Was lotet diese junge Dame da eigentlich aus? Der Titel verspricht eine Menge. Und die erste Geschichte in diesem Band heißt auch so und taucht auch hinab in jene jungen Jahre, in denen geistig wache Menschen meist mitkriegen, dass sie ganz gut sind im Erfinden, Schwindeln und Geschichtenerzählen. Durchaus mit kriminellem Potenzial. Autoren, die das nicht schaffen, haben ihr Metier nicht verstanden.

Studiert hat Luise Boege unter anderem auch am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Bei Reinecke & Voss hat sie auch ihren ersten Roman, „Kaspers Freundin“ vorgelegt, der ganz ähnlich ambitioniert mit Genres spielt und in einer Grenzwelt zu spielen scheint, sehr einsam, fast kafkaesk. Aber auch sehr distanziert. Als vermiede es die Autorin, mit ihren Figuren allzu viel zu tun zu haben, bliebe lieber auf zurückgezogenem Beobachterposten, von dem aus sich das Geschehen auch ein wenig schnippisch und sarkastisch kommentieren lässt.

Was an die Schreibexperimente von Autoren wie Meyrink, Kubin, aber auch Kafka erinnert – als würden die Helden der Geschichten all das, was ihnen passiert, wie durch eine Glasscheibe erleben, irgendwie Objekt des Geschehens, innerlich aber völlig distanziert, befremdet, eher in Verwirrung gestürzt darüber, dass ausgerechnet ihnen das nun passiert. Was um 1900 auch eine literarische Entdeckung war. Denn erstmals beschäftigten sich Autoren so ernsthaft mit dem Erzähler-Ich und den Verunsicherungen, die ein gewisser Herr Freud in die Zeit gebracht hat. Denn wenn man die steile These des auch damals schon lang verstorbenen Herrn Dr. Marx von der Entfremdung weiter denkt und immer weiter, dann begegnet man ziemlich folgerichtig Menschen, die sich nicht mehr als Herr und Held ihres eigenen Lebens begreifen, eher als Konsumenten. Was natürlich für Verstörungen sorgt, denn damit hört auch der klassische Held auf, die Fäden seines Daseins selbst zu knüpfen, selbst zu entscheiden, wohin er reitet, sondern sehr verführbar zu sein und ganz und gar nicht mehr Herr seiner selbst. Man denke an Thomas Manns „Zauberer“. Aber „Tod in Venedig“ ist auch nicht besser.

Seitdem leben wir in ziemlich verstörten Zeiten, auch wenn es genug literarische Ansätze gibt, diese Ent-Machtung des Helden wieder aufzuheben, den Menschen in den Geschichten wieder zum Herrn des eigenen Handelns zu machen. Aber wenn man dabei tatsächlich versuchte, die reale Welt der Moderne aufzunehmen, landete man fast zwangsläufig in ähnlich minimalistischen Welten wie in den Kurzgeschichten eines Raymond Carver.

Und Manches in Luise Boeges Kurztexten tendiert da hin, auch wenn ihre Szenerie noch reduzierter ist, noch spröder und distanzierter. Wenn man dem Covertext glauben darf, fand „Das Magazin“ das „lustig“. Es ist aber nicht lustig, sondern verstörend. Auch dann, wenn man zugesteht, dass Luise Boege nicht die Heldin dieser Geschichten ist, auch wenn eine eindeutig Luise heißt und mit einer Schwindelgeschichte für heftige Irritationen in der Nachbarschaft sorgt. Just der letzten in dieser Sammlung ihrer Kurzgeschichten aus den letzten Jahren: „Ich bin Luise“. Es ist eine Geschichte, in der die Erzählerin mehrfach betont, dass sie nicht zu Ende erzählen wird – was genau so auch passiert.

Was aber auch keine Überraschung mehr ist für den Leser, der dieser Heldin ja nun in verschiedenen Verwandlungen durch ein ganzes Dutzend Geschichten gefolgt ist, die alle von dieser Distanz erzählen, diesem gebrochenen Selbst-Verständnis, das vom modernen Zwiespalt erzählt: Was eine ist für die Welt, ist nicht ihr Ich. Sie ist nicht deckungsgleich mit dem Wesen, dem die Dinge geschehen, ist eher verwundert, verstört und aus der Rolle der Handelnden gestoßen – so wie in „Spucken oder der logische Satz“ oder „Fremde Autoritäten“: Wenn die Definition dessen, was man ist oder sein soll, nicht mehr bei einem selbst liegt, dann gewinnen andere Leute auf einmal Deutungs- und Handlungsmacht.

Obwohl das alles nur ganz kleine Geschichten sind aus einem fast schon intimen Milieu, erzählen sie von den großen Befremdungen der Zeit, dem Ausgesetztsein in den Deutungsmustern anderer Leute. Oder eben selbsternannte Autoritäten. Luise Boege erwähnt ihre Generation zwar als eine besonders anspruchsvolle und irgendwie renitente. Aber diese Renitenz läuft ins Leere, denn wenn die Heldin die Mit-Menschen einmal in ihre Nähe lässt, schafft sie es dennoch nicht, die emotionale Distanz zu überwinden, duldet tatsächlich einen völlig kalten Frosch eine Nacht lang an ihrer Seite und macht sich in Gedanken einen Spaß daraus, über die Introvertiertheit und Unfähigkeit zur wirklich persönlichen Begegnung nachzudenken, die diesen Burschen eigentlich unerträglich macht.

So eine Mitwelt kann man augenscheinlich nur mit einer Menge innerer Schnippigkeit ertragen.

Was das eigene Dilemma nicht auflöst: Wie kommt die Heldin selbst aus ihrer Haut und ihrer Beobachterrolle? Und damit aus diesem Zustand des Ausgeliefertseins, was ihr ja der etwas aufdringliche Künstler in „Spucken oder der logische Satz“ aufzeigt, der zum Glück kein Mörder oder Sadist ist, nur ein ebenso irritierter Bewohner des 21. Jahrhunderts, der sein Verlorensein in die Pose des Künstlers verwandelt hat.

Zum Teil wird das dann tatsächlich kafkaesk, etwa wenn die Erzählerin in „Die Obduktion“ tatsächlich in eine öffentlich zelebrierte Obduktion gerät, aufgemacht wie eine billige Show. Eine jener grellen Shows, die wir schon fast als normal empfinden in einer Zeit, in der alle möglichen Leute überhaupt keine Scham mehr zu kennen scheinen, das Innerste zu entblößen und öffentlich auszustellen. Was den, der zufällig in so eine Zurschaustellung gerät, in einen verwirrenden Zwiespalt stürzt, denn damit wird die Falschheit (die Lüge) der Gegenwart ja offenkundig, die sich als Schamlosigkeit verkleidet, aber in Wirklichkeit die Beteiligten entweder zum Schau-Objekt degradiert oder zum Zuschauer macht. Auch zum Zuschauer all der Dinge, die geschehen. Die aber sichtlich nichts mehr mit dem eigenen Leben zu tun haben.

Dafür passiert das eigene Leben nicht mehr. Denn wenn alles Intime dermaßen zur Schau gestellt wird, wird es zur Ware. Es hört auf, Teil unseres Lebens zu sein. Und es wird immer unmöglicher, einander nahe zu kommen und zu berühren.

Eine Welt-Sicht, die sich in Sätzen wiederfindet wie diesem: „Es ist ein Mund am Freund dran, mit dem er spricht. Der Freund schätzt an mir, so sagt er, das Konzept.“ So bleibt man auf Distanz und lässt Unvorhergesehenes lieber gar nicht erst geschehen. Und da auch der Andere sichtlich nicht das ist, was er sagt, ist die Distanz doppelt so groß. Und die Einsamkeit umso mehr. Denn das Reden haben ja die „fremden Autoritäten“ übernommen, die über alle Netze schon verbreiten, was „cool“ ist und was nicht. Da bleibt eigentlich kein Platz zum Bei-sich-sein und Ganz-da-sein, weil das augenscheinlich nicht mehr vorgesehen ist in einer Welt, in der vor allem das Äußere zählt und das gekonnte Ausüben vorgegebener Rollen.

Logisch, dass es da ab und zu auch etwas blutiger zugeht und die Heldin zum Teppichmesser greift und den Zuschauern ihres finalen Abgangs zuruft: „Nehmt meine Organe, es ist Gutes dabei, und geht.“

Da steht man (auch wenn Luise Boege das nicht schreibt) in Gedanken direkt vor einem dieser unverfrorenen Plakate, die die Passanten zur Organspende aufrufen. „Es ist Gutes dabei!“ Was aber unsere völlig außer sich geratene Zeit augenscheinlich auf den Punkt bringt: Als Organlieferanten sind wir gewollt, als Menschen mit ihrem Bedürfnis nach Nähe und Vertrauen aber nicht. Kaum eine Plakatkampagne hat das je so treffend auf den Punkt gebracht.

Nur dass es, wenn man es so mit den Augen einer eigentlich sehr ironischen Autorin betrachtet, ziemlich beklemmend ist. Auch irgendwie abstoßend. Eben wie eine öffentliche Obduktion, in der der Leib der Sezierten ausgeweidet wird wie ein alter Schuhkarton.

Luise Boege Bild von der Lüge, Reinecke & Voß, Leipzig 2017, 13 Euro.

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