In alle Himmelsrichtungen sind die Autorinnen und Autoren der kleinen Lehmstedt-Stadtführer ausgeschwärmt und entdecken dabei Städte und Städtchen, im Grunde ein ganzes buntes Deutschland, das man in der großen Überschau gar nicht mehr sieht. Haben Sie schon einmal alle Hansestädte besucht? Bis zu 200 sollen es mal gewesen sein. Dazu gehörte bis 1601 auch Stade. Da wurde es „verhanst“. Reisen bildet, wie man sieht.

Und dass Städte aus der Hanse ausgeschlossen wurden, weil ihre Handelspolitik der Konkurrenz nicht passte, das ist durchaus bedenkenswert. Auch die frühe Neuzeit kannte ihre Handelskriege, ihre Abschottungen und Miesepetrigkeiten. In diesem Fall war es Konkurrent Hamburg, der die Stader lieber vom Markt fegen wollte. Von dem sie eigentlich weg waren. Hamburg war schon auf dem Siegerweg. Woran auch die Elbe nicht ganz unschuldig war, deren Lauf verlegt wurde. Die Schwinge, jener Meeresarm, an dem Stade liegt, versandete. Der Hafen wurde von immer mehr Kauffahrern gemieden. Die Zeit des Stader Reichtums war vorbei. Also versuchten die Stader, im Tuchhandel mit England einen Fuß in die Tür zu bekommen, luden die Merchant Adventurers ein, sich niederzulassen. Was die Hamburger krumm nahmen.

Aber wer sehen möchte, wie eine ordentliche Hansestadt damals aussah, der fährt nicht nach Hamburg, sondern nach Stade. Denn Stade hat seinen alten Hansehafen noch. Da marschiert Kristina Kogel auf ihrem Stadtrundgang los und freut sich gleich, dass die Stader in den 1960er Jahren noch einmal die Kurve kriegten und den alten Hafen nicht zuschütteten. Die Stadtväter wollten doch tatsächlich einen Parkplatz draus machen. Stadtväter tun zwar gern klug, sind es aber selten.

Die Weisheit liegt meist in den Herzen einiger Bürger, die nicht nur an ihrer Stadt und der einmaligen Häuserlandschaft hängen, die sich im Hafenbecken spiegelt, sondern auch so ein dummes Gefühl haben, dass an scheinbar so nutzlosen Dingen alles hängt – die Einmaligkeit der Stadt, das Lebensgefühl, die Identifikation der Bürger und die kleinen Jubelschreie der Touristen. Die dann dastehen, die ganze Speicherkarte vollknipsen und immerfort ausrufen: „Ach, ist das schön hier.“

Die Schönheit deutscher Städte ist historisch gewachsen. Sie erzählt nicht von der Eitelkeit moderner Architekten, sondern von bürgerlicher Zeichensetzung: Man zeigte, was man war und hatte. Das Äußere erzählt vom Inneren. Stadtführer nennen es manchmal Bürgerstolz. Der nicht entsteht, weil einer mit Konto und fettem Auto protzt, sondern weil diese Bürger auf das verweisen konnten, was sie geleistet haben. Durch Fleiß und Unternehmenslust. Das ist in deutschen Städten so gut wie verloren gegangen, weshalb sie in der heutigen Politik so eine verdammt schlechte Lobby haben.

Und dann fährt man da hin, in diese kleineren Städte, und merkt sofort, wie diese bunten Häuserfronten miteinander korrespondieren, wie man hier nach außen signalisiert, dass man zu handeln versteht, und nach innen, wer die Macht hat im Ort. Und da heute kaum noch Bürgermeister, Senatoren und Großkaufleute in diesen so typisch niedersächsischen Bauten mit ihrem Fachwerk, den überkragenden Geschossen und dem reichverzierten Balkenwerk sitzen, kann man es als Reisender besichtigen. Denn manchmal ist die alte Kaufmannsdiele zum Ladengeschäft umgenutzt worden und man darf sich wie in den „Buddenbrooks“ fühlen, wenn man durchs Torweg tritt, auch wenn die natürlich in einer anderen Hanse-Stadt spielen.

Womit man schon mal weiß: Thomas Mann war nicht hier. (Goethe übrigens auch nicht.) Hätte aber sein können. Der Hafen ist da, die Schiffe, die alten Kontorhäuser, die Zollsperre am Baumhaus und der Schwedenspeicher, den die erwähnten Stadtväter auch schon abreißen wollten. Die Stader Bürger haben es zum Glück verhindert, deswegen kann man hier jetzt 1.000 Jahre Geschichte bestaunen. So ungefähr. Und stolpert über einen Namen, der Obersachsen etwas sagt: Königsmarck. Nicht wegen des einem Mordkomplott zum Opfer gefallenen Philipp Christoph von Königsmarck, sondern wegen Maria Aurora von Königsmarck, Enkelin jenes Hans Christoph von Königsmarck, der 1630 in schwedische Dienste trat und in Stade dann als schwedischer Gouverneur residierte. Die „Schwedenzeit“ dauerte in Stade deutlich länger als in Leipzig – bis 1712.

Und was ist mit Aurora? Die wurde in Stade geboren und wurde die erste Mätresse von August dem Starken. Ganz offiziell und weit vor der Cosel. Ihren Sohn nannte sie Moritz und der wurde zu einem der berühmtesten Heerführer Europas – im Dienste Frankreichs: Moritz von Sachsen.

Manchmal fängt große Geschichte in einem kleinen Ort wie Stade an. Oder findet dort auch statt. Denn ein Wikingerüberfall von 994 wurde von niemand anderem schriftlich festgehalten als von einem gewissen Thietmar von Merseburg, der seine Karriere eigentlich mal als Austauschgeisel in Stade beginnen sollte.

Und dabei versucht Kristina Kogel doch den Neugierigen wieder in alle möglichen Kirchen zu schleppen. Es ist kaum zu glauben. Man wird ständig abgelenkt. Und das lohnt sich in Stade. Man sollte in kleine Gassen schlüpfen, Mutter Flint mit dem Stint über die Schulter schauen, den (nachgebauten) Holzkran bewundern und das versteckte Rathaus, das wie so Vieles an die Schwedenzeit erinnert. Und während Kristina Kogel wieder auf einen Kirchturm klettert (diesmal den der Stadtkirche St. Cosmae et Damiani) kann man weiterflitzen zum Zeughaus, in dessen Tiefen tatsächlich eine echte Bischofsgruft zu finden ist. Oder über den Burggraben hinüber auf die Museumsinsel. Auch so etwas Typisches für den Norden: Dort hat man schon vor Jahrzehnten angefangen, typische alte Bauern- und Fischerhäuser in Freilichtmuseen zu verfrachten, um sie zu erhalten. Und wer Überraschungen liebt, trifft hier den Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg, der als Forscher genauso berühmt war wie als Freund der kurzen Geistesblitze.

Und wo wir schon mal bei den klugen Leuten sind: Man trifft hier auch einen gewissen Carl Diercke, Direktor des königlichen Lehrerseminars in Stade, der sich Gedanken darüber machte, wie man Kindern die Welt in gut gezeichneten Karten erklären kann. Ergebnis war 1883 der erste Diercke-Atlas. Der Name begleitet Schüler bis heute. Mit Diercke lernen sie Karten zu lesen, wie sie auch die handlichen Stadtführer von Lehmstedt im aufklappbaren Umschlag enthalten. Hübsch mit eingemalter Wanderroute und durchnummerierten Stationen. Ob man sich freilich pünktlich an der letzten Station an der Salztorschleuse trifft, hängt davon ab, wie lange Frau Kogel auf dem Kirchturm die schöne Aussicht genießen möchte und wie oft man unterwegs in den vielen gemütlichen Straßencafés hängen bleibt. Denn da die Stader ihren schönen Hansehafen nicht zugeschüttet haben, gehört die alte Stadt eben nicht den ach so modernen Autos, sondern den Schlenderern, Spazierern und Guckindielufts. Denn oben gibt es immer was zu sehen. Aber das weiß ja jeder, der schon mal durch solche niedersächsischen Städtchen spaziert ist.

Kristina Kogel Stade an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2017, 5 Euro.

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