Nach einem Berg von Büchern aus christlicher Sicht zur Reformation und zum Thesenanschlag von 1517 zeigt dieses Buch die ganze Geschichte mal aus Sicht eines Historikers und Kulturjournalisten, der eine ganze Menge am Luther-Kult mit sehr skeptischem Blick betrachtet. Und aus eigener Kenntnis. Denn den Raum, den er beschreibt, hat er selbst bereist: Mitteldeutschland.
Denn nur um Mitteldeutschland geht es hier, jene kompakte Landschaft, in der sich die ganze Luther-Geschichte zum größten Teil abgespielt hat. In der aber auch alle Konflikte ausgetragen wurden – mit zum Teil überraschenden Grenzen und grenzüberschreitenden Konflikten. Denn ganz so einfach, wie dieser Zeitensprung meistens erzählt wird, fand er gar nicht statt. Von 1991 bis 2008 war Günter Kowa Kulturredakteur der „Mitteldeutschen Zeitung“ in Halle. Das ist der richtige Job, um einmal alle Schau- und Wunderplätze im mitteldeutschen Raum kennenzulernen, die heute in die diversen Lutherwege eingebunden sind. Und was nicht eingebunden ist, fällt irgendwann trotzdem auf, weil natürlich jede kleine und große Stadt in diesem Raum versucht, sich einerseits historisch zu profilieren, andererseits sich aber auch in die großen Erzählungen der Region einzuordnen.
Da stolpert man irgendwann immer über Luther. Und wenn er selbst nicht da war, dann waren es entweder seine Mitstreiter und Schüler – oder, was hier meist vergessen wird: seine Gegenspieler. Die der Professor aus Wittenberg übrigens nicht nur im katholischen Lager hatte. Womit man bei der ersten Vereinfachung wäre. Es ging nicht nur um die neue evangelische Lehre gegen die alte papstische Hierarchie. Es ging nicht nur um die Frage der Treue zum Kaiser (über die sich das Schicksal Kursachsens entschied). Luther selbst hat es früh genug erfahren, was für eine Lawine er da losgetreten hatte. Denn wenn nicht mehr der Papst die allein gültige Autorität ist, dann ist es die Bibel.
Aber schon im Streit mit Calvin und Zwingli erlebte Luther selbst ja, dass selbst die Bibel unterschiedlichste Interpretationen zentraler Glaubensbereiche zulässt. Und dass man sich darüber dauerhaft zerstreiten kann. Aber so groß wie im Buch „Europa reformata“ zieht es Kowa nicht auf. Denn all das, was die protestantische Welt bis heute in einen Flickenteppich der Interpretationen verwandelt, ist genauso im kleinen Raum Mitteldeutschland passiert. Mit allen Extremen, wofür Thomas Müntzer nur das berühmteste Beispiel ist. Vielleicht sogar das Spannendste. Wobei Kowa zusammen mit dem Fotografen Henning Kreitel nicht nur Müntzers Wirkungsorte Allstedt, Zwickau, Mühlhausen und das Schlachtfeld bei Frankenhausen besucht. Er setzt sich auch mit der durchaus eindimensionalen Einvernahme Müntzers in der DDR-Geschichtsschreibung auseinander und der Frage, ob in diesem Radikaltheologen tatsächlich auch nur eine Spur des hineingedeuteten (Früh-)Kommunismus zu finden ist – oder etwas völlig anderes: eine utopische Sehnsucht nach einem gerechteren Weltzustand, die ihr Vorbild (neben der Bibel) vor allem in einer Verklärung der Vergangenheit sah.
Es ist nicht das einzige Kapitel, in dem sich Kowa kenntnisreich mit der politischen Einvernahme bestimmter Geschichtskapitel beschäftigt. Im Fall Wittenberg muss er ja sogar immer wieder darauf kommen, denn das heutige Wittenberg ist ja vor allem die moderne Rekonstruktion eines im 19. Jahrhundert durch die Hohenzollern geschaffenen Reformations-Gedächtnisses, das vor allem eine ideologische Einvernahme des „großen Deutschen“ Luther war. Eine Figur, die an vielen Orten des Lutherweges noch präsent ist. Und da Kowa auch noch Kunsthistoriker ist, sieht er viele dieser Gedächtnisorte doppelt kritisch. Nicht nur, dass oft genug eine heldenhaft falsche Luther-Figur konstruiert wurde, auch die Orte selbst stimmen oft genug nicht. Mal hat man das falsche Haus erwischt, noch viel öfter aber mit dem Historisierungsdrang des späten 19. Jahrhunderts erst die Bühne geschaffen, die heute als scheinbar authentische Luther-Kulisse zu besichtigen ist. Das Wort Disney-Land vermeidet Kowa. Aber mit journalistisch bärbeißiger Konsequenz nimmt er all die vorgefundenen Rekonstruktionen auseinander.
Die aufwendige Suche nach den wirklich originalen Spuren der Luther-Zeit war tatsächlich erst den letzten 25 Jahren vorbehalten, was da und dort zu einfühlsamen Sanierungen führte, zu vorsichtigen Korrekturen oder – was wohl mehr Sinn macht – modernen Repräsentationsformen, die beides sichtbar machen: das von der Zeit mitgenommene Original und die kühnen Neukonstruktionen späterer Zeiten.
Wer mit Günter Kowa unterwegs ist, merkt bald, wie sehr alle uns heute gezeigten historischen Ambiente späte Konstruktion von Geschichte sind. Wir sehen kaum noch irgendwo das spätmittelalterliche Mitteldeutschland, in dem Luther wirkte, dafür vordergründig die spätromantische Erfindung von deutscher Geschichte, wie sie aus der Perspektive des frisch zusammengeschmiedeten Deutschen Reiches von 1871 sein sollte.
Was erst einmal noch nicht begründet, warum das Buch nun den Titel „Gespaltene Welt“ trägt. Denn gerade Mitteldeutschland gilt ja heute durch und durch als protestantisches Kernland (vom Eichsfeld und der Lausitz mal abgesehen). Selbst Herzog Moritz, der „Judas von Meißen“, taktierte zwar politisch auf wechselnden Seiten, war aber letztendlich genauso Verfechter des Luthertums wie seine Standesgenossen im unterlegenen ernestinischen Sachsen, in Mansfeld, Brandenburg und Anhalt. Aber da wird es schon spannend. Denn während Kowa im ersten Teil des Buches wirklich Luther, die Seinen und den Erfolg der Reformation in dutzenden eindrucksvollen Orten sichtbar macht, und danach auch ein wenig die „Altgläubigen im Widerstand“ zeigt, schwenkt er mit Zwickau ab in ein Kapitel, das in Büchern zur Reformation meistens weggelassen wird.
Hier taucht Müntzer erstmals auf und man bekommt einen ersten Eindruck davon, welche Eigendynamik Luthers Bemühen ausgelöst hat. Denn wer so mutig allein den Glauben und allein die Schrift zur Grundlage der gelebten Religion macht, der ermutigt Menschen auch zum eigenen Denken, Suchen und Interpretieren. Was Luther eigentlich wusste, denn wie hart man ringen konnte um die Auslegung der Bibel, erlebte er ja (zumindest aus der sicheren Feste Coburg) mit, als um den Augsburger Religionsfrieden gerungen wurde und Luthers Freund Melanchthon auslotete, wie weit auch die protestantische Seite bereit war, Kompromisse einzugehen, um die Einheit der Kirche zu bewahren. In diesem Fall war es die päpstliche Seite, die sich stur stellte. In anderen Fällen war es Luther selbst oder waren es später die orthodoxen Lutheraner. Was in Sachsen ja bekanntlich fast zum Schisma geführt hätte, weil in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein orthodox gewordenes Luthertum auf den wesentlich kompromissbereiteren Philippismus traf, der auf Luthers Mitstreiter Philipp Melanchthon zurückging, der Vieles nicht so streng und eng sah wie Martin Luther.
Und das öffnete auch Türen für den Calvinismus. Und da staunt der Laie, der sich noch nie mit deutscher Kleinstaaterei beschäftigt hat, wie unterschiedlich die Entscheidungen der Fürsten, Grafen und Herzöge in diesem Flickenteppichzipfel von Deutschland ausfielen, wenn es darum ging, dem eigenen Volke nun eine (neue) Religion zu verpassen. Typischstes Beispiel dafür ist für Kowa Mansfeld mit den drei Burgen auf dem Bergsporn, in denen fünf Linien der Mansfelder Grafen zeitgleich residierten, völlig zerstritten, so dass sie den alten, kranken Luther sogar noch als Mediator bestellten. Was am Ende nichts half, nur Luthers Tod in Eisleben bedeutete. Natürlich waren sie auch in Religionsfragen zerstritten. Ganz ähnlich war es in Anhalt, wo die Fürsten zu einer Spielart des Calvinismus tendierten, sich aber mit dem grimmigen orthodoxen Nachbarn Sachsen nicht anlegen wollten. Trotzdem brach sich hier auf exemplarische Weise etwas Bahn, was erst im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung zum Standard werden sollte: ein wirkliches Toleranzdenken.
Man könnte es auch in aller Schönheit besichtigen, wären nicht die beiden Hauptorte dieses toleranten Kleinfürstentum im 2. Weltkrieg fast völlig zerstört worden: Dessau und Zerbst. Wobei die Grenzen fließend sind. Denn Wege jenseits des Luthertums beschritten auch neue „Religionsstifter“, die die Bibel in einem noch viel frömmeren und radikalen Sinn interpretierten – wozu auf jeden Fall die Pietisten stehen (deren Wirken man in den Franckeschen Stiftungen in Halle noch besichtigen kann), die Schwenckfelder in Berthelsdorf (die dann doch lieber nach Amerika auswanderten) und die Herrnhuther, die eine Bibelauslegung bevorzugten, die an Vieles erinnert, was man heute im amerikanischen Bibelgürtel erleben kann.
Auf einmal hat man also einen ganzen Fächer von Glaubensauslegungen vor sich und eine Welt, in der sich Menschen immer wieder neu orientieren mussten – und Leib und Leben in Gefahr brachten, wenn sie dabei doch die radikaleren Visionen eines Thomas Müntzer bevorzugten. Gegen den dann auch Luther wetterte auf unnachahmliche Art. Was ihm heute gern vorgehalten wird, gerade sein drastischer Ton.
Das wieder ist Luthers Pech, dass seine Schriften nur als Teil seines Werkkanons betrachtet werden, nicht als Reaktion auf Ereignisse des Tages, Streitschriften der Gegenseite und vor allem die Not, immer auch die evangelische Sache selbst verteidigen zu müssen. Kowa erzählt diese Hintergründe mit. Und damit wird natürlich noch deutlicher, dass man Luther und die Reformation nicht so einseitig feiern und erzählen kann, wie das oft geschieht. Der Thesenanschlag löste eine ganze Flut von Ereignissen und Gegenbewegungen aus, die Jahrzehnte anhielten und bis in die Gegenwart immer neuen Deutungen unterliegen.
Und viele dieser Ereignisse sind aus dem Fokus der Historiker gerutscht. Erst recht, wenn sie sich nur auf die Grenzen der heutigen Bundesländer beschränken und so tun, als sei nur wichtig, was in diesen Grenzen passiert ist. Das Ergebnis ist eine regelrecht schiefe Geschichtsbetrachtung. Auch eine ignorante. Eine platte und einfältige sowieso. Denn damit werden auch viele Akteure unterhalb der Herrscherhausebene einfach wegretuschiert, kommen einfach nicht vor. Auch wenn es Kowa gar nicht drauf anlegt, merkt man, wie stark sich heutige sächsische Geschichtswissenschaft auf die wettinische Herrscherebene fokussiert und damit ein Weltbild fortschreibt, das mit der Realität wenig zu tun hat. (Mal von der Glorifizierung der Wettiner ganz abgesehen.)
Das Buch tut wohl. Dass es richtig viel Lesestoff bietet, wird jeden freuen, der wirklich einmal die facettenreiche Reformationsgeschichte Mitteldeutschlands kennenlernen möchte – und vor allem die Vielzahl von Persönlichkeiten, die hier auf unterschiedlichste Weise wirkten: als Verteidiger des Alten (wie Kardinal Albrecht in Halle), als Humanisten, Kritiker, Visionäre, aber auch als Moderator – wie Julius Pflug aus Zeitz, dessen Schriften als Zeugnisse der Zeit dringend auf Erschließung warten, ganz ähnlich wie die Briefe der Herzogin Elisabeth aus ihrer Residenz in Rochlitz.
Gerade durch seine Materialfülle zeigt das Buch, dass die Reformation ganz und gar nicht der Akt eines einzelnen Mannes und eine hübsche saubere Landstraße in die Zukunft war oder gar zur Spaltung der Welt. Eher zeigt es die ganze Kompliziertheit menschlichen Handelns von der Abwehr bis zur Radikalisierung einer neuen Idee. Und es zeigt, dass auch die Deutungen der späteren Zeit alles andere als vertrauenswürdig sind. Aber selbst daraus lernt man etwas. Zum Beispiel über die emsigen Versuche jüngerer Generationen, sich ihre Geschichte zusammenzuschustern, bis sie „passt“. Bis man das Passendgemachte für das Original hält und die falschen Helden feiert. Und einen Dr. Martin Luther, der sich in den jüngeren Abbildern wahrscheinlich nicht wiedererkannt hätte. Aber die Einvernahme dieses Mannes hat ja schon in der Nacht begonnen, als er in Eisleben sein Leben aushauchte. Auch das ist hier eindrucksvoll und beklemmend zu lesen.
Günter Kowa Gespaltene Welt, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2016, 24,95 Euro.
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