Dieses Buch ist einmal keine Starthilfe, um ein spannendes Forschungsgebiet zu erkunden. Eher eine Vorlesung, wie Armin Uhlmann im Vorwort andeutet. Uhlmann ist Physiker, theoretischer Physiker. Er hat am Institut für Kernforschung in Dubna geforscht, war Professor für Theoretische Physik an der Leipziger Universität. Und Tübke hat ihn gemalt auf einem seiner umstrittensten Bilder.
Es ist das Großgemälde „Arbeiterklasse und Intelligenz“, das heute im zweiten Stock des Hörsaalgebäudes der Universität hängt – Zeugnis für die stark indoktrinierte Zeit der Karl-Marx-Universität. Aber auch Zeugnis für die Zukunftsvorstellungen der damaligen Zeit, auch wenn sie, als Werner Tübke das Auftragsbild in der Zeit von 1970 bis 1973 malte, nur noch plakative Abziehbilder waren. Die Einheit von Arbeiterklasse und Intelligenz war längst eine Fiktion, die fröhliche Kollektivität auf dem Bild eine Blendwand für die tatsächliche Funktionärsmacht (die im Bild mit dem SED-Funktionär Paul Fröhlich sichtbar ist).
Uhlmann war damals noch ein junger Professor. Tübke hat ihn während eines Seminars gezeichnet, wo er an der Tafel augenscheinlich ein paar recht komplexe Berechnungen demonstriert.
Und darum geht es auch in diesem Buch. Denn Namen wie Einstein, Planck, Bohr, Heisenberg und Schrödinger, die kennt fast jeder. Mit ein bisschen Glück kann man sie auch mit den Namen ihrer wichtigsten Entdeckungen in Verbindung bringen und ihre Leistungen bei der Erkenntnis unserer Welt zumindest ahnen. Ein bisschen was davon hat man ja auch im Physikunterricht kennengelernt und sich so seine Gedanken gemacht über die Welt der Elementarteilchen, die Zusammenhänge von Masse und Energie, den Welle-Teilchen-Charakter des Lichts, die unfassbar schnellen Photonen und die Träume diverser SF-Autoren, die daraus entstanden sind.
Aber zumindest die klugen Physiklehrer haben auch erklärt, wie sehr die Modelle und Bilder, die einem da gezeigt wurden, tatsächlich nur Modelle sind. Man denke nur an das wunderhübsche Bohrsche Atommodell und die selige Zeit, als Atome nur aus Elektronen, Neutronen und vielleicht noch Positronen zu bestehen schienen und die Elektronen wie kleine Energiebällchen brav auf elliptischen Bahnen (und dem richtigen Energieniveau) um den Atomkern kreisten.
Das konnte man zumindest im Physikunterricht fürs einfache Volk so um 1970 gerade noch so erzählen. Uhlmann hat das seinen Studenten und Studentinnen (auf Tübkes Bild lauschen ihm auch einige kluge Frauen) bestimmt so nicht mehr erzählt. Denn das 20. Jahrhundert war im Grunde ein einziges Ringen der Physikerelite um die Frage, ob die schönen Einfälle der Herren Planck und Co. so auch tatsächlich realitär nachweisbar und beweisbar sind, oder ob die Bilder, die sie für die kleinsten und die größten Dimensionen des Universums gezeichnet hatten, vielleicht doch zu schön und zu einfach sind. Und Uhlmann steht für eine Physikergeneration in der DDR, die immer dicht dran gewesen sein muss an der internationalen Diskussion. Und dicht dran heißt nicht nur „auf dem Laufenden“.
Dicht dran heißt auch: Zuhause in einer ganz besonderen Grammatik. Eben der Grammatik der Quantenwelt, wie Uhlmann es nennt. Als Laie würde ich sagen: Eigentlich ist es die Sprache der theoretischen Physik, die ja nicht grundlos so heißt. Die ganz großen Entdeckungen in der modernen Physik wurden nicht im Experiment gemacht oder in all den gigantischen Teilchenbeschleunigern, die seither Furore machten. Im Gegenteil: Diese Teilchenbeschleuniger sind das Ergebnis dieser Entdeckungen. Sie sind der gigantische Versuch, die klugen Berechnungen und ihre Ergebnisse, die die Schrödingers, Einstein und all ihre jüngeren Nachfolger gemacht haben, mit dem größtmöglichen Grad an Annäherung irgendwie – ja – doch zu beweisen.
Man kommt nämlich in eine ganz besondere Welt, eine, in der sich nichts mehr einfach beobachten lässt. Nicht mit Lupe und nicht mit dem stärksten Mikroskop. Man kommt in eine Welt, in der der Beobachter das Beobachtete beeinflusst – Heisenbergsche Unschärferelation heißt das Phänomen, das die Quantenphysik so hübsch spannend macht und auch noch mit der berühmten Katze von Erwin Schrödinger bildhaft werden lässt, die es natürlich nie gab, lediglich als schönes Bild für die Unmöglichkeit, in der Quantenwelt zwei Eigenschaften eines Teilchens gleichzeitig beobachten zu können.
Deswegen kann man sich auch die Arbeit in den großen Teilchenbeschleunigern nicht unbedingt als den emsigen Blick kluger Köpfe auf riesige Bildschirme vorstellen. Denn fast alles, was wir über die Welt der kleinsten Teilchen, ihre Zustände und ihren Charakter wissen, ist reinste Mathematik. Was bei Plancks Wirkungsquantum beginnt, das Max Planck übrigens auch nicht im Reagenzglas fand, sondern regelrecht als Notlösung, Hilfskonstrukt aus einer mathematischen Verzweiflung. Nicht ahnend, dass dieses Wirkungsquantum den Schlüssel liefern könnte für unzählige Phänomene in der Teilchenwelt, an der sich bis dahin Physiker und Mathematiker die Zähne ausgebissen haben. Nicht ahnend, dass die innovationsfreudigsten Physiker der nächsten Jahre hochbegabte Mathematiker sein würden.
Und da ist man schon mittendrin in Uhlmanns Vortrag, den er noch ganz unbefangen mit Plancks Wirkungsquantum beginnt und dann – über Bohr, Heisenberg, Schrödinger und Born – hineinsteigt in jene ganz spezielle Welt, von der die unbefangenen Laien stets nur die freundlich in Bilder übersetzten griffigsten Erscheinungen serviert bekommen (Schrödingers Katze zum Beispiel). Was aber in der wissenschaftlichen Diskussion tatsächlich passiert, das wird deutlich, wenn Uhlman auf 2-Niveau-Systeme, Quantenbits, Observable und Korrelationen zu sprechen kommt. Man ist längst drin in diesem Kosmos, wenn man merkt, dass man eigentlich mehr braucht als nur eine komplette neue Grammatik, um zu verstehen, was hier passiert. Eigentlich ist es ein völlig anderes Vorstellungsvermögen. Man hat es nicht mehr mit realen Räumen zu tun, in denen sich Teilchen brav auf geraden Linien oder in Ellipsen bewegen, sondern in einer höchst abstrakten Welt, von der auch die Physiker wissen, dass es nur eine höchst vage Annäherung ist an das, was auf atomarer und subatomarer Ebene tatsächlich die ganze Zeit geschieht. Aber mathematische Modelle machen die Sache (zumindest für mathematisch denkende Köpfe) vorstellbar, sie ergeben auch Rechenergebnisse, die mit den physikalisch messbaren im Einklang sind.
Und nicht nur das: Auch die Unstimmigkeiten in diesen Berechnungen haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder dazu geführt, dass der Blick für weitere Phänomene geschärft wurde und die mathematisch „vorausgesagten“ Abweichungen sich tatsächlich als noch unbekannte Phänomene im Experiment nachweisen ließen. Wie im Large Hadron Collider, wo man 2012 das berühmte Higgs-Boson nachweisen konnte.
Aber Uhlmanns Vorlesung macht auch deutlich, dass man die Grammatik der Quantenphysik mit der normalen Schulmathematik eigentlich nicht mehr versteht. Sie erfordert ein abstraktes Denkvermögen auf höchster Stufe und die Fähigkeit, sich Inhalt und Ergebnis zentraler Formeln auch als reale Vorgänge zumindest denken zu können. Sie zeigt aber auch, wie zwingend die Entwicklung solcher Grammatiken ist, um Teile unserer Welt überhaupt zu begreifen, die sich unserer persönlichen Wahrnehmung so völlig entziehen. Deren Funktionsweise wir aber vielleicht doch begreifen sollten, wenn wir verstehen wollen, wie unser Kosmos eigentlich funktioniert und was das ist, was ihn überhaupt ausmacht und seine Gesetze begründet. Denn dass es Gesetzmäßigkeiten gibt, ist ja unübersehbar, auch wenn die Physiker ins Schmunzeln kommen, wenn sie über die Grenzen von Gesetz und Zufall zu sprechen kommen und die Zwangsläufigkeit von Ereignissen.
Das tippt Uhlmann alles so nebenbei mit an. Aber die Vorlesung zeigt auch, dass man eine ganze Menge Voraussetzungen mitbringen muss, wenn man sich in die Einführungsvorlesung zur Quantenphysik setzen möchte und auch nur halbwegs verstehen will, was der Professor da vorn an die Tafel malt.
Armin Uhlmann Die Grammatik der Quantenwelt, Edition am Gutenbergplatz, Leipzig 2017, 19,50 Euro.
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