Eigentlich war 2016 kein Alfred-Brehm-Jahr. Aber es erschienen dennoch zwei Alfred-Brehm-Bücher in Leipzig. In Zeit- und Selbstzeugnissen rekonstruierte Hans-Dietrich Haemmerlein das Leben des berühmten Tierforschers für den Sax Verlag. Die Edition am Gutenbergplatz hat jetzt einen Titel in ihr Programm aufgenommen, der 1984 erstmals im Leipziger Brockhaus-Verlag erschienen war.
Damals unter dem Titel „Fremde Länder, wilde Tiere. Das Leben des ‚Tiervaters‘ Brehm.“ Diesen Titel hat der Autor und Historiker Wolfgang Genschorek noch einmal überarbeitet, um ihm ein würdiges Plätzchen in der 2011 gestarteten Reihe „Leipziger Manuskripte zur Verlags-, Buchhandels-, Firmen- und Kulturgeschichte“ zu geben. Die Reihe hat Zeug zu Großem, wenn man bedenkt, wie viele Persönlichkeiten allein aus dem Verlagswesen der Stadt und aus dem Wissenschaftsbereich eine spannende Biografie vorzuweisen haben. Die nur noch erzählt werden müsste. Der Brockhaus Verlag hat damals eine ganze Reihe profunder Wissenschaftlerbiografien veröffentlicht. Genschorek hat zum Beispiel auch noch die Biografie „Carl Gustav Carus. Arzt, Künstler, Naturforscher“ dazu beigesteuert.
Eine Biografie, die sich mit der Alfred Brehms überschneidet, so, wie sich damals im 19. Jahrhundert viele namhafte Biografien von Verlegern, Forschern und Autoren in Leipzig überschnitten. In der Edition am Gutenbergplatz, die die Traditionen des Teubner Verlages hochhält, weiß man das. Auch wenn Alfred Brehm eher zum Bibliografischen Institut gehört, wo sein „Thierleben“ ab 1863 erschien. Aber das gibt es ja auch nicht mehr, genauso wenig wie Brockhaus.
Natürlich musste Genschorek seine Brehm-Biografie tüchtig überarbeiten, neue Erkenntnisse einbauen, alte Phrasen rausschmeißen. Man merkt es an ganz wenigen Stellen noch, dass Biografie-Schreiben in der DDR kein Zuckerschlecken war. Man musste irgendwie die offizielle Phraseologie bedienen, den Klassenkampf selbst in Lebenswege hineininterpretieren, in denen er gar nicht vorkam, und vor allem die Porträtierten irgendwo zu tapferen Vorkämpfern einer lichten Zukunft stilisieren. Und bei Brehm kam noch verschärfend hinzu: Er reiste auf seinen Expeditionen durch Gegenden, die 1984 zum siegreichen Bruderstaat Sowjetunion gehörten. Den man nicht verärgern durfte, indem man zu viel Kritik an den Zuständen übte, die dort 1876 herrschten, als Brehm zusammen mit Otto Finsch die große Bremische Sibirienexpedition unternahm.
Noch stärker als Haemmerlein geht Genschorek auf die Strapazen ein, die Brehm bei all seinen Expeditionen auf sich nahm. Schon die erste 1847 bis 1852 nach Ägypten und in den Sudan war eine Tortur. Man war auf die Transportmittel der Region angewiesen, übernachtete in den primitiven Unterkünften vor Ort, die Ausrüstung bestand aus dem, was man schleppen konnte. Auf Kamelen und Maultieren war Brehm unterwegs, erlebte Wüstenstürme, Sümpfe, Mückenschwärme und den Verlust seines Bruders. Und schon auf der ersten Expedition steckte er sich mit Malaria an – und wagte sich trotzdem immer wieder in jene Erdzonen, in denen die Krankheit bei ihm erneut ausbrach und ihn fast arbeitsunfähig machte. Zuletzt bei einer Vortragsreise in den USA, die vom Tod eines seiner Kinder überschattet war. Bis zuletzt hat sich der so robust wirkende Mann viel zugemutet. Er war ein Arbeitstier, einer, der sich nicht kleinkriegen ließ. Selbst wenn er in einer gottverlassenen Ecke der Welt scheinbar festsaß. Anrufen konnte er niemanden. Lösungen musste er vor Ort finden. Und das ist eigentlich die nicht überlesbare Botschaft, die schon damals in all seinen Reiseberichten steckte und die sich heute so aktuell liest: Nicht nur die Tiere boten ihm Trost und Aufmunterung. Er fand bei allen Menschen, die er in dieser „Wildnis“ traf, Unterstützung, Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft. Nur das Auftreten der Europäer erinnerte ihn – in Afrika genauso wie in Sibirien – daran, wie wenig Vorbild die auf Gewinn und Eigennutz versessenen Europäer dort in der Fremde eigentlich waren.
In seinen Schriften und Tagebüchern geht es nicht nur um Tiere. Auch Menschen und Landschaften hat er genau beobachtet und beschrieben. Seine Bücher machten schon weit vor Erfindung des „Thierlebens“ Furore, weil er lebendig und mit Temperament beschrieb, was er in fernen Länden gesehen und erlebt hatte. Dass Genschorek den Ornithologen so betont, hat mit Alfreds Vater, dem Pfarrer Christian Ludwig Brehm zu tun, der dem Sohn die Faszination der Thüringer Vogelwelt beibrachte und selbst einer der frühen systematischen Vogelkundler in Deutschland war. Man reist ja mit den Brehms auch in ein frühes Stadium der Vogelkunde, als viele wissenschaftliche Grundlagen erst erarbeitet werden mussten. Als aber auch diese eine, alles umstürzende Idee so langsam heranreifte, die Charles Darwin dann formulieren sollte. Und Alfred Brehm würde einer der Ersten sein, die Darwins Idee in Deutschland populär machen würden. Und auch hier stolpert man über ein Phänomen, das heute wieder aktuell zu sein scheint: Er erntete dafür boshafteste Anfeindungen.
Manchmal staunt man schon, wie modern so eine Biografie auf einmal wirken kann – und wie vertraut einem so ein unermüdlicher Mann wird, der auf starre Glaubenslehre nichts gab, sondern die Beobachtung der Wirklichkeit zur Maxime des Forschers machte. Genau das, was seine „Thierleben“ dann zum Erfolg werden ließ, auch wenn ihm manche Kritiker die Vermenschlichung der Tiere vorwarfen.
Ein echter Spagat. Wer wissenschaftliche Texte lesen muss, weiß, wie dröge, theoretisch und langweilig viele Arbeiten sind, gespickt mit Fachtermini, die Wissenschaftlichkeit oft nur vorgaukeln und die Gehaltlosigkeit des Textes kaschieren. Da ist es mutig, wenn einer wie Alfred Brehm vorprescht und gerade das will: verständlich, lebendig und anschaulich erzählen und den Lesern dabei ein wirklich greifbares Bild vom Leben der Tiere geben. Das hat die sechs Bände des „Thierlebens“ zu seiner Zeit zum Bestseller gemacht (auch wenn es für den Autor noch längst keine Sicherung des Familienunterhalts war). Und das macht diese Texte bis heute berühmt. Mancher hat die alten Auflagen noch im heimischen Bücherregal, mancher freut sich, wenn er da und dort mal eine Auswahl mit Brehms besten Tierschilderungen findet.
Seinen Platz in der Wissenschaftsgeschichte hat sich Brehm genauso verdient wie den in einem Bereich, um den sich viele Forscher gar nicht kümmern: der Popularisierung der neuesten Erkenntnisse. Deswegen kleckern weite Teile der Gesellschaft dem Stand der Forschung meist um Generationen hinterher, wenn sie nicht ganz und gar in den dumpfen Welten der Unwissenschaftlichkeit hausen und glauben, das sei nur eine ebenso berechtigte Meinung.
Es braucht auch heute noch die Könner, die fähig sind, wissenschaftliche Entdeckungen so zu erzählen, dass auch Nicht-Experten verstehen, wie unsere Welt funktioniert. Was – wenn es gelingt – viel aufregender und spannender ist als jeder neue Aufguss, die Weltgeschichte aus der Bibel destillieren zu wollen. Brehm war einer, der es konnte, vor allem auch, weil er die Tiere und Landschaften aus eigener Anschauung kannte.
Heute wird die Erinnerung an Brehm in der Brehm-Gedenkstätte in Renthendorf gepflegt, wo Brehm seine letzten Jahre verbrachte. Das Haus wird gerade saniert, um es künftig wieder zur Pilgerstätte der Brehm-Freunde zu machen. Darauf weist das Buch am Ende noch kurz hin. Denn vergessen ist Alfred Brehm nicht.
Wolfgang Genschorek Alfred Brehm (1829-1884), Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2016, 19,50 Euro.
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