Das Jahr der Jahre ist heran – 2017, der Höhepunkt in der Luther-Dekade, Jubiläum des Thesenanschlags. Und überall in Lutherland laufen ältere Herren in schwarzen Talaren herum und geben begeisterten Touristen ein Gefühl von 1517. Lauter Luthers überall. Auch auf dem Lutherweg, den es als Extra-Route seit 2015 auch in Sachsen gibt. Man kann ihn mit touristischem Heißhunger bereisen.
Er ist 550 Kilometer lang. Das glaubt man erst nicht, wenn man ihn so auf der Karte als gefällige Schleife sieht, die sich von Bad Düben im Norden hinunterschlängelt bis nach Zwickau, um dann wieder hinaufzueilen nach Leipzig und Löbnitz. 27 Städte an einer Route, mit der man so nebenbei das Sächsische Burgen- und Heideland kennenlernt. Das immer im Schatten der großen Stadt Leipzig lag und bis heute liegt. Was nicht an diesem geschichtsreichen Hinterland liegt, sondern an den Irrungen und Verwirrungen der sächsischen Tourismusvermarktung. Die ist innerhalb des Freistaats so kleinteilig und provinziell, wie sie es auf mitteldeutscher Ebene auch ist. Es gibt keine Klammer, keine Großerzählung, kein übergreifendes Geschichtsverständnis.
Und nicht einmal all die Aktivitäten rund um das Reformationsjubiläum haben daran etwas geändert. Nur die vielen Publikationen zum Reformationsjubiläum zeigen, wie dicht verflochten diese Region über die Jahrhunderte immer war – und unter den Wettinern, die hier 800 Jahre lang herrschten, erst recht. Was es auch den beiden Autoren dieses Büchleins nicht immer ganz einfach macht. Denn einerseits können sie mit Recht von Sachsen als Kernland der Reformation erzählen. Aber eigentlich war es ja das ernestinische Sachsen, wo Luther wirkte – mit Wittenberg, Torgau und Wartburg. Dort, wo Friedrich der Weise regierte. Während Leipzig ja bekanntlich im albertinischen Teil lag. Und hier regierte Georg, den die Geschichte am Ende nur noch den Bärtigen nannte und den die beiden Autoren immer wieder als „Gegner der Reformation“ bezeichnen. Was er ja auch war.
Aber gerade in jenem kulturreichen Gebiet östlich von Leipzig waren die Fronten zur Lutherzeit nicht so eindeutig, denn gerade hier hatten die Ernestiner Besitzungen, lagen die Grenzen zwischen reformiertem Kursachsen und dem Herzogtum Georgs dicht beieinander. Oft mussten die Bürger nur wenige Kilometer zu Fuß gehen, um reformierte Prediger erleben zu können. Zuweilen trieben eigenwillige Personen wie Elisabeth von Sachsen in ihrem Witwensitz die Reformation auch gegen Georgs Widerstand voran.
Das sächsische Burgen- und Heideland ist tatsächlich waschechtes Lutherland und gehört ganz natürlich in den Verbund der drei Lutherwege mit dem in Sachsen-Anhalt und dem in Thüringen. Einige Stationen sind aufs Engste mit Luther selbst verbunden und sind gar nicht wegzudenken, wenn man die Lutherzeit erkunden will: Torgau, Grimma und Leipzig gehören zwingend dazu. Es lag also auf der Hand, auch in Sachsen einen eigenen Lutherweg zu schaffen, der im Norden an den in Sachsen-Anhalt anschließt und im Süden an den in Thüringen. Die Frage war eher: Welche Stationen kommen noch dazu?
Scheinbar heißt die Antwort: na ja, lauter Städte eben, in denen die Reformation früh Fuß fasste und bedeutende Persönlichkeiten die Sache vorantrieben. Aber wer auf dem Lutherweg unterwegs ist, der merkt schnell: Hier sind die Perlen der Region versammelt. Man erlebt die schönsten Burgen und Marktplätze der Region. Und da fast überall ein gut Teil Renaissance erhalten und liebevoll restauriert ist, kann man mit viel Phantasie tatsächlich die Lutherzeit erleben. Man trifft auf stolze Bürgerhäuser, alte Klosteranlagen, jede Menge Kirchen und Luther-Denkmäler. Und man darf die Burgen und Schlösser nicht auslassen. Denn fast alle wurden in der Lutherzeit um- und ausgebaut. Alle Welt schaut jetzt immerfort auf diesen einen Luther und sieht die Kirchenreformation.
Als die Lutherdekade organisiert wurde, war den Veranstaltern zumindest bewusst, dass es mit Luther auch eine Reformation in der Bildung, der Malerei und der Politik gab. Das mit der Wirtschaft hat man ausgeklammert, obwohl jede einzelne Reformationsgeschichte in jeder einzelnen Stadt davon erzählt, dass es das städtische Bürgertum war, das die Sache vorantrieb. Unter anderem war es ja auch eine gewaltige Sozialreform. Eine der Geistesgeschichte ebenfalls.
Deshalb kann man das ganze Angestinke heutiger Kritiker gegen den ach so finsteren Luther nicht wirklich verstehen. Aus heutiger Sicht ein „ungenügend“ für den Burschen, der sich mit dem Weg aus seinem eigenen Entsetzen so quälte?
Man möchte fast grob und lutherisch deutlich werden. Denn so wie dem Mönch aus Erfurt und Wittenberg ging es damals Vielen. Es war ein Zeitenbruch, der sich schon lange angekündigt hatte. Letztlich war es der Befreiungsakt, der das von Pfaffen in Angst versetze Land endlich aus mittelalterlicher Erstarrung löste. Das luthersche Bekenntnis wirkte nicht, weil es eine neue Art Gläubigkeit hervorbrachte, sondern weil es von den Betroffenen als ein Schritt in eine viel größere Mündigkeit begriffen wurde. Selbst der strenggläubige Georg wusste, dass es mit dem alten Kirchensystem nicht mehr zu machen war. Auch er wollte reformieren – aber dieser Luther ging ihm zu weit. Weil Luther menschliche Denkfreiheiten wollte, die Georg nicht zu gewähren bereit war. Da war der weise Friedrich schon weiter.
Also kann man auch auf dieser von Bernd Görne und Andreas Schmidt bereisten Route sehr genau drauf achten, was sie neben all den Kirchen noch zu bieten hat. Auch wenn die Macher des sächsischen Lutherweges das Spirituelle in den Mittelpunkt gerückt haben. Was natürlich 2011, als man mit der Installierung des Lutherweges zwischen Bad Düben und Torgau begann, genauso wichtig war wie heute im genauso hektischen Jahr 2017. Wir kehren viel zu selten ein, halten viel zu selten inne, besinnen uns viel zu wenig. Dafür bietet der Weg natürlich jede Menge Gelegenheit. Außer, man fährt alles mit dem Auto, was man auch tun kann. Aber dann wird es wieder nur ein hektisches Hopping zwischen Attraktionen.
Zum Wandern sind die 550 Kilometer recht lang. Aber selbst das passt in einen richtigen Urlaub. Vor allem, weil es zwischen den 27 Stationen jede Menge Landschaft zu sehen gibt – und zwar nicht die hässlichste, wie die vielen Bilder in diesem handlichen Buch zeigen. Karten sind auch drin. Man kann sich also nicht verlaufen. Tipps zu Unterkünften bekommt man bei den Touristinformationen, die bei jeder der 27 Stationen gleich ganz zu Anfang stehen. Da bekommt man auch den beliebten Lutherweg-Wanderstempel. Echte Wanderfreunde kennen das ja. Auch wenn dieser blühende Landstrich östlich von Leipzig für Wanderer oft erst wiederzuentdecken ist. Und darum ging es ja dem Tourismusverein Sächsisches Burgen- und Heideland im Grunde, als man sich in die Gestaltung des sächsischen Lutherweges vertiefte. Dieses Stück Land geht im Schatten der beiden sächsischen Metropolen und der Weihnachts-Wunderland-Vermarktung in Sachsen regelrecht unter. Als wäre es gar nicht da. Selbst für die Leipziger nicht.
Jede einzelne Station lohnt sich, wieder ins Bewusstsein der Wanderfreunde zurückgeholt zu werden – vom Schildbürger-Gneisenau-Schildau über die faszinierenden Burgen Rochlitz und Kriebstein bis zur Erich-Loest-Heimat Mittweida, der Robert-Schumann-Stadt Zwickau und der großen Burg Gnandstein. Zwischen Crimmitschau und Gnandstein haben die beiden Reisenden sogar etwas ausgelassen, denn da wechselt der sächsische Lutherweg ins thüringische nach Altenburg. Nicht die Tour ist das Krumme, sondern die Landesgrenze. Wer alle drei Lutherwege bereist, weiß es – und fragt sich immer mehr, warum das in Mitteldeutschland alles so provinziell regiert wird.
Jede der 27 Stationen hat ein eigenes Kapitel mit kurzer Geschichte, kleinem Lutherbezug, einer Liste wichtiger Sehenswürdigkeiten und etlichen Fotos. Im Anhang gibt es dann noch einmal für alle Orte Hinweise zu nahen Ausflugszielen und großen Veranstaltungen (Events). Was für all jene nützlich ist, die an einem der Orte länger verweilen und mehr als nur einen Urlaub draus machen wollen.
Aber der beste Tipp ist wohl, die ganze Tour mit dem Fahrrad abzufahren. Etwas, was die Homepage zum Lutherweg leider nicht promotet. Stattdessen wirbt man für Motorradtouren. Es ist genauso wie im Leipziger Neuseenland: Die hiesigen Touristiker sind geradezu besessen von PS und Motorlärm. Mit „Spiritualität“, wie sie groß und breit behaupten, hat das wirklich nichts mehr zu tun. Mit lutherschem Reisetempo schon gar nicht. Der Mann war entweder zu Fuß, zu Pferd oder zu Pferdewagen unterwegs. Was man heutigen Zeitgenossen ja eigentlich auch nur empfehlen kann. Man sollte nicht versuchen, das alles irgendwie in einen Tagesausflug oder ein Wochenende zu quetschen.
Die Beschilderung des Lutherweges findet man eh vor allem an Wander- und Radwegen. Und nur zu Fuß oder mit Rad hat man auch die Geduld, alles auf sich wirken zu lassen und da und dort einschlägige Luther-Geschichten aufzusaugen, vielleicht sogar ein wenig das Gefühl zu bekommen für das Zeitalter, in dem Luther wirkte. Denn jetzt steht der Reformator wieder mal als Säulenheiliger im Fokus – und man vergisst dabei, dass er vor allem das Ergebnis seines Zeitalters war. Er sprach am Ende ja nur aus, wofür die Zeit reif war. Und zwar genau hier, im fruchtbarsten Teil von Sachsen, in diesen kleinen, aber reichen Städten, die wie an einer Perlenschnur aufgefädelt sind am sächsischen Lutherweg.
Was heute so nett und verspielt aussieht, war einmal reicher Bürgerstolz. Und es waren eben nicht nur die Fürsten der Zeit, die Luther unterstützten. Noch so eine Narretei der modernen Luther-Beweihräucherung – jüngst erst mit einer Pracht-Ausstellung in Torgau („Luther und die Fürsten“) gefeiert. Da werden die vielen Bürger und Ratsleute und Bürgersfrauen, die die Reformation regelrecht aufsogen, immer wieder vergessen – obwohl sie damit ihre neue Rolle in Politik und Geschichte anmeldeten.
Aber das passt zum zwiespältigen Wesen unserer Zeit, wo man sich gern aufs Religiöse versteift und die Reformation als reine Kirchenreform zu verkaufen versucht. Dass sie ein geistiger Prozess war, der mit dem Aufstieg des Bürgertums direkt zusammenhing, das wird einfach ausgeblendet. Aber wer diesen Lutherweg läuft, der stößt mit der Nase drauf, denn er begegnet einigen der prächtigsten Rathäuser Mitteldeutschlands – allesamt genau in dieser Zeit gebaut oder umgebaut – von Torgau bis Leipzig.
Wer hinterher immer noch glaubt, die Reformation sei nur eine kirchliche Angelegenheit gewesen, der hat augenscheinlich nicht hingeguckt.
Das Büchlein gibt die wichtigsten Empfehlungen zum Besuch dieser touristischen Erlebnisroute. Es gibt auch noch ein paar Erklärungen zur Entstehung der Route und zu Luthers Leben. Damit man sich immer wieder neu erden kann. Denn wer sich wirklich auf den Reichtum der 27 Orte einlässt, der bekommt mehr als nur ein Stück Kirchengeschichte. Und vielleicht wird die Beschilderung auch in Leipzig einmal so gut, dass es für radelnde Leipziger selbstverständlich wird, sich wochenends mal auf den Lutherweg zu stürzen: immer dem grünen L hinterher bis zum nächsten schönen Ort.
Denn zu entdecken gibt es hier jede Menge.
Bernd Görne; Andreas Schmidt Der Lutherweg in Sachsen, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2017, 10 Euro.
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