Der Ch. Links Verlag hat schon mit einigen Verรถffentlichungen zu den legendรคren Verlagen der Buchstadt Leipzig geglรคnzt. Es ist schlicht folgerichtig, dass auch dieses Buchprojekt bei diesem emsigen Berliner Verlag gelandet ist. In gewisser Weise ist es das auf 540 Seiten gebรผndelte Ergebnis eines Forschungsprojekts: des Reclam-Projekt der Leipziger Buchwissenschaftler.
Das wurde im fernen Jahr 2008 gestartet. Da kehrte das Archiv des Leipziger Reclam Verlages noch einmal aus Stuttgart nach Leipzig zurรผck, nachdem die Leipziger Filiale des berรผhmten Verlages 2006 geschlossen worden war. Zu Forschungszwecken. Und wer kรถnnte besser so einen Bestand erforschen als richtige Buchwissenschaftler? Die lokale Komponente kommt noch hinzu. Denn Reclam war in Leipzig auch in jener Zeit eine Instanz, als es zwei Verlage dieses Namens gab. Aus Stuttgarter Sicht immer eine unliebsame Konkurrenz, eine nicht gewollte Situation, nachdem der Leipziger Verlag ab 1945 zusehends unter die Restriktionen erst der sowjetischen Besatzungsmacht und dann der Enteignungspolitik der SED fiel. Aus der Stuttgarter Zweckgrรผndung wurde das eigentliche Stammhaus.
Der erste Teil diese gewichtigen Buches erzรคhlt sehr akribisch รผber diese frรผhe Zeit โ und zwar besonders รผber die Persรถnlichkeiten, die den berรผhmten Verlag prรคgten und 1945 einen Neustart mit groรen Erwartungen an die neue Zeit starteten. Brauchte ein neues, entnazifiziertes Deutschland nicht genau so einen Verlag, der das Volk mit den Wissensschรคtzen der groรen Literatur preiswert versorgte?
Nur bedingt. Das war die eigentliche Erfahrung dieser frรผhen Jahre, die fรผr das Leipziger Stammhaus Teilenteignungen, Demontage und zunehmende Bevormundung bedeuteten. Logische Folge war ein Aderlass der bislang prรคgenden Kรถpfe in den Westen, aber auch schon die frรผhe Suche nach einem eigenen Profil. Nicht nur gegenรผber dem Westverlag, mit dem man zwar noch die Nummern der einzelnen Bรคnde abstimmte โ aber inhaltlich ging man, bewusst und auch gezwungenermaรen, neue Wege. รbrigens auch gegen die Vorstellungen der ostdeutschen Machthaber, die den Reclam Verlag gern nur als simplen Lieferanten von billigen Bรผchern fรผr Volk und Schule gedacht hรคtten.
Aber die DDR-Leser wussten es โ und selbst im Westen hatte man es 1989 staunend zur Kenntnis genommen: Dieser Verlag hatte ein Profil entwickelt, das sich mit westdeutschen Vorzeigeverlagen wie Suhrkamp und Luchterhand vergleichen konnte. Hier waren eben nicht nur Klassiker erschienen. Spรคtestens mit dem Eintritt von Hans Marquardt in den Verlag โ erst als Lektor, spรคter als prรคgender Verlagsleiter โ entwickelte sich der Leipziger Verlag zu einem Grenzgรคnger. Auch zu einer Ausnahme in der staatlich reduzierten Verlagslandschaft. Was ganz sicher auch mit dem alten Buchplatz Leipzig zu tun hat, der Universitรคt und jenem noch in den 1950er Jahren spรผrbaren Klima: Es kรถnnte auch anders gehen. Sozialismus muss kein doktrinรคrer Stalinismus sein. Der geistige Unruheherd ist noch heute Legende, hat mit den eigensinnigen Professoren Bloch, Mayer und Krauss zu tun.
รber 50 Beitrรคge von Wissenschaftlern, Verlagsmitarbeitern, Autoren und รbersetzern hat dieser Band versammelt. Juergen Seuss widmet einen Beitrag ganz und gar dem Mann, der 30 Jahre Reclam Leipzig prรคgte: โH. M. โ Grenzgรคngerโ. Und nicht nur er versucht, das Wesen dieses Verlagsleiters zu entziffern, der mit den Mรคchtigen paktierte und trotzdem die Regeln immer wieder mit eulenspiegelhafter Schlรคue unterlief, austestete, ausweitete. Natรผrlich taucht der Leser ein in diese ganz besondere Welt des Bรผchermachens in der DDR, in der Verleger nicht frei entscheiden konnten, sondern immer auf den guten Willen der Zensur Rรผcksicht nehmen mussten, die es ganz offiziell in der DDR nicht gab, die aber รผber die โHauptverwaltung Verlageโ trotzdem ausgeรผbt wurde. Mit zum Teil seltsamen Blรผten. Denn in sich logisch war die Verbotspraxis der SED-Funktionรคre nie. Was heute galt, konnte morgen schon durch einen Federstrich von Ulbricht oder Honecker erledigt sein โ oder genehmigt. Denn auch die DDR-Literatur kannte ihre Tauwetterzeiten und ihre stalinistischen Kampagnen.
Der geistige รberbau des Landes war komplett durchherrscht. Und dass Reclam Leipzig zu einer Sammlung vieler unabhรคngiger, aus SED-Sicht auch dissidentischer Geister wurde, hat auch mit der rigiden Gleichschaltung der Hochschulen zu tun. So kam auch Jรผrgen Teller als Lektor ins Haus und noch mehr Blochscher Geist herrschte in den Rรคumen โ anfangs noch im alten Reclam-Gebรคude an der Inselstraรe, dann in den recht dรผsteren Rรคumen in der Nonnenstraรe. Schรถn sah es dort nicht aus. Aber Autoren, Herausgeber, รbersetzer erzรคhlen von einem kreativen Klima, in dem sensible Lektorinnen und Lektoren alle Register bemรผhten, um Titel fรผr den DDR-Markt druckfรคhig zu machen, die in anderen Verlagen nie und nimmer erschienen wรคren und in einem anders gefรผhrten Reclam-Verlag auch nicht. Die Tatsache, dass Reclam nie komplett enteignet wurde und daher ein Unikum als halb-privater Verlag in der DDR war, gewรคhrte einen Freiraum, den Marquardt sichtlich ausnutzte, um neue Reihen zu starten. Besonders das Jahr 1963 ist markant, als das neue Buchformat eingefรผhrt wurde โ was Marquardt gleich dazu nutze, eine neue Reihengestaltung einzufรผhren, die das Programm bis zum Jahr 1991 prรคgte.
Deswegen wird fรผr manchen Leser gerade das letzte Kapitel besonders spannend sein: โBuchentstehung im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Zensurโ, in dem Autoren und Herausgeber erzรคhlen, welche Marathon-Strecke einige der besten und beliebtesten Titel von Reclam hinter sich hatten, bevor sie endlich ausgeliefert wurden. Das betrifft die Bรผcher von Hilbig, Mรผller und Bloch genauso wie die der sowjetischen Autoren Jessenin, Majakowski, Babel und Mandelstam. Man erfรคhrt, wie die Netzwerke der Gutachter instrumentalisiert wurden, wie Vorworte und Materialsammlungen Bรผcher gegen die Verbotsgelรผste der Funktionรคre absicherten, wie aber auch die aktuellen Nervositรคten der Parteipolitik und die grimmigen Einsprรผche der Besatzungsmacht umschifft wurden. Ein regelrechter Kosmos entsteht. Leipzigs Buchwissenschaftler um Siegfried Lokatis wussten schon sehr genau, was fรผr einen Forschungsschatz sie da in die Hรคnde bekommen hatten. Aus dem Archiv konnten diverse erhellende Briefwechsel und Stellungnahmen rekonstruiert werden.
Auch wenn Ingrid Sonntags Arbeit vรถllig selbststรคndig ist. Denn dieser Band vereint ja nicht nur wissenschaftliche Tiefenexkurse. Die Herausgeberin hat dutzende namhafter Autoren und ehemaliger Mitarbeiter des Verlags als Textlieferanten gewinnen kรถnnen. Und gerade die jรผngeren Autoren kรถnnen auch erzรคhlen, welche Wirkung einzelne Titel aus dem Leipziger Verlag auf ihr Leben und Schreiben hatten. Es war Reclam Leipzig, wo Klemperers โLTIโ zum Bestseller wurde. Und es haben natรผrlich nicht alle Geschichten zu den รผber 1.000 Titeln ins Buch gepasst, die in der 1963 neu designten Reihe erschienen und Reclams Bรผcher zur wichtigsten und mutigsten Taschenbuchreihe der DDR gemacht haben. Mancher Autor merkt zu Recht an, wie sehr die geistigen Landschaften der DDR ohne die vielen Titel von Reclam verarmt wรคren, mit denen wichtige Strรถmungen und Autoren aus aller Welt in das kleine, abgeschlossene Land geholt wurden.
Vieles hรคtte so auch nicht im Westen erscheinen kรถnnen, nicht mal mehr nach 1991. Was ja auch die kleine Dependance Reclam Leipzig bis 2006 zu spรผren bekam: Unter freien Marktbedingungen muss sich auch das Programm den Marktbedingungen unterwerfen โ die Titel wurden auf einmal auf ihre Verkรคuflichkeit hin abgeklopft. Was in DDR-Zeiten in 10.000er Auflagen wegging, weil die Leser oft schon jahrelang auf die Titel gewartet hatten, schrumpfte jetzt auf winzige Auflagen zusammen. Was bis 1991 mรถglich war, war auch eine Ausnahme โ die Ausnahmerolle eines Verlages, der sich seiner Grenzgรคnger-Rolle in der DDR sehr bewusst war und mit den zuweilen sturen Mechanismen der DDR-Zensurpolitik zu spielen gelernt hatte โ im Interesse der Leser, die auf diese Weise auch Bรผcher in die Hรคnde bekamen, die es nach Parteilinie so nie gegeben hรคtte โ von Volker Braun bis zu Jack Kerouac, der in diesem Band erstaunlicherweise genauso wenig erwรคhnt wird wie Diderot.
Die Subversivitรคt fand ja nicht nur mit heiร diskutierten Titeln aus dem Westen statt, sondern mit klugen Verรถffentlichungen selbst aus der klassischen Literatur. Man wich bewusst vom anerkannten Kanon ab. Was man auch deshalb konnte, weil der Verlag immer auch auf hochkarรคtige Wissenschaftler vor allem aus dem Umfeld der Universitรคt Leipzig zurรผckgreifen konnte. Eine durchaus augenzwinkernd verschworene Gemeinschaft von Menschen wird sichtbar, die im Reclam Verlag eine Institution in der alten Buchstadt wussten, die Vieles von dem, was in staatlichen Verlagen fehlte, einzuschmuggeln verstand in die Programme.
In gewisser Weise wurde Hans Marquardt dabei auch zur tragischen Gestalt, weil er nach 1990 nicht zu seinen engen Kontakten zur Stasi stand, obwohl all seinen Mitarbeitern immer klar war, dass es ohne diese Deals mit dem Geheimdienst auch die Freirรคume fรผr Reclam in Leipzig nicht gegeben hรคtte. So dass der โ auch im Westen anerkannte โ Verleger sich mit der Stasi-Vergangenheit herumschlug, obwohl er einer derjenigen hรคtte sein kรถnnen, die รผber das Funktionieren des Leselandes DDR als Insider hรคtte sprechen kรถnnen. In diesem Band wird jedenfalls sichtbar, wie wichtig Marquardts Strippenzieherei war, damit dieser unangepasste Verlag so auch arbeiten konnte.
Wolfgang Hegewald bringt das Besondere auf den Punkt, wenn er (in โJean Paul, Uwe Johnson und Philipp Reclam jun.โ) schreibt: โLange bevor Adorno seinen bornierten Satz niederschrieb, dass es kein richtiges Leben im falschen gรคbe, hat ihn Jean Paul erzรคhlerisch widerlegt.โ
Gerade Reclam in Leipzig ist ein signifikantes Beispiel dafรผr, wie sich viele kluge und hochgebildete Menschen darum bemรผhten, innerhalb eines falschen Lebensmodells ein richtiges Leben und Denken zu erhalten und immer wieder mit neuem Futter fรผr wache Geister zu versorgen. Adornos bornierter Satz wurde oft genug gegen die DDR und ihre kรผnstlerische Elite angewendet. Mit fatalen Folgen, weil sich die Verwender dieser Phrase nicht einmal vorstellen kรถnnen, wie wichtig es ist, in falschen Rahmenbedingungen unbedingt Orte des richtigen Lebens zu schaffen โ sonst รคndern sich die Bedingungen nรคmlich nicht.
Und einige der Titel, die im Band extra behandelt werden, haben ganz ungemein dazu beigetragen, dass sich die Dinge in der DDR in Bewegung setzten. Wofรผr viele Namen stehen โ von Gerhard Wolf bis zu Fritz Mierau. Das wird oft und gern vergessen und verbogen, dass die โWendeโ in der DDR nicht auf der Straรe und auch nicht in den Kirchen begann, sondern in Bรผchern und Kรถpfen. Nicht Friedensgebete (so wichtig sie auch waren) haben den Erdrutsch vorbereitet, sondern Autoren wie Wolf Biermann, Rudolf Bahro, Christa Wolf, Heiner Mรผller, Volker Braun und wie sie alle hieรen. Und Reclam hat mit seinen Bรผchern (die oft รผber Jahre gegen eine sture Nomenklatur durchgeboxt werden mussten) dazu beigetragen, dass der Herbst 1989 in den Kรถpfen begann.
Das dicke Lese-Buch erzรคhlt also nicht nur die Geschichte eines Ausnahmeverlages. Es erzรคhlt auch ein wichtiges Kapitel der widerstรคndigen Geistesgeschichte in der DDR mit all ihren Rahmenbedingungen und den Ambitionen der Menschen, die Hans Marquardt sehr zielstrebig in Leipzig um sich versammelte.
Das Ende von Reclam in Leipzig entbehrt nicht einer gewissen Tragik. Hรคtte es nicht doch anders kommen kรถnnen, fragt man sich bei Lesen.
Ein kleines โVielleichtโ steht da โ und ein groรes: Die Zeiten waren nicht mehr danach.
Auf jeden Fall ist der Band ein reiches Futter fรผr alle, die eine der spannendsten Verlagsgeschichten der DDR kennenlernen wollen. Und zwar in so vielen Aspekten, dass man nicht wirklich traurig ist, dass noch einmal genauso viel fehlt. So ein kleiner Verlag kann die Grenzen so eines Buchprojektes ganz leicht sprengen.
Veranstaltungstipp:
Am Donnerstag, 23. Februar, um 19 Uhr, wird das Buch โAn den Grenzen des Mรถglichen. Reclam 1945-1991โ im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig prรคsentiert. รber die Geschichte des Reclam Verlages sprechen an diesem Abend die Herausgeberin des Buches Ingrid Sonntag, Wolfgang Emmerich (Literaturwissenschaftler), Stefan Richter (ehem. Reclam-Lektor und Verlagsleiter) und Wolfgang Thierse (Germanist, Kulturwissenschaftler und Politiker). Es moderiert Verleger Christoph Links.
Buchvorstellung und Gesprรคch: โAn den Grenzen des Mรถglichen. Reclam 1945-1991โ, Zeitgeschichtliches Forum, Grimmaische Straรe 6. Der Eintritt ist frei.
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https://www.l-iz.de/bildung/medien/2017/01/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108
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