Leipzig ist auch eine Stadt der Sammler. Manche Leute steckten ihr Geld in riesige Sammlungen: Bücher, Bilder, Münzen, Trophäen, Mineralien ... Solche privaten Sammlungen sind die Keimzellen unserer heutigen Museen. Das gilt auch für das Musikinstrumentenmuseum, in dem als Kern die Sammlung von Paul de Wit steckt. Aber die war eigentlich schon weg aus Leipzig. Eine entfleuchte Legende.
1905 konnte die Stadt der riesigen Musikinstrumentensammlung kein vernünftiges Domizil anbieten. Das soll vorkommen. Die großen Bildersammlungen fanden ja 50 Jahre zuvor auch nur ein Dach überm Kopf, weil der Kaufmann Franz Dominic Grassi der Stadt extra Geld für einen Museumsbau hinterließ. Sammeln allein ist für die Katz, wenn die Sammlungen nirgendwo vernünftig untergebracht werden können. Und jede Stadtverwaltung ist zu verstehen, wenn sie sagt: Nein, wollen wir nicht haben. Können wir uns nicht leisten.
Denn das vergessen Zeitgenossen auch meist: Wenn man erst mal in Verantwortung gegangen ist, stehen auch künftige Generationen in der Pflicht, müssen Personal und Licht und Reinigungskräfte bezahlen, große Depots bauen, die Technik erneuern oder gleich neu bauen. Leipziger Baugeschichte ist auch Baugeschichte von Museen. Auch in finanziell klammen Zeiten wie den 1920er Jahren, als sich die Stadt unter Oberbürgermeister Karl Rothe trotzdem entschloss, den Grassi-Museumskomplex zu bauen. In dem dann im Nordflügel auch die zurückgekaufte Sammlung von Paul de Wit ein Unterkommen fand.
Die damals noch einen Ruf hatte. Die Leipziger kannten die Sammlung, weil der Sammler und Händler Paul de Wit sie von 1893 bis 1905 im Bosehaus am Thomaskirchhof ausstellte. Ein Haus mit Geschichte, wie man weiß. Schon Goethe ging hier staunend durch die Zimmer – aber was er zu seiner Zeit bewunderte, war die berühmteste Gemäldesammlung der Stadt. Und heute ist das Bach-Museum drin. Wer hindurchspaziert, merkt, dass die große Sammlung des Musikinstrumentenmuseums hier garantiert nicht mehr hineingepasst hätte. Auch Paul de Wit hatte ja schon Platzprobleme und schon vor 1893 Früchte seiner Sammelleidenschaft entäußert.
Aber er konnte es nicht lassen. Dazu war er viel zu fasziniert von der Vielfalt des Instrumentenbaus. Er handelte nicht nur mit den Instrumenten, er hatte auch die erste Fachzeitschrift für diese Branche gegründet, die „Zeitschrift für Instrumentenbau“. Natürlich staunt da der Laie: So etwas funktioniert? Damals ganz sicher, denn nicht nur Leipzig war Musikstadt. Musik war elementarer Teil der bürgerlichen Kultur. Selbst gemachte Musik. In gut ausgestatteten bürgerlichen Haushalten standen qualitätvolle Musikinstrumente, die auch gespielt wurden. Musik aus der Konserve gab es nicht. Wer Musik haben wollte, ging entweder ins Konzert oder musizierte selbst. Oder lud Virtuosen zum Hauskonzert ein. Auch das war üblich. Eine Tradition, die heute die „Leipziger Notenspur“ wieder versucht mit Leben zu erfüllen. Was an seine Grenzen stößt, denn die meisten Bürger von heute haben keine geräumigen Salons mehr, in denen problemlos ein ganzer Flügel stehen kann.
Leipzig war nicht nur Ort der größten Musikverlage, hier waren auch dutzende weltbekannter Instrumentenbauer tätig. Bis zu 5.000 Leipziger hatten zeitweilig Beschäftigung im Instrumentenbau. Auch deshalb hatte Paul de Wit sein Geschäft in Leipzig.
Und auch deshalb sammelte er, weil er als Händler auch mitbekam, wie sich das Instrumentenbauen veränderte, wie moderne, industriell gefertigte Instrumente die alten Instrumente verdrängten. Selbst die barocken Instrumente waren längst aus den Orchestern verschwunden. Ein ganzes Stück Musikgeschichte drohte zu verschwinden. Wer heute das Musikinstrumentenmuseum besucht, sieht einen Teil dieser alten Vielfalt. Die es auch zu de Wits Zeiten schon wiederzuentdecken gab. „Alte Musik“ war für die großen Musiker der damaligen Zeit auch schon ein Thema.
Nur: Wie sah das aus? Wer besuchte dieses Museum am Thomaskirchhof? Wen interessierte das?
Das lag bislang im Dunkel der Geschichte. Wie so Vieles, was verschwunden ist. Es verwandelt sich in Legenden, die immer neu erzählt werden. So wie über Auerbachs Keller und seine Besucher. Seit Bernd Weinkauf freilich die Gästebücher des Restaurants aus dem 19. Jahrhundert ausgewertet hat, hat man eine Ahnung, wer da alles kam, trank, speiste, feierte. Gästebücher sind Fundgruben für Historiker. Und ein solches Gästebuch hat sich nun auch für de Wits Sammlung gefunden. Auf Umwegen kam es zu Brigitte Matzke, die sich hier die Mühe gemacht hat, über 3.000 darin verzeichnete Personen zu entziffern und ihre Biografien zu erforschen.
Als Teil des Bestandes der „Zeitschrift für Instrumentenbau“ muss das 200 Seiten starke Buch 1935 an den Musikwissenschaftler Hermann Matzke gekommen sein, der die Zeitschrift übernahm und ihren Sitz nach Breslau verlegte. So gelangte es an Winfried Matzke, der sich wohl wunderte, was seine Frau Brigitte mit dem Büchlein eines Tages anzufangen begann. Denn dass es das Gästebuch der Ausstellung im Bosehaus war, das musste auch Brigitte Matzke erst durch eingehende Recherche herausfinden. Und dann war sie sowieso schon mittendrin und durchsuchte die Weiten des Internets nach all den Personen, die sich in diesem Buch verewigt hatten.
Bei manchen Namen stutzt auch der musikwissenschaftliche Laie, denn Pablo de Sarasate oder Ferrucio Busoni – die tauchen auch in anderen Werken zur Jahrhundertwende um 1900 auf. Sie waren Stars in der Musikwelt. Und sie haben, als sie Leipzig besuchten, auch diese eindrucksvolle Musikinstrumentensammlung am Thomaskirchhof besucht. Was die Autorin logischerweise nur anspornte, auch die Biografien der anderen Besucher zu erkunden – und man staunt, was es da alles im Internet zu finden gibt. Sogar allein schon in der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Keine Überraschung ist es, dass es vor allem Persönlichkeiten waren, die mit Musik zu tun hatten: Musiker, Komponisten, Musikwissenschaftler, Instrumentenbauer, Musikpädagogen. Aber nicht nur die. Auch Interessierte aus aller Welt kamen: Kaufleute, Journalisten, Buchhändler, Industrielle. Musik war Allgemeingut. Auch wenn das Buch natürlich nicht verrät, ob sich tatsächlich alle Besucher eingetragen haben, oder nur die, die von Paul der Wit selbst begleitet wurden. Oder gar nur jene, die von weither angereist waren?
Einige Leipziger stehen drin – aber erstaunlich wenige. Was darauf hindeutet, dass sich viele Besucher gar nicht erst verewigten, vielleicht sogar öfter kamen. Gab es Öffnungszeiten? Musste man sich anmelden?
Henri Hinrichsen fehlt zum Beispiel, der 20 Jahre später mit Geld half, die Sammlung für Leipzig zurückzubekommen. Die Ausstellung muss auch im Leben der Musikstadt eine Rolle gespielt haben. Zusätzlich zu der Rolle, die in diesem Buch sichtbar wird. Denn dass so viele Besucher aus aller Welt kamen, erzählt ja nicht nur von den weltweiten Kontakten Paul de Wits, sondern auch vom Ruf der Sammlung. Die ja nicht die einzige ihrer Art war. Auch andere Sammler hatten begonnen, zur Geschichte der Musik zu sammeln. Man war sich sehr wohl bewusst, dass Kultur immer auch Wurzeln hat und das Vergangene immer auch Entdeckungen verspricht. Oder einmal so formuliert: Das gebildete Bürgertum begann eben nicht nur zu sammeln um des lieben Sammelns willen, sondern der Vergewisserung der eigenen Geschichte wegen. Das war damals eindeutig so. Man schien zwar völlig neu und unbeleckt unter den wohlhabenden Ständen und bastelte auch eifrig an einem zusammengebastelten Geschichtsbild (Romantik, Eklektizismus, nationale Mythen …).
Aber manche Leute betrieben diese Suche nach den eigenen Wurzeln mit wissenschaftlicher Kenntnis. Auch die Musikwissenschaft als solche wurde in dieser Zeit geboren. 1905 war man freilich noch nicht so weit, die Sammlung von Paul de Wit auch mit allen Kräften zu bewahren. Es war noch eine irrlichternde Zeit, was das betraf. Erst 1902 hatte man die alte Thomasschule abreißen lassen, den authentischen Wohn- und Schaffensort Johann Sebastian Bachs. Zuvor hatte auch schon Wagners Geburtshaus dran glauben müssen. Die Stadt war noch nicht so weit, alles um jeden Preis bewahren zu müssen (über den Denkmalschutz unserer Zeit hätten die Verantwortlichen wohl nur gelacht – man kann auch ins andere Extrem verfallen). Aber man war dann wenig später zumindest so weit, den Wert einer solchen Sammlung auch für die Musikstadt Leipzig zu sehen.
Das Bürgertum selbst hat sich seitdem verändert. Ohne Frage. Was die von Brigitte Matzke recherchierten Lebensschicksale betrifft, wird deutlich, was eigentlich einmal (Bildungs-)Bürgertum bedeutet hat, wie sehr der Besuch solcher Sammlungen zum Selbstverständnis dieser Weltreisenden gehörte, von Menschen, die man sich gut auch in den Gästebüchern von Auerbachs Keller vorstellen kann oder als Personen in Romanen von Heinrich und Thomas Mann. Kultur als Prestige- und Begegnungsfeld der alten adligen und der neuen kaufmännischen Elite. Es ist auch ein Blick in eine Gesellschaft, die kulturelle Bildung als Grundvoraussetzung für das gesellschaftliche Dasein begriff. Davon ist viel verloren gegangen, mitsamt dieser selbstverständlichen Weltläufigkeit, die hier sichtbar wird. Es ist jenes verlorene Zeitalter, von dem dann Stefan Zweig später schrieb in seinem brasilianischen Exil. Ein Stoff für Historiker, denn gleichzeitig war es die Zeit, als deutsche Großstädte wie Leipzig reich wurden und blühten und sich bewusst waren, dass eine Stadt ohne Kultur keine lebendige Stadt ist.
Brigitte Matzke hat die entschlüsselten Personen in mehrere große Blöcke geteilt, vor allem die Musiker und mit Musik Beschäftigten von den anderen Berufszweigen getrennt. Was es dem Leser erleichtert, die Zusammensetzung der Besuchergruppen zu verstehen. Zu jeder Kurzbiografie gibt es dann auch noch die Quellenverweise, wo man Informationen auch im Internet finden kann. Natürlich werden auch die Schicksale kurz angerissen, die die Besucher nach ihrer Stippvisite im Bosehaus hatten. Denn die Geschichte, wie man weiß, nahm nicht den kulturvollen Weg, sondern den martialischen. Was auch ein Grund dafür ist, dass dieses Leipzig um 1900 heute wie begraben liegt unter Bergen von historischen Ablagerungen. Mitsamt dieser de Witschen Ausstellung, die von 1893 bis 1905 am Thomaskirchhof zu besichtigen war.
Brigitte Matzke Die Anfänge des Musikinstrumentenmuseums in Leipzig, Sax Verlag, Markkleeberg 2016, 22 Euro.
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