Das Andere hat die eine Hälfte der Menschheit schon immer geängstigt und in skurrilste Abwehrposen gezwungen. Die anderen hat es eher neugierig gemacht. Denn ohne Widerspruch und Irritation gibt es keine Veränderung, keine Innovation. Ach ja, und für die Herren Mauerbauer: keinen Fortschritt. Immer war das Andere der Stachel im Fleisch der Regierenden. Stoff für jede Menge Essays, die Norbert Marohn geschrieben hat.
Sieben große Essays haben in diesem Buch Platz gefunden, einige davon regelrechte ineinander verschlungene Texte, weil sich die philosophische Bearbeitung des Themas mit den politischen Ereignissen verschränkt, die ja eigentlich so schrecklich banal sind. Aber auch so tragisch folgenreich. Denn was der Schriftsteller in seinem Leipziger Arbeitszimmer aus 2.000 Jahren Philosophie-, Religions- und Literaturgeschichte destilliert, ist ja immer auch Spiegelbild der realen Ereignisse, in denen die Ausgrenzer, Ketzerjäger, die aufgeblasenen Volksversteher Entwicklungen auslösen oder auch kappen, Vielfalt bekämpfen, die Seele ganzer Völker und Nationen zerstören, weil sie im Plebs den nur allzu wirksamen Hallraum finden für: Ignoranz, Intoleranz, Chauvinismus, Totalitarismus.
Wo die hochbezahlten Politik- und Wirtschaftswissenschaftler gern so tun, als sei alles neu und die gerade erlebte Geschichte ein neuer Gipfel humanistischer Schönheit, wissen es belesene Menschen besser: Nationen driften immer wieder in die gnadenlosen Zeiten inquisitorischer Intoleranz ab. Das hat eine Menge mit Macht zu tun. Aber auch mit Gier. Aber auch mit Denkfaulheit. Denn diese simplen Dinge liegen ja alle obenauf, damit lassen sich Leute verführen, die irgendwie „von Natur“ dazugehören: weil sie die richtige Hautfarbe haben, die richtige Sprache, den richtigen Pass, das richtige Geschlecht und vor allem die richtige Bereitschaft, sich unterzuordnen. „Tu, was sie sagen.“
Das klang mal wie der besorgte Spruch in finsteren Zeiten der Diktatur. Aber das gilt immer wieder, weil Menschen immer wieder dieselben starren Machtgebilde konstruieren und die Weltsichten der Vereinfacher immer wieder zur Dominanz drängen. Mit fatalen Folgen.
Wie – so nachzulesen gleich im ersten Essay „Platz der Revolution“ – in der Weimarer Republik, der ersten wirklich großen Chance der Deutschen, ein Land zu schaffen, das modern, lebendig und faszinierend hätte sein können. Aber das Problem kannte ja auch Lenin im gleichzeitig von Bürgerkrieg erschütterten Russland: Wie schafft man eine neue Gesellschaft mit den alten Menschen und dem alten Personal.
Es überrascht schon, dass selbst Geschichtswissenschaftler diese Parallelen zwischen Lenins Russland und Eberts Deutschland nicht gesehen haben – bis hin zur martialischen Kriegsführung gegen „Abweichler“. Dass beide Anfänge eines Neuen am Ende in eine Diktatur mündeten, hat wenig mit den neuen Ideen zu tun, aber viel mit der Brutalität, mit der sich das Alte gegen das Andere zu behaupten versucht. Und ziemlich oft gewinnt und dann wieder in Strukturen gerinnt und ein etabliertes Denken, das sich gegen jede Veränderung sträubt, von Einheit und Schulterschluss schwafelt und vor allem: das Andere immer neu ausgrenzt, stigmatisiert und verfolgt.
Deswegen landet auch Edward Snowden nicht ganz zufällig in diesem Essay, der mit „Söhnen des Vaterlands“ beginnt, die in diesem Fall die bestellten Mörder fürs Vaterland waren, und mit dem Text „Erinnerung nach Wunsch“ endet. Was ja nicht das Ende ist. Da stecken wir ja gerade: mitten in der Phase der eifrigen Zurechtdeutung der Vergangenheit und der Installation einer Erinnerung an die Friedliche Revolution, die das Andere, was in diesem kurzen Moment der Erleuchtung zu spüren war, wieder hübsch unter den Teppich kehrt.
Und was noch übrig blieb, wurde ja bekanntlich in den nächsten vier Jahren in einem Affengalopp verscherbelt, verramscht, verkauft. Mit fatalen Folgen für die wirtschaftliche Basis des Ostens. Um die es nicht allein geht. Denn wer ein bisschen was begriffen hat von Geschichte, der weiß auch, dass wirtschaftliche Kraft auch politisches Selbstbewusstsein bedeutet. Wer 26 Jahre lang immer nur am Tropf des reichen Gönners zu hängen scheint, der wird nicht aufmüpfig – zumindest nicht auf politischer Ebene. Der stille Zorn äußert sich anders – unberechenbarer, wie wir heute sehen. Wütende Landschaften könnte man das nennen.
Und es erstaunt schon, dass immer wieder an das unkontrollierte Wirken der Treuhandanstalt erinnert werden muss – wie es Marohn im Essay „Verkohlte Landschaften“ tut. So etwas hat Folgen. Bis hin zur infrage gestellten Glaubwürdigkeit dessen, was die Betroffenen, Abservierten und Betrogenen dann als Demokratie erleben.
Was dann zum doppelten Trauma wird, denn das Jahr 1989 resultierte ja auch schon aus Jahren der uneingelösten Verheißungen, der beschnittenen Lebensentwürfe und der Verachtung für das Andere. Das manifestierte sich nur oberflächlich in diesem anderen Deutschland, dem „gelobten Land“ da drüben. Das manifestierte sich gerade in der intensiven literarischen Debatte der DDR. Was heute kaum noch vorstellbar ist. Aber es war so: die späten 1970er und frühen 1980er Jahre waren in der DDR von einer intensiven Diskussion über das Anderssein bestimmt, in der sich praktisch alle namhaften Autoren der DDR zu Wort meldeten. In der üblichen Camouflage. Denn offen durfte darüber auch damals nicht geschrieben werden. Also schlüpften sie alle in die Rollen und Lebensentwürfe der zumeist auch in der deutschen Literaturgeschichte an den Rand gedrängten Dichter und Schriftstellerinnen: Kleist, Büchner, Novalis, Hölderlin, Grabbe, Günderode, Bettina von Arnim…
Im fremden Gewand wurde das ganze Spektrum zwischen persönlicher Freiheit, gesellschaftlicher Unfreiheit und dem Erleben des Andersseins in einer dogmatischen Gesellschaft ausgeleuchtet. Und die Leser wussten sehr wohl, worum es die ganze Zeit ging, warum sich Autorinnen wie Christa Wolff auf einmal mit der Spätromantik beschäftigen. Dabei erwischten sie die Funktionärsgesellschaft durchaus bei ihrer Ur-Angst: der Angst vorm Anderen, vorm Andersdenkenden, Andersliebenden, selbst vor Menschen aus anderen Ländern.
Bevor Marohn auf die 40 Jahre „Angst vorm Anderen“ kommt, beschäftigt er sich im Essay „Geschichte vom Andern“ mit der Schwierigkeit menschlicher Gruppenbildungen – von der Bibel an. Denn bislang scheinen die meisten Menschen nicht in der Lage zu sein, ihre Gruppe anders zu definieren als durch Ausgrenzung. Immer muss ein Sündenbock dafür herhalten, um der verschworenen und ziemlich uniformen Gemeinschaft so eine Art Berechtigung und Identität zu geben. Dabei muss Marohn gar nicht lange suchen – die Menschheitsgeschichte ist voll dieser Geschichten vom Außenseiter, „Verräter“, Ketzer, Abtrünnigen. Man hat sofort das ganze inbrünstige Geschrei im Ohr: Hochverräter, Vaterlandsverräter … Das Schlimme ist: Jede Art von Abweichung vom befohlenen Gleichsein kann dann als Verrat betrachtet werden. So nebenbei kommt man dann schon auf die Frage, wer eigentlich bestimmt, was Hochverrat ist und warum sich die alten weißen Männer an der Spitze ihrer normierten Staaten für wichtiger halten als die Menschen „da unten“, die sich ihrer Kontrolle zu entziehen versuchen? Die oft einfach leiden unter der belastenden Machtausübung der gut Verklüngelten.
Denn diese fette Bräsigkeit zermürbt eine Gesellschaft, entkernt sie regelrecht. Was Norbert Marohn dann in einem Essay über die USA durchspielt: „Wen Zitate überführen“. Da widmet er sich zwar vordergründig dem Krimi-Autor Ross Macdonald (den er als klugen Kritiker der amerikanischen Gesellschaft empfiehlt), konfrontiert das Leben der Hoffnungslosen in der tiefen Provinz aber immer wieder mit Zitaten zum von Lügen angetriebenen Krieg gegen den Irak unter George W. Bush. Denn mit den Ureinwohnern da draußen in den anderen Ländern gingen ja die ruppigen alten weißen Männer aus Washington nie anders um als mit den eigenen Ureinwohnern, den Armen und Abgehängten. Den Anderen eben, die nicht zum eigenen reichen weißen Clan gehören.
Alle sieben Essays sind kreisende Denkanregungen für alle, die sich das Gefühl noch nicht abtrainiert haben, dass sie eigentlich mit ihren Wünschen, Träumen, Talenten nicht wirklich dazugehören. Dass unsere Gesellschaft immer weiter vor allem durch Ausgrenzung des Anderen funktioniert. Und dass man auf das Anderssein entweder unter großen Schmerzen verzichtet (und dazu gehören auch Talente, Wissen, Humanismus …), um Teil dieser imaginären homogenen Gemeinschaft zu sein und vielleicht akzeptiert zu werden. Oder man nimmt die ganzen Schmerzen der Ausgrenzung auf sich.
Aber was passiert, wenn immer mehr Menschen das Gefühl haben, dass aller Verzicht nichts mehr hilft und man trotzdem bei den Anderen landet?
Das ist vielleicht die entscheidende Frage in Zeiten eines marktgängig gemachten „Populismus“.
Norbert Marohn Die Angst vorm Andern, Lychatz Verlag, Leipzig 2016, 19,95 Euro.
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