Eigentlich glaubt man diese Welt zu kennen: das mittlere Europa im Vormรคrz, die beginnende Zeit der Eisenbahn, das blumige Biedermeier. Wir kennen die Schriftsteller aus dieser Zeit und die wichtigsten politischen Akteure. Aber รผber das Leben der wirklich einfachen Leute wissen wir wenig. Sie schreiben keine Romane, Tagebuch schon gar nicht. Der Lebensbericht eines Porzellanmalers wird zur faszinierenden Fundgrube.

Denn auch wenn der Name so klingt: Heinrich Theodor Hohmann gehรถrt nicht zu den Berรผhmten. Nicht mal in Dresden, wo er die Karriere zum Fabrikanten schaffte und seinen Lebensabend verbrachte. Hรคtten seine Urenkel nicht so eine Ahnung gehabt, dass die in einer alten Kladde bewahrten Lebenserinnerungen des UrgroรŸvaters etwas Besonderes sind โ€“ es gรคbe dieses Buch nicht. Niemand hรคtte die Germanistin Marlis Sonnemann gefragt, ob sie mit diesem Text etwas anfangen kรถnne. Geschrieben in altdeutscher Schrift, wahrscheinlich nicht mal vom Autor selbst, dessen Handschrift auch im hรถheren Alter noch fast unleserlich war. Denn seine Schulkarriere in frรผher Kindheit war eine Katastrophe. Was nicht an ihm selbst lag, denn der Junge war aufgeweckt und hatte Talent. Aber was nutzt das, wenn die Welt, in der er aufwรคchst, von Armut geprรคgt ist? Ein kleines Nest in Bรถhmen, wo sich die Mรคnner mit Strumpfwirkerei und Glasmalerei ein bisschen was dazu verdienen, ansonsten dient eine kleine Feldwirtschaft fรผr das Notwendigste.

Aber die Zeiten sind unsicher, denn die ersten Fabrikanten arbeiten mit den modernen Maschinen der Zeit. Aus England wird der europรคische Markt mit billigeren Produkten geschwemmt. Sie nannten es nur nicht Globalisierung. Die Heimwerker geraten in prekรคre Verhรคltnisse. Auch der Vater von Heinrich, der sich sowieso in die Falsche verliebt hat. Denn eigentlich stammt er aus dem protestantischen Sachsen. In Bรถhmen hat er sich in eine katholische Handwerkerstocher verliebt. Und es geht nichts zusammen. Die Kirche spielt nicht mit. Und am Geld fehlt es sowieso. Schon diese frรผhen Jahre des kleinen Heinrich geben Einblick in die Zwรคnge, die ein Kind erlebte, wenn es in armen Verhรคltnissen in einem bรถhmischen Dorf aufwuchs. Solche Erinnerungen sind selten, denn Menschen, die unter solchen รคrmlichen Verhรคltnissen aufwuchsen, schreiben keine Bรผcher, hinterlassen keine Memoiren. Sie machten aber auch selten Karriere. Sie sind zu allen Zeiten meist nur die Schwungmasse der Entwicklung, in รคrmliche Verhรคltnisse gebunden, staatlich und kirchlich reglementiert.

Was andererseits das Glรผck der spรคten Forscherin ist. Denn mit solchen soziologischen Erkundungen kennt sich Marlies Sonnemann aus. Ganz ohne Grund ist die Abschrift der Hochmannschen Erinnerungen nicht an sie geraten. Und sie ahnt, was das fรผr ein Material ist und welche Vorlage ihr Hochmann geliefert hat, weil er sehr detailgetreu erzรคhlt. Die Daten sind nachprรผfbar. Auch wenn Sonnemann anfangs zweifelt, dass in sรคchsischen und bรถhmischen Archiven รผberhaupt noch etwas zu finden ist. Da liegen acht Jahre emsiger Forschung noch vor ihr.

Aber die Bรผrokratien Sachsens und ร–sterreichs erweisen sich als wahre Fundgrube. Was in den Kriegen nicht zerstรถrt wurde, bewahrt nicht nur Lebensdaten, Geburten, Hochzeiten, Paten, Sterbefรคlle auf. Selbst der materielle Besitzstand der Personen lรคsst sich rekonstruieren, Verkรคufe, Versteigerungen, Bittgesuche sind verewigt. Und die Archivbetreuer in Tschechien sind nicht nur hilfsbereit und selbst vom Thema begeistert, sie weisen der Suchenden auch die richtigen Wege. Denn auch Bรถhmen hat sich verรคndert. Stรคdte sind gewachsen, Dรถrfer wurden eingemeindet, Hรคuser sind verschwunden. Dafรผr sind die wichtigsten Akten alle auf Deutsch รผberliefert. Das war die Amtssprache im รถsterreichischen Bรถhmen. Nur die Namensvielfalt verwirrt anfangs.

Was sich wie eine phantasievoll erzรคhlte Lebensnovelle liest bei Hochmann, entfaltet dann in der ausgiebigen Spurensuche von Marlies Sonnemann seine Brisanz. Denn so, wie der gealterte und letztlich finanziell erfolgreiche Porzellanmaler und Wattefabrikant seine Lebenserinnerungen fรผr die Kinder aufschrieb (oder aufschreiben lieรŸ), ist seine Kindheit voller Abenteuer, mutiger Wanderungen, liebevoller oder auch mal zรคnkischer Menschen, denen er begegnet. Dass das Ganze aber eigentlich von einer Menge Armut erzรคhlt und einer Welt, die fรผr Jungen wie Heinrich gar keine automatische Karriere vorsah, das wird deutlich, wenn Sonnemann Station um Station erkundet, alte Zunft- und Gemeindebรผcher durchblรคttert und staunend feststellt, dass es all die Meister und Verwandten tatsรคchlich gab, von denen Hochmann schreibt. Selbst seine Verhaftung kurz nach den Dresdner Maiereignissen 1849 ist festgehalten. Es war nicht ohne Risiko, ausgerechnet 1849 dem รถsterreichischen Militรคrdienst mit falschem Pass entfliehen zu wollen und dann ausgerechnet durchs preuรŸisch besetzte Sachsen zu wandern.

Am Ende schafft Hochmann den Sprung, fasst in Dresden FuรŸ, studiert sogar noch ein Semester an der Kunstakademie. Denn dass er Talent hatte, das beweisen die Zeichnungen, die dem Buch beigegeben sind. Von Sonnemann etwas kritisch betrachtet, denn da kommt unรผbersehbar die romantische Schule des berรผhmten Dresdner Kunstprofessors Ludwig Richter durch.

Aber man weiรŸ ja die ganze Zeit, dass dieser junge Mann bestenfalls die Chance gehabt hat, ein gefragter Porzellanmaler zu werden. Um sich die freie Existenz eines Kunstmalers zu leisten, fehlte ihm schlicht der familiรคre und finanzielle Rรผckhalt. Man darf durchaus darรผber nachdenken, wie viel Kunst wir nicht bekommen haben, weil zum Kunstmachen immer erst einmal Geld gehรถrt. Und als fรผr Hochmann die Wahl stand zwischen prekรคrer Existenz als Porzellanmaler und dem Einstieg in ein kleines Unternehmen, entschied er sich kurzentschlossen โ€“ und heiratete auch gleich die 12 Jahre รคltere Inhaberin. Und beide wurden glรผcklich. Hochmann hat also den Kindern und Enkeln eine mehrfach erfolgreiche Geschichte zu erzรคhlen.

Seiner Leidenschaft, dem Malen, frรถnte er dann erst wieder im Ruhestand, bereiste mit Zeichenblock und Stift die Welt. Nun wohl nicht mehr zu FuรŸ, wie er es als kleiner Junge tun musste. Ein gut situierter รคlterer Herr sitzt auf dem Bild, das sein Kรผnstlerfreund Albert Mรผhlig von ihm gemalt hat. Und der Leser lernt eine Persรถnlichkeit kennen, die bislang in keinem Geschichts- oder Kunstbuch รผber Sachsen oder Bรถhmen zu finden war. Denn berรผhmt war er ja nie, nicht mal im รผberschaubaren Dresden seiner Zeit. Vielleicht bekannt, weil das Wattegeschรคft, das er mit seiner Frau betrieb, an einer markanten EinkaufsstraรŸe lag.

Fรผr gewรถhnlich verschwinden Menschen, die es nicht zu Ruhm gebracht haben, ziemlich schnell aus dem Gedรคchtnis unserer Gesellschaft. Ihre Grรคber werden eingeebnet, die Unternehmen werden gelรถscht, der Hausrat wird verkauft. Nur selten bewahren die Kinder und Enkel die besten Erinnerungsstรผcke auf und bewahren die vergangenen Generationen auch im Familiengedรคchtnis. Auch die Hochmanns hatten den Mann beinah vergessen โ€“ wenn sich nicht die Lebenserinnerungen, ein paar Bilder und Kalenderblรคtter wieder angefunden hรคtten.

Und Marlies Sonnemann zeigt, wie man aus solchen Funden wieder ein ganzes, vollwertiges Leben rekonstruieren kann, Namen und Daten aus alten Registern zieht und die Welt, in der der kleine Heinrich mutig Lรคndergrenzen รผberschritt, wieder auferstehen lรคsst. Und der Leser staunt, wie viel Zeitgeschichte Hochmann mit untergebracht hat, auch wenn er fรผr Politik sichtlich kein Interesse zeigt. Politik greift stets auf seltsame, aber gravierende Weise in das Leben der kleinen Leute ein. Mit einschneidenden Regeln fรผr den Militรคrdienst, amtlichen Vorurteilen gegen Andersglรคubige oder gar โ€“ wie in Neustadt an der Tafelfichte erlebt โ€“ den Folgen staatlich gewollter Missionierung, mit der auch versucht wurde, wieder die Kรถpfe des stets misstrauisch beรคugten Volkes auf Linie zu bringen. Nur zu deutlich erlebt Hochmann, wie diese geistige Kontrolle รผber die Kirche funktionierte. Es kostet ihn nicht nur eine Liebe, er reagiert auch mit stillem Spott auf diese finstere Art der geistigen Bevormundung. Diesmal aber ist er rechtzeitig weitergezogen, diesmal erwischen sie ihn nicht.

Gerade weil Sonnemann all diese gesellschaftlichen Begleitumstรคnde aus den Akten rekonstruieren kann, wird erst richtig erlebbar, was der gealterte Fabrikant da tatsรคchlich alles erzรคhlt hat, auch wenn er an dem Punkt aufhรถrt, als er in Dresden tatsรคchlich seine Familie gegrรผndet hat. Es muss ihm wichtig gewesen sein, das alles noch einmal zu erzรคhlen. Denn ein gewรถhnliches Schicksal war es ja trotzdem nicht. Viele seiner Weggefรคhrten sind arm geblieben, viele auch sehr jung gestorben. Wer in den Novellen von Keller oder Storm zuhause ist, wird die Welt, die er schildert, vertraut finden. Auch ein wenig heimelig, weil Hochmann seine ร„ngste, Kรผmmernisse, Hunger und Kรคlte lieber weglรคsst. Dass er darunter gelitten haben muss, das wird erst aus Sonnemanns Rekonstruktion erkenntlich. Aber mit den genannten Autoren hat Hochmann den unbedingten Optimismus gemeinsam. Auch wenn die Umstรคnde widrig sind, lรคsst man sich nicht kleinkriegen und macht was draus, wenn sich die Gelegenheit ergibt.

Irgendwie ist uns so eine Grundhaltung heute abhandengekommen. Als hรคtten wir รผber all den rasenden Entwicklungen der vergangenen 100 Jahre unsere Zuversicht verloren und sitzen nun da, reicher beschenkt als der Strumpfwirkersohn aus Bรถhmen, und schauen belรคmmert in eine Zukunft, von der wir uns gar nichts erwarten. Kann das sein?

Jedenfalls wirkt gerade das so erstaunlich fremd an dieser Lebensgeschichte. Und so ermutigend, wenn der alte Mann von dem Jungen erzรคhlt, der sich auch von der heftigsten Niederlage nicht entmutigen lรคsst und dranbleibt, aus seinem Leben ein bisschen mehr zu machen, als es anfangs zu bieten scheint.
Marlies Sonnemann Aus Bรถhmen in die Welt, Sax Verlag, Markkleeberg 2016, 22 Euro.

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