Titel können so irritierend sein. Man wiegt das herrliche 600 Seiten dicke Buch in der Hand, sieht beim ersten Durchblättern schon lauter eindrucksvolle Fotos. Hier hat sich einer richtig tief hineingekniet in den Stoff. Und es ist spannender Stoff: Das pralle Leben einer sächsischen Residenzstadt im 16. Jahrhundert. Und dann so ein Titel!

Na ja, es liegt in der Zeit. Komplette Historikerensembles beschäftigen sich derzeit im Umfeld des 500-jährigen Jubiläums des Wittenberger Thesenanschlags mit der Reformation, mit den Handlungsorten Luthers und auch mit der Zeit davor. Wer selbst nicht religiös ist, der hört allerenden immer nur Kirche, Kirche, Kirche! Es ist zum Schreien und Weglaufen. Und es ist falsch. Denn es verklärt die Lutherzeit in einem heiligen Bimbam-Licht, tüncht alles mit Religion zu. Es stimmt schon: Die Zeitgenossen Luthers kamen an Kirche nicht vorbei. Aber Kirche durchwuchs den gesamten gesellschaftlichen Korpus auch deshalb, weil fast alle nichtsakralen Lebensumstände funktionell doch wieder ins Kirchenwesen einsortiert waren. Das war das eigentliche Problem dieser Zeit. Und als Luther seine 95 Thesen formulierte, gärte der Unmut schon seit über 100 Jahren. Diese permanente Präsenz und Einmischung von Papst und Klerus störte. Sie überzog den Kontinent mit Denkkorsetten, die nicht mehr zum Aufbruch passten, der den Kontinent erfasst hatte – den man Humanismus nennen kann, Renaissance, Frühkapitalismus, egal wie. Es gärte. Ein neues, bürgerliches Zeitalter wollte sich verwirklichen, gleichzeitig boten die alten Riten keinen Halt mehr.

Und Kennzeichen der Zeit waren Fürsten, die ganz bewusst das Neue förderten. So wie Friedrich der Weise, der nicht nur eine Universität gründete, sondern ganz bewusst auch Humanisten als Professoren nach Wittenberg holte. Wahrscheinlich nicht ahnend, wohin das alles führen würde. Aber Friedrich war ein typischer Renaissancefürst, der auch Staatskunst neu dachte und entsprechend handelte – klug beraten nämlich. Dafür hatte er sich Spalatin kommen lassen. Und auch seine Repräsentation war modern. Dafür holte er Cranach an seinen Hof und ließ seine Residenzen umbauen. Eine davon war Torgau, auch wenn der eigentlich eindrucksvolle Umbau von Schloss Hartenfels dann erst unter Johann Friedrich erfolgte. Aber nach seinem Sieg im Schmalkaldischen Krieg zog auch der albertinische Herzog Moritz hier ein, weil seine Residenz in Dresden nicht ansatzweise mit dem eindrucksvollen Bau in Torgau wetteifern konnte. Der modernere sächsische Landesteil war damals eindeutig der westliche, der der Ernestiner mit Weimar, Annaburg, Wittenberg und Torgau. Hier regierte Friedrich der Weise und galt schon aufgrund seines politischen Geschicks zeitweise als Kaiserkandidat. Ein Fürst, der das Format hatte, einen Luther bei sich zu wissen, der im Reich für vogelfrei erklärt war.

Und weil er diesen Luther machen ließ, wurde Kursachsen auch als erstes Land im Reich reformiert. Und zwar in einer erstaunlichen Geschwindigkeit, wie man am Beispiel Torgau studieren kann. Und Jürgen Herzog hat es getan. Berge von Akten hat er durchforstet, jede Menge Ratsakten, die fast alle Konflikte zeigen, die damals ausgetragen wurden zwischen Rat und Bürgerschaft, der Stadt und den Fürsten, mit Kloster, Pfarramt und Schule.

In Leipzig war damals noch nicht einmal dran zu denken, da wurde in Torgau schon tabula rasa gemacht. 1518 Lutherpredigt, 1523 Vollzug der Reformation, 1526 letzte Übernahme ehemals kirchlicher Institutionen. Damit waren zwar die Konflikte noch nicht ausgestanden. Auch die frühen Reformatoren waren keine Engel – so wie der von Luther empfohlene Pfarrer Gabriel Didymus, der sich aber als wesentlich diskutabler erwies als der engstirnige Nachfolger Mohr.

Das Buch ist logischerweise gespickt mit lauter Schicksalen und Anekdoten. So ganz beiläufig malt Herzog ein ganzes Panorama der Leute, die damals Torgau prägten und ausmachten. Immerhin eine Stadt, die deutlich größer und reicher war als etwa Wittenberg und Dresden. Und deren Bürgertum mit dem quasi gleich nebenan logierenden Fürsten sehr souverän umging. Denn wenn man vom Fürsten zu heftigen Steuern verdonnert wird, dann weiß man auch, warum der Herr so spendabel sein kann. Ist ja wie heute. Nur dass die Fürsten, die für Torgau in dieser Zeit eine Rolle spielten, echte Charakterköpfe waren. Leute, denen sehr bewusst war, dass sie Geschichte machten – und die das auch fürstlich zu inszenieren wussten. Die Hochzeit von Sibylle von Kleve mit Johann Friedrich 1526 kommt natürlich auch vor. Der Leser erfährt, wie viele Pferde Torgau da kurz mal zu beherbergen hatte, was an Wild und Bier und Wein gebucht wurde.

Der Wildreichtum der Torgauer (Dübener) Heide machte Torgau bei den Fürsten besonders beliebt. Aber als Leipziger versucht man ja auch zu verstehen, was diese Stadt so anders machte. Sie hatte keine Messe, kein reiches Handelsbürgertum. Was dann? Das ist fast das Erste, worauf Herzog zu sprechen kommt: Torgaus Reichtum war das Bier. Und am reichsten waren die Bürger mit den meisten Braurechten. Was ja eigentlich nichts Besonderes war: In allen mittelalterlichen Städten gab es solche Braurechte. Nur hatten die Torgauer augenscheinlich besseres Wasser oder bessere Gerste oder besseren Hopfen. Das steht bestimmt irgendwo zu lesen. Jedenfalls war Torgauer Bier so gut, dass auch die Leipziger ihr eigenes Gebräu lieber nur im Notfall tranken, dafür tausende Fässer Bier aus Torgau bestellten.

Und weil sich alles übers Bier definierte, taucht das im Buch auch immer wieder auf als klare Einordnung, ob eine der von Jürgen Herzog gewürdigten Figuren es nun geschafft hatte, nicht nur Torgauer Bürger zu werden, sondern auch in die Highsociety aufzusteigen. Was auch das ewig gleiche Gerede von den aus Wittenberg entsandten Reformatoren endlich auflöst. Hier erfährt man, dass Reformation immer auch bedeutete, für Pfarrer, Lehrer, Kantoren, Schuldiener erst einmal Existenzgrundlagen zu schaffen. Das alte Lehns- und Pfründenwesen löste sich auf. Das wird von den kirchlich verklärten Geschichtserzählern gern vergessen, dass die Reformation vor allem eine wirtschaftliche Umwälzung war. Vorher hatte die Kirche nicht nur die Kirchgebäude unterhalten, sondern auch Schule und Hospitäler. Das alles kam nicht nur materiell in die Verfügung der Städte – die mussten jetzt auch dafür sorgen, dass die Leute bezahlt wurden. Der Gemeine Kasten wurde in Torgau schon früh eingeführt. Auch aus blanker Notwendigkeit, denn 1523 waren die einst üppigen Altar- und Klosterspenden weg. Die Bürger hatten sehr schnell begriffen, was Luther meinte, wenn er davon sprach, dass man sich von seinen Sünden nicht loskaufen könne.

Aber sie lernten auch, dass man trotzdem für die soziale Sicherung der Stadt sorgen musste. Und da die Reichen dafür besonders viel spendeten, waren sie natürlich auch darauf aus, ihrer neuen Rolle ein eindrucksvolles Bauwerk zu setzen: Für ihr stolzes Renaissancerathaus haben sich die Torgauer hoch verschuldet. Es ist tatsächlich fast die gesamte Stadt Torgau, die Jürgen Herzog hier in der Lutherzeit porträtiert und die Einzelstränge in neun große Kapitel packt. An der Baugeschichte, die Torgau bis heute prägt, kommt er natürlich nicht vorbei. Auch nicht an den Handwerksständen, dem Markttreiben (ja, wo kauften denn die Torgauer ein?) oder an der Landwirtschaft. Denn in weiten Teilen war Torgau auch noch ein typisches sächsisches Ackerbürgerstädtchen. Auch in der Stadt blökte und quiekte es. Und auch die reichen Torgauer besaßen Ackergüter, Weinhänge und/oder große Gärten.

Eigentlich sind es staubtrockene Akten, aus denen Herzog das alles filtert. Und für echte Liebhaber der damaligen Aktensprache hat er hunderte Texte umfangreich zitiert. Aber auch wenn sich in städtischen Akten niemals das ganze Leben niederschlägt, bekommt man doch ein sehr plastisches Bild dieser Stadt im frühen 16. Jahrhundert, erst recht vom Ärger des Torgauer Rates, der mit der Reformation natürlich einen Haufen Arbeit und Sorge mehr auf den Tisch bekam. Da musste man sich kümmern. Und zwar schnell und möglichst unbürokratisch. Viel ist von der Lateinschule die Rede. Aber man erfährt auch, dass die meisten Torgauer diese Schule gar nicht besuchten. Auch für Leipzig war ja das Erweckungserlebnis jüngst sehr spürbar: Wer wirklich was „fürs Leben“ lernen wollte, besuchte eine der freien Schulen, abschätzig Winkelschulen genannt, weil da deutsch gelehrt und gelernt wurde und so ein schnödes Fach wie Mathematik.

Jahrelang taten die Regionalhistoriker so, als wären die Lateinschulen die eigentlichen Bildungsstätten der Städte gewesen. Waren sie aber nicht. Dazu waren ihre Ansprüche viel zu hoch. Dorthin kamen die Söhne aus betuchten Bürgerhaushalten erst, wenn sie überhaupt schon einen Fundus an Grundwissen hatten. Denn da ging es dann auf Latein und Griechisch weiter. Diese Schulen galten immer als Orte der höheren Bildung, die auch aufs Studium vorbereiteten. Kinder aus Handwerker- und Bauernfamilien (die auch in Torgau die Mehrheit stellten), gingen nicht auf diese Schule. Mädchen erst recht nicht. Wobei Herzog sehr ausführlich von der Torgauer Jungfrauenschule erzählen kann. Natürlich auch zur Lateinschule, die sich inhaltlich ebenfalls radikal wandelte und fortan das humanistische Bildungsgut durchexerzierte – von Cicero bis Erasmus von Rotterdam.

Eine Zeitung gab es leider noch nicht zu dieser Zeit, so dass die geistige Revolution dieser Jahre immer nur punktuell aufleuchtet – etwa wenn augenscheinlich der Torgauer Rat selbst einen wilden Überfall auf das Franziskanerkloster inszeniert. Die Mönche wollte man schon gern schnell loswerden – die Gebäude und den Platz innerhalb der Stadtmauern aber konnte man gut gebrauchen. Denn Torgau wuchs und florierte – auch durch die regelmäßig im Schloss weilenden Fürsten.

Man ahnt, was sich die Torgauer da aufgeladen hatten, als sie nun die Verantwortung für Schule, Kirche und Spital übernahmen. Auch das ist Reformation: Übernahme von mehr Verantwortung durch die Bürgerschaft. Die Zeit der Almosen und Ablässe war vorbei. Jetzt musste auf Gulden und Groschen erwirtschaftet werden, was man fürs funktionierende Gemeinwesen ausgeben konnte. Oder für Stipendien. Selbst Luther schrieb reihenweise Bittbriefe, dass man diesen oder jenen Buben zum Studium mit einem Stipendium ausstatten möge. Der Torgauer Rat entschied sich oft anders.

Was Jürgen Herzog gelingt, ist tatsächlich das facettenreiche Bild einer durchaus selbstbewussten sächsischen Stadt zu zeichnen, deren Bürgertum ohne viel Federlesens die Chance ergreift, das Gemeinwesen zu modernisieren und damit auch zu entkirchlichen. Und es verblüfft schon, wie schnell die Torgauer auf Altäre, Wallfahrtskapellen und alte Rituale verzichteten. Stellvertretend für den Typus dieses zupackenden Bürgers, der einfach handelt, wo andere noch disputieren, steht eben jener Leonhard Köppe, der dadurch berühmt wurde, dass er die Nonnen aus dem Kloster Nimbschen nach Torgau brachte. Nur der Legende nach wohl in Heringsfässern. Jürgen Herzog widmet Köppe und seinen zwei Klosteraktionen mehrere Seiten, geht aber auch darauf ein, wie intensiv die Beziehungen Köppes nach Wittenberg waren. Im Torgauer Rat saß er außerdem, war zeitweilig Schösser in kurfürstlichen Diensten. Und nach Nimbschen hatte er mehr als nur Handelsbeziehungen, die er sich mit seiner „Nonnenentführung“ sogar verdarb. Das Kloster bestellte fortan sein Bier nicht mehr in Torgau und kaufte lieber auf dem Leipziger Markt ein.

Gerade weil Herzog solche kleinen Hinweise nicht weglässt, bekommt man ein sehr umfassendes Bild vom Leben im damaligen Torgau. Und wo man beim Titel noch an lauter Frömmigkeit denkt, hat man am Ende das Rattern der Wagenräder im Ohr, das Poltern der Bierfässer und das Gemurmel im Rat, wenn die reichen Stadtbürger darüber beraten, was sie dem neuen Pfarrer eigentlich zahlen können, ohne dass der Gemeine Kasten schon wieder leer ist.

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