Jungen haben Träume. Träume verwandeln sich in Geschichten und Filme. Als Dieter Döhrel jung war, dominierten Western aus Hollywood die deutschen Kinos und an den Kiosken gab es Fluten von Wild-West-Magazinen. Drüben im Westen natürlich. Im Osten gab es bis 1982 nicht mal Karl May zu kaufen. Was Gründe hatte.

Kind-mit-dem-Bade-ausschütten-Gründe. Die üblichen Einfachschnitzer kippten mitsamt dem ganzen Nazi-Spuk auch alle Künstler aus, die von den Nazis irgendwie mit vereinnahmt worden waren. Die beiden Sachsen Friedrich Nietzsche und Karl May gehörten mit dazu. Da musste erst der Sachse Erich Loest seinen Karl-May-Roman „Swallow, mein wackerer Mustang“ herausbringen (1980), damit der Fall May endlich wieder diskutiert wurde. Ab 1982 gab es dann wieder „Winnetou“.

Was hat das mit dem 1938 in Göttingen geborenen Dieter Döhrel zu tun? Eine Menge. Denn seine Jugendzeit war eben auch Karl-May-Zeit. Neben den Hollywood-Western, die Traumbilder und Ideale vermittelten. Denn jungen Männern geht es genauso wie jungen Frauen: Sie entwickeln in ihrer Jugend ein Idealbild, dem sie nachleben. Ein Leben lang. Das ändert sich später nicht mehr.

Das muss man einfach mal sagen an der Stelle, weil die Film-Produzenten immer wieder abtauchen, wenn es darum geht: Was richten ihre Filme eigentlich an in den Zuschauern? Den jungen zumeist? Haben die großen, strengen Moralapostel, die in der Vergangenheit gern gegen die Kulturschwemme aus Hollywood wetterten, vielleicht Recht?

Nicht immer. Und auch nicht so, wie es oft genug propagiert wurde. Man drosch auf der Pop-Kultur und der Verwilderung der Sitten herum. Auf der Oberfläche. Aber man sah nicht, dass junge Generationen mit Filmen in ihrer Haltung zur Welt und zur Gesellschaft geprägt werden. Filmhelden sind Vor-Bilder. Sie prägen Selbst-Bilder. Schalten Sie den Fernseher ein, und Sie sehen, was für grottenschlechte Vorbilder da wimmeln.

Aber wer liest noch Karl May? Wer schaut noch die alten Western?

Dieter Döhrel hat das, was ihn in jungen Jahren prägte, verinnerlicht. Er trägt – wie wahrscheinlich viele Männer seiner Generation – eine ganze fiktive Welt in sich. Denn nicht nur Karl May hat einen fiktiven Wilden Westen erschaffen. An diesem Wilden Westen mit seinen edlen Indianern, aufrechten Cowboys, heldenhaften Sheriffs und glaubensfesten Farmern, Ranchern und Pionieren haben ganze Generationen von Autoren und Regisseuren mitgebaut. Sie haben ein Land geschaffen, das es so nie gab, ein Heiliges Land, in dem es noch Ideale gab und Menschen, die diese Ideale lebten. In dem das Gute vom Bösen sauber getrennt war und heldenhafte Reiter mit der Ehrlichkeit romantischer Ritter das gelobte Land von Bösewichten befreiten.

Es gibt nicht wirklich viele solcher erfundenen Länder, die so eine Wirkmacht entfaltet haben. Auch im negativen Sinn – wenn die radikale Art der Wildwest-Helden zu echter Politik wurde. Wenn romantische Präsidenten loszogen und in Wild-West-Manier die „Mächte des Bösen“ bekriegten.

Held in diesem ersten Western von Dieter Döhrel ist der 16-jährige Rancher-Sohn Shane Calhoun. Ein Bursche, der nicht nur die ritterliche Tapferkeit seines Vaters übernommen hat, sondern auch voller außergewöhnlicher Eigenschaften steckt – ein begnadeter Jäger, Kämpfer und Schütze. Ein perfekter Bursche. Der auch ein wenig an die andere Lektüre erinnert, die Döhrel mit Begeisterung gelesen haben muss – die Lederstrumpf-Erzählungen von James Fenimore Cooper zum Beispiel. In diesem Shane Calhoun steckt auch ein echter Lederstrumpf, ein Rächer der Bestohlenen, ein Freund der Schwachen.

Es ist ein starker Mythos, den gerade Autoren wie Cooper für das junge, unfertige Staatsgebilde USA geschaffen haben. Sie haben im Grunde den Traum erfunden, den viele Amerikaner noch heute träumen: den Traum, die moralisch überlegenen Pioniere zu sein, die God’s own country zu ihrem Eigen machen und die Grenze immer weiter hinausschieben, indem sie wildes Land urbar machen und dem Recht Geltung verschaffen.

Das, was Shane Calhoun auch in diesem ersten von Döhrels Western tut. Weitere Bände werden folgen. Der Mann erfüllt sich einen Traum und schreibt jetzt die Western-Geschichten, die in seinem Kopf lebendig sind. Und er tut es mit jeder Menge Anspielungen. Selbst der heutige Medienkonsument kennt ja viele dieser Filme, Serien und (seltener) klassischen Romane. Wer Cooper mag, wird gleich zum Auftakt eine Trapper-Szene bekommen, die die Stimmung von „Lederstrumpf“ aufnimmt. Später gibt es dann Anklänge an all die legendären Bonanza- und Shiloh-Filme, die die Welt der Cowboys und ihr scheinbar so einfaches Verständnis von Gerechtigkeit aufnehmen. Und dann geht es eigentlich schon hinein in eine Szene, die an Old Shatterhands treffsicheres Bemühen um Recht und Ordnung in Wildwest erinnern.

Also eine volle Packung für alle, die diesen so eindeutigen Wilden Westen mögen, diesen Traum von einer Welt, in der noch die Tat des mutigen Mannes zählt und sich durchsetzt, wer auch nur bereit ist, seinen Traum mit eigener Hände Arbeit in die Tat umzusetzen.

Die Literaturwissenschaftler sind sich sicher, dass im Western der eigentliche Gründungsmythos der USA steckt. Mitsamt dem tiefen Glauben, dass Grenzen dazu da sind, immer weiter hinausgeschoben zu werden. Was in Döhrels Buch auch eine Rolle spielt. Er lässt seine Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielen, in den Bergen, Wäldern und saftigen Tälern des Nordwestens. Es ist, wie man wohl ahnen kann, auch eine Reise in die Vergangenheit. In eine Zeit, in der der Traum vom Pionier, der die Erde fruchtbar macht und das Land zivilisiert, zumindest noch vorstellbar war. Als Gegenbild für eine andere Realität, in der schon längst das Geld regierte, Eisenbahnbarone das Land eroberten, der amerikanische Süden in Rassismus brodelte und der große Westen auch deshalb ein gewaltiger Traum war, weil er noch als unbesetztes Land galt, als Ort, an dem tausende Männer noch eine Chance witterten, zu Reichtum zu kommen. Wovon ja die vielen Geschichten vom Goldrausch erzählen.

Diese Geschichten haben andere Autoren erzählt, auf die sich Döhrel (zumindest in diesem Band) noch nicht bezieht – man denke an Mark Twain und Jack London. Der Traum vom Wilden Westen wurde genau da geboren, wo dieser wilde Westen sich in Luft auflöste, auch wenn es heute noch da und dort die Ruinen der legendären Goldgräberstädte gibt, die man besichtigen kann. In gewisser Weise ist dieser in der Natur aufgewachsene Shane Calhoun ein lichter Held, ein Engel, den Döhrel losgeschickt hat, den Traum von Gerechtigkeit in den wilden Weiten des Nordwestens zu erfüllen. So ideal und edel, wie man die Helden Coopers kennt. Ritterlich geradezu in seiner Hilfsbereitschaft. Dass er dazu auch noch ein gnadenlos guter Schütze ist, sorgt zumindest in dieser ersten Geschichte dafür, dass ein dramatischer Vorfall noch einmal gut ausgeht und der junge Mann sich von den Geretteten am Ende wortkarg und mit Glanz in den Augen verabschieden kann. Denn er will noch härtere Abenteuer suchen in den Weiten des rauen Nordwestens.

Das, wovon junge Männer 1950 noch träumten, auch wenn der Beginn des richtig harten Lebens meist eine ziemlich irdische Ausbildung und eine Begegnung mit langweiligen deutschen Behörden war. Wovon Döhrel leider nicht schreibt. Aber genau das ist ja der handfeste Widerspruch, der Western erst funktionieren lässt: Hier die total verwaltete und von Regeln umhegte Gegenwart, in der man irgendwie versucht, seine Träume von einem abenteuerlichen Leben zu verwirklichen, und da drüben, hinter dem Horizont, die gigantischen Wälder, die Gebirgsbäche, wilden Tiere und ungezähmten Menschen, die der wilden Natur ihren Platz zum Leben abringen. Dieser Traum der hart erkämpften Grenze, wo jeder noch zeigen kann, was in ihm steckt, und in dem nicht anonyme Riesenkonzerne schon alles aufgekauft und mit Zäunen abgesperrt haben.

So richtig tot scheint der Traum noch nicht zu sein. Auch wenn man dazu in ein fiktives Land reisen muss, das in den Buchregalen der Jungen überlebt hat, die heute grauhaarig sind und mit ungebrochener Sehnsucht zurückkehren in die verlorenen Länder. Wobei einem dazu natürlich Umberto Ecos geniale Rekonstruktion des Ich-Erzählers in „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“ einfällt, der in den aufbewahrten Magazinen und Büchern seiner Kindheit versucht, sein verlorenes Ich wiederzufinden – und dabei durch all die imaginären Welten reist, die ihn als Junge begeistert und in ihren Bann geschlagen haben.

Man ahnt, dass es bei Döhrel auch solche Welten gibt. Sie sind als Zitate in sein Buch eingeflossen. Samt dem Traum, selbst noch einmal jung zu sein, voller Talente und Möglichkeiten – und vor allem für die Gerechtigkeit auf Erden tätig zu werden. Das war mal ein echter Jungen-Traum. Damals. In einem Land weit vor unserer seltsamen Zeit.

Dieter Döhrel Shane Calhoun, Einbuch Buch- und Literaturverlag, Leipzig 2017, 13,40 Euro.

In eigener Sache: Lokaler Journalismus in Leipzig sucht Unterstützer

https://www.l-iz.de/bildung/medien/2017/01/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar