Die Auswahl wird immer größer. Ob 99, 111 oder 100 Gründe – wer in den Buchläden nach einem Tippgeber zum Leipzigbummel sucht, wird nicht nur fündig. Er wird erschlagen. Es gibt die Stadtführer für Kinder, für junge Leute, für Musikbegeisterte und für Liebhaber der Nacht. Jetzt also noch einer – wahrscheinlich für Leipziger, die mal wieder wissen wollen, warum man auf diese Stadt stolz sein könnte.
Was man ja nicht muss. Aber die beiden sind alte Leipziger. Die wissen, wie man sich fühlt, wenn eine Stadt durch ihre Krisen geht, wenn sie grau und müde ist und man sich wirklich erst mal umschauen muss, um Gründe zu finden, dazubleiben. So lange ist das ja noch nicht her, dass diese Stadt tief in ihrer Depression steckte und nach neuen Ermutigungen suchte. Man denke nur an den Strohhalm Olympiabewerbung, der den Drang einiger Leipziger Medien, jetzt wieder die alten Jubilo-Fanfaren herauszuholen, so richtig befeuerte. Man denke an den verbissenen Kampf gegen den Umbau des Hauptbahnhofs, dieses guten Stücks. Wollten die jetzt auch noch die letzten Reste des Leipziger Stolzes abräumen, den größten Kopfbahnhof der Welt?
Und dann entsteht so eine Melange: Man mag seine Stadt dann nicht mehr einfach so – im Gegenteil, man glaubt, sie immerfort verteidigen zu müssen. Dann wird man ein bisschen trotzig und kehrt den Stolz nach außen. Das kennen die Leipziger schon vom Sachsen-Effekt, den Lene Voigt so schön auf den Punkt brachte: „Nu grade!“ Natürlich kommt Lene Voigt in diesem Buch vor, in dem Angotti und Küster versuchen, 100 Gründe zu komprimieren, warum man stolz auf Leipzig sein könnte.
Man könnte auch 1.000 Gründe finden. So eine Stadt besteht ja aus lauter Einzelstücken, die für sich etwas Besonderes sind, die es anderswo nicht gibt und derer man sich immer wieder vergewissert: Sie sind noch da. Zusammen ergeben sie dann das Eigenbild der Stadtbewohner. Zu dem in Leipzig bekanntlich Leipziger Allerlei gehört und die Legende, der Stadtname stamme vom slawischen „lipa“ ab. Was nicht stimmt. Auch wenn Lene Voigt so hübsch von der Lindenstadt gedichtet hat. Es gibt also ein zweites, aus solchen hübschen Erfindungen bestehendes Leipzig, das neben dem realen Leipzig existiert. Da geraten die Dinge dann ins Bombastische, vermischen sich Geschichte und Legende. Kann passieren, wenn man so in Feuereifer gerät. 140 Kilometer Fließgewässer, auf denen man in Leipzig paddeln kann, sind so ein Fall. Da haben die beiden Autoren mal schnell 100 Kilometer dazugedichtet, damit Venedig neidisch wird – oder Amsterdam. Ach ja: die Brücken!
Und der Wackelturm im Rosental? 150 Meter hoch? Das wäre gigantisch! Aber es sind nur 20 Meter. Und das Märchenhaus in der Friedrich-Ebert-Straße 81? Friedrich-Ebert-Straße 81? Seltsam. Da sind die beiden Autoren auf einen der vielen Wikipedia-Artikel hereingefallen, in denen die Welt verdreht wird. Das Märchenhaus stand am Nikischplatz. Es ist schade, wenn sich solche Fehler reihenweise in ein Buch drängen, das eigentlich von der „vermeintlich vertrauten Stadt“ erzählen möchte.
Was machen diese hübschen kleinen Fauxpas’ eigentlich deutlich? Erzählen sie nicht von zwei echten Leipziger Eigenschaften, die im Buch dann kein eigenes Kapitel mehr bekommen haben: Größenwahn und eine gewisse spritzige Oberflächlichkeit? Letztere ja bekanntlich im Schlagwort „Hypezig“ verewigt, auf das alle Welt gleich merkt, was für eine Husch-husch-Führungsgarde in Leipzig Politik und Marketing betreibt. Ein bisschen steckt ja das Gigantomanische in den Kapiteln „Einzigartig“ und „(Preis)Verdächtig“. Irgendwann muss die Leipziger Stadtpostille mal eine Liste aller Nobelpreisträger angefertigt haben, die mal in Leipzig durchreisten. Daraus wird dann eine neue Legende, dass jede zweite Nobelpreisverleihung irgendetwas mit der Leipziger Uni zu tun habe und die Nobelpreisvergabe gleich an der Pleiße stattfinden könnte.
Nein, nicht wirklich. Aber wahrscheinlich ein bunter Blick in die Welt, wie etliche Leipziger tatsächlich ihre Stadt sehen und was sie von ihr wissen. Und eine Erklärung dafür, warum sie sich mit all der institutionalisierten Oberflächlichkeit und dem Feiern falscher Helden derart beglückt zufrieden geben. Da wird selbst ein „Verbrechertisch“ zum Kuriosum und zu einem Möbel, das „das Who ist Who der damals in Leipzig wirkenden geistigen Elite verewigt“. Leider nicht. Die damalige geistige Elite von Leipzig war stockkonservativ und angepasst und traf sich ganz bestimmt nicht mit diesen kritischen Demokraten im Gasthaus „Zur guten Quelle“. Denn um einmal den Katalog der Ausstellung im Alten Rathaus zu zitieren: Die Herren Demokraten am Verbrechertisch „blieben ihren Überzeugungen treu und waren später in neuen politischen und sozialen Bewegungen aktiv“.
Das verwischt sich natürlich mit der Zeit. Keine Frage. Am Ende entsteht so etwas wie das erstaunliche Selbstverständnis der Leipziger, das sich die Vergangenheit und die Gegenwart zusammenbastelt wie eine bunte Geburtstagstorte. Da gibt es dann auch mal eine neue Geschichte zur Erfindung der „Leipziger Lerche“ und einen neuen Standort für die „Pfeffermühle“. Eigentlich ist das Buch eine hübsche Warnung an alle, die noch keinen lebendigen Leipziger getroffen haben: Glauben Se dem mal garnischd! Der schwindelt Ihnen was vor.
Was übrigens eine der schönsten Eigenschaften der Leipziger ist: Wenn die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten, erfindet man sich eine hübsche Maskerade und spielt der Welt eben was vor – „Boomtown“ zum Beispiel oder Mückenschlösschen. Wer noch nicht wusste, dass das Mückenschlösschen in der Waldstraße auf den Ruinen eines nie vollendeten Schlösschens für August den Starken erbaut wurde, der erfährt es hier. Aus allererster Hand.
Es hätte so ein schönes Buch werden können. Auch ein besonderes, weil es das Zeug dazu hat, das Eigenbild der Leipziger Sachsen einmal in seiner ganzen Buntheit zu entdecken – und damit auch eine Ahnung davon zu bekommen, warum diese Leipziger den Mut und die Zuversicht nicht verlieren. Denn viele der Geschichten, die sie sich erzählen, sind ja Trotz-alledem-Geschichten. So wie die Geschichte der „Karli“, die so auch heißt, weil ein paar Stadtpolitiker sie nach 1990 tatsächlich wieder umbenennen wollten, oder die Liebe von Clara und Robert, die sich gegen Claras gestrengen Vater durchsetzten. Oder die Sache mit dem „Blümchenkaffee“ oder der Leipziger Revolte gegen die Honeckersche Kaffeeersatzmischung.
Ein paar markante Spuren tauchen auf, die zu all den Geschichten des Leipziger Trotzes führen, der ab und zu auch mal etwas Rebellisches hatte. Aber im Ursprung waren es fast alles Trotzreaktionen, nachdem sich der Leipziger viel zu viele Unverschämtheiten viel zu lange hat gefallen lassen. Denn eigentlich sind sie brav, ordentlich und angepasst. Nur wenn’s zu ville wird, wenn’s die da oben übertreiben, dann wird gemault. Und wenn das nicht reicht, geht’s auf die Straße. Manchmal mit gewaltigen Folgen, was die Leipziger so im September 1989 ganz bestimmt nicht erwartet hätten.
Denn eigentlich gilt bis heute, was Jürgen Hart (der natürlich auch vorkommt) einst sang: „Der Sachse is der Welt bekannt als braver Erdenbircher, / und fährt er ringsum durch es Land, dann macht er geenen Ärcher.“
Den schluckt er nämlich lieber runter und ärgert sich immer mehr, wenn die anderen (oder die Obrigkeit) nicht merken, dass er so verärgert ist. Oder um einen anderen berühmten Leipziger zu zitieren: „Mit mir kann man’s ja machen.“ Frank Schöbel war das. Da sang er den Leipzigern aus dem Herzen. Aber dafür kommt er im Buch auch nicht vor.
Maritta Angotti, Rainer Küster Leipzig – einfach Spitze!, Wartberg Verlag, Gudensberg 2016, 14,90 Euro.
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