der nun auf einmal ins Heimstadion einer verrufenen Kickermannschaft verlegt würde?

Oder wenn ein gewisser Hitler vielleicht gar mit Katzenkrimis Erfolg gehabt hätte wie ein heute bekannter Zeitgenosse? Hätte es dann keinen Krieg gegeben? Dafür einen berühmten Katzenkrimiautor, der auch heute noch seine Leserinnen mit Katzenkrimis beglücken würde?

Und das geht so fort – Kurzgeschichte um Kurzgeschichte, jede ein Ausflug, in dem ein Gedanke den nächsten nach sich zieht. Und zumeist wird es ziemlich ungemütlich, verstörend oder sogar unheimlich. Auch weil der Bursche wetter- und jahreszeitenfühlig ist. Was nicht bedeutet, dass er bei Sonnenschein und 27 Grad auf fröhlichere Gedanken kommt. Eher auf noch gemeinere. Denn was ist das eigentlich für ein Paradies, in dem die Tiere, wie sie da sind, alle glücklich nebeneinander leben, immerfort guter Laune sind und ab und zu ein nettes Fräulein durchkommt, um neue Pillen auszuteilen? Auch für das nicht ganz so glückliche Bärchen?

Man merkt: Dieser Hannemann hat schon viele Geschichten immer weiter gedacht und war am Ende mehr als nur verwundert, wenn er gemerkt hat, wo er dann rausgekommen ist. Was verträumte Kinder zwar kennen. Aber den Meisten wird das ja ausgetrieben: „Träumst du schon wieder!“

Es gibt eine Menge Erwachsene, die halten das Nicht-mehr-Träumen und Nicht-mehr-Nachdenken für Erwachsensein. Und weil sie merken, dass diese Dinge irgendetwas Subversives an sich haben, reagieren sie darauf, wenn sie es merken, mit entsprechender Aggression. Auch die hinten im Hinterhaus, von denen sich Uli Hannemann im Vorderhaus auch so sein Bild macht. Denn Armut bedeutet ja in deutschen Landen nicht unbedingt, dass diese Leute alle Dichter sind. Dafür sind sie das Publikum all jener Fernsehshows, in denen eine von Hannemanns Geschichten landet – und dabei die gedankenlose Perfidie der ach so menschenfreundlichen Fernsehmacher aufs Korn nimmt. Denn kaum ein Medium zeigt so deutlich die Kluft zwischen Schein und Sein wie dieses. Doch in diesem Schein passiert unsere Gegenwart. In der Regel ohne dieses Versponnensein, das Hannemanns Geschichten manchmal do düster macht.

Man möchte ihm glattweg einen Espresso spendieren oder ihn mit in Strübings Kneipe schleppen: Nun werdet doch mal wieder lustig.

Aber manche Satire ist ganz weit weg von Lustigsein. Und trifft doch genau ins Wunde, zerrt die unansehnliche Wäsche der Mitbürgerschaft ins Licht und fragt sich dabei: Was wird das mal?

In der Regel wird es etwas Fürchterliches. Aber das merken die Leute, die sich nicht ausmalen können, was aus den Dingen mal werden könnte, nicht. Die leben vor sich hin, smalltalken alle Zeit und rasen auch bei Rot über die Kreuzung, wo einer wie Hannemann schon mit Sicherheitsabstand an der Kante steht und vor allem auf rasende weiße Lieferwagen achtet. Und wie sich das anfühlt, wenn da immer einer denkt im Kopf, schildert er in der Story mit Nadine („Friseurbesuch“), denn die Kleine ist seine Friseuse, viel, viel jünger als der nun in Ehren schon ergraute Bühnenautor, der nun langsam auch schon lauter Alte-Männer-Komplexe kriegt. Aber wie so ein Leben mit der hübschen Nadine aussehen könnte, das kann er sich beim Friseurbesuch schon gut ausmalen, auch wenn das Ende ein ganz anderes ist, als es sich andere Zauseln so ausdenken würden. Wobei ihm schon zu denken geben müsste, dass Nadine in der Weihnachtszeit immer komplett ausgebucht ist.

Merke: Verliebe dich nie in deine Friseuse. Was einen am Schluss noch daran erinnert, dass wir die im Titel erwähnte Traumfrau gar nicht kennengelernt haben, dafür einen Wunschnachbarn, wie man ihn im hartgesottenen Berlin wohl wirklich lange suchen kann.

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