Buch um Buch schreibt der Leipziger Tino Hemmann und veröffentlicht es auch gleich in seinem Verlag. Was Nachteile hat – denn so entgeht er der Aufmerksamkeit des großen Feuilletons, das bestimmt, welche Bücher und Themen als relevant zu gelten haben – und welche nicht. Dabei beschäftigt ihn nichts so sehr wie die Verstörungen unserer Gesellschaft. Die echten, die das Leben zur Hölle machen können. Gerade das von heranwachsenden Jungen.

Man muss nicht lange suchen, um in den immergleichen Medien die immergleichen dummen Vermutungen über die „Benachteiligung von Jungen“ zu finden. Oft werden dann wieder Frauen und Lehrerinnen für das Drama verantwortlich gemacht. Sündenbock gefunden, alle glücklich. Wieder ein unangenehmes Thema abgehakt.

Aber das Drama ist fest eingebaut in unsere Gesellschaft. Es ist ein blinder Fleck – unter vielen blinden Flecken. Hemmann gestaltet es in SF-Romanen, in Krimis, in Jugendbüchern. Er zeigt Jungen als Opfer. Nicht nur schwache Jungen, die in sensiblen, aber zumeist sehr knurrigen Kommissaren eine Art Retter finden. Auch in Jungen, die eigentlich stark sind und alle Bedingungen erfüllen, um eine der heute von Heranwachsenden erwarteten Rollen zu erfüllen. Denn was immer wieder ausgeblendet wird: Eine Gesellschaft, die von sich selbst nichts weiß, prägt lauter oberflächliche Rollenbilder – und setzt sie mit aller Gewalt auch durch. Mit psychischer Gewalt übrigens genauso wie mit physischer.

Indianer weinen nicht. Jungen zeigen keine Schwächen. Wer sich nicht wehren kann, wird zum Opfer gemacht. Jungen wissen eigentlich sehr genau, welche Gewalt unsere ganz offizielle Lebensart – manche Leute nennen das ja „unsere Kultur“ – auch schon auf junge Menschen ausübt, wie sie das „Recht des Stärkeren“ schon in den Schulen manifestiert, die ganzen neo-darwinistischen Denkweisen, die unsere Gesellschaft zu einer Leistungsgesellschaft machen, die sogar das Heranwachsen zu einem „Struggle of Life“ machen. Polizisten, Lehrer, Sozialarbeiter können ein Lied davon singen.

Denn wenn das Muster schon junge Menschen formt, dann prägt es auch die ganze Gesellschaft. Dann beginnt das große Lügen, Protzen und Nicht-wahr-haben-Wollen.

Und es entstehen jene Dramen, aus denen Hemmann seine Geschichten baut, auch wenn er sich mit viel Phantasie immer wieder bemüht, seine Leser erst einmal auf die falsche Fährte zu führen. In diesem Fall eine Zeitreise-Fährte, die eine junge Lehrerin und eine Gruppe ausgewählter Schüler in eine augenscheinlich vom Krieg verheerte Zukunft führt, wo sie auf sich allein angewiesen sind und auf einmal gezwungen, sich mit dem Unausgesprochenen zu beschäftigen.

Auch das lässt Hemmann lange unbenannt, deutet nur an, dass die toughe und sensible Lehrerin dieses eigenartige Experiment nicht ohne Grund gestartet hat. Und dass auch die Schüler in dieser Gruppe nicht zufällig dabei sind. Nicht nur, weil sie das Wissen um ein tragisches Ereignis vereint, sondern weil sie auch sonst in ihrer Klasse Außenseiter sind. Aus unterschiedlichen Gründen. So wie Daniel, der sein Heil in der Rolle als arroganter Jungnazi sucht und auch seine Lehrerin mit jenen eisigen Brocken rechtsradikaler Überheblichkeit schockt, die keine Verständigung mehr möglich machen. Nur so am Rand: Sehr einfühlsam zeigt Hemmann, warum gerade diese Arroganz eines komplett geschlossenen Weltbildes für junge Männer wie eine Panzerung ihrer (verbotenen) Gefühle wirkt. Sie müssen sich künftig nicht mehr mit all den Irritationen der Beziehungen beschäftigen, die das Leben für sie bereithält. Sie panzern sich mit einem Weltbild der unhinterfragbaren Überlegenheit. Entsprechend irrational wird dann aber auch Daniels Umgang mit dem Problem, das die Gruppe beschäftigt, und dem er mit Gewalt und Missbrauch beizukommen versucht.

Und da er seine Rücksichtslosigkeit auch dazu nutzt, die Schwächeren in der Gruppe zu erpressen, hat Vanessa Franken als Lehrerin natürlich ein Problem. Denn hier in der Einsamkeit verliert sie ihre Autorität, greifen auf einmal die rabiaten Vorstellungen des „Stärkeren“. Ein wenig ist dieses Buch auch Tino Hemmans kleine Verneigung vor Goldings „Herr der Fliegen“.

Nur dass die Zerstörung der Gruppe nicht vom machtbesessenen Daniel ausgeht, der es längst schon mit Polizei und Justiz zu tun bekam, weil seine gewalttätigen „Lösungen“ nun einmal echte Straftaten waren, sondern von einem Akteur, der nicht mal zur Gruppe gehört, der aber in gewisser Weise stets präsent ist und seine ganz eigene Arroganz als Unantastbarer auslebt. In diesem Fall nicht der Arroganz des Underdogs, der sich die Rolle des brutalen Schlägers zulegt, sondern die Arroganz des gesellschaftlich Erfolgreichen, der glaubt, sich an Schwächeren ungestraft vergreifen zu können.

Dass dabei besonders Jan, der Junge aus einer Alkoholikerfamilie, besonders in Gefahr schwebt, ist kein Zufall. Er schreibt zwar ein kluges und sehr scharfsinniges „Wiki seines Lebens“  – aber tatsächlich ist er schutzlos. Was auch der Leser spürt, wenn er mit Vanessa Franken seine Aufzeichnungen liest, die ausgerechnet die Schreib-AG der Schule nicht lesen will, weil die Texte zu obszön sind. Sind sie nicht. Sie sind eher von entwaffnender Ehrlichkeit, auch wenn sie die eigentlichen Verletzungen verbergen hinter lauter klugen Erklärungen. Auch eine Art Tarnung. Eine von vielen, zu denen die jungen Anwärter auf unsere „Leistungsgesellschaft“ gezwungen sind, wenn sie überleben wollen.

Es geht zwar am Ende irgendwie um den Täter, der für das Unausgesprochene in dieser kleinen Gruppe letztlich verantwortlich ist. Aber eigentlich geht es Hemmann auch diesmal wieder um eine mitfühlende Analyse, um einen Blick auf das so systematisch Zerstörerische im Leben vieler Jungen, in dem sie mit falschen Rollenbildern, Erwartungen und Ansprüchen konfrontiert werden und der Anpassungsdruck dafür sorgt, dass die einen zu aalglatten oder brutalen „Gewinnern“ werden und die anderen zu vermeintlichen „Opfern“.

Die Frage, die Hemmann umtreibt, ist natürlich: Wie vermeidet man diese Vereinnahmung, ohne dabei seine Menschlichkeit einzubüßen und selbst zum Täter zu werden? Wie bewahrt man sich auch als Junge Mit-Gefühl, Verständnis und Neugier? Ohne dabei zerstört zu werden?

Das ist ein ganz großes Thema, das weit über diese Geschichte hinausgeht, die scheinbar so einfach im Schulalltag der Beteiligten beginnt und am Ende immer dramatischer wird, auch weil sich alle Beteiligten die Frage stellen müssen, wie viel Verantwortung jeder Einzelne für das Geschehene hat – und dafür, wie es weitergeht.

Am Ende interessiert einen nicht mal der feige und hochnäsige Täter, sondern eher die Frage, die Hemmann schon bei der Auswahl der Gruppe assoziiert: Haben diese Jugendlichen tatsächlich keine Chance auf ein glückliches Leben in unserer Gesellschaft? Kann es sein, dass die Depressionen unserer Möchte-gern-Siegergesellschaft hier ihre Wurzeln haben? All diese seelischen Verletzungen, die die einen krank machen und die anderen immer rücksichtsloser?

Hemmanns Romane wirken immer wieder, als würde er die Dystopie einer anderen Welt beschreiben, die der unseren ähnlich ist, aber nicht unbedingt deckungsgleich. Aber wenn man sich die von ihm gezeichneten Konflikte anschaut, merkt man, dass es tatsächlich unsere Gesellschaft mit all ihren Lügen und ihrer falschen Moral ist, die er exemplarisch an einer Heldengruppe schildert, die als problematische Gruppe immer ausgeblendet wird: heranwachsende Jungen, deren Gefühle und Wünsche mit Erwartungen kollidieren, die man harmlos als totale Verleugnung bezeichnen könnte.

Und man darf sich wirklich fragen: Was  passiert mit einer Gesellschaft, die ihre Kinder derart systematisch zum Verleugnen ihrer selbst zwingt? Die vor allem Rücksichtslosigkeit und „Stressresistenz“ belohnt und ziemlich früh all jene bestraft, die sich dieser Uniformierung verweigern?

Muss man ja mal fragen dürfen. Und zwar ernsthaft.

Tino Hemmann Die Zeit schlägt ihre Ratten tot, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2016, 9,99 Euro.

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