Wie fühlt man sich eigentlich als Musiker, DJ, Filmemacher, Bücherschreiber und Zeichner in Dresden in dieser Zeit? Dieser Stadt kurz vor der wilden Sächsischen Schweiz, die nun seit zwei Jahren fast nur noch mit grimmig wallenden Protestbürgern und einer ratlosen Regierungsgarde in den Medien präsent ist? Kann es sein, dass man sich da so richtig barbarisch fühlt? Regelrecht unter die Barbaren geraten?
Max Rademann ist das alles. Außerdem macht er noch bei der Lesebühne „Sax Royal“ mit, moderiert und scheint ansonsten die in Dresden lebende Spezies von Ureinwohnern mit aufmerksamem Blick zu studieren. Vielleicht liest er auch nur Zeitung. Oder guckt den hier angesiedelten Heimatsender. Da kommt man wirklich nicht auf den Gedanken, es hier mit einem modernen, lebenslustigen und weltbereisten Völkchen zu tun zu haben. Wirklich nicht. Eher bekommt man das Gefühl, dass Sachsen so eine Art Bierkneipe geworden ist, in der sich jeder so prollig wie möglich benimmt und das Unterhaltungsniveau sich an den Alkoholpegel von Kevin und Schackeline angepasst hat.
Denn wirklich fremd kommt einem die Welt, die Max Rademann hier in 365 kleinen Szenen gezeichnet hat, nicht vor. Sie wirkt – aus Presse und TV – nur allzu vertraut. Ein Selbstbild, wie es von den sächsischen Edelfedern und Edelfilmern ganz speziell für ihr gelebtes Publikum gedreht und getextet wurde: nur keine Anforderungen, keine Ansprüche an Lebensstil, Denkvermögen und Konfliktverständnis stellen. Das Leben ist ganz einfach, animalisch. Tierisch eben. Oder eben in der Steigerungsform: barbarisch.
Das Wort sei, so Rademann, „in fast jeder Lebenssituation verwendbar“. Es rangiert also irgendwo in der fast sinnfreien Welt von Super, Spitze, Knorke, auch wenn es noch immer einen Beiklang hat, der nach Verwüstung, Überwältigung und Sprachlosigkeit klingt. Denn einst, als die alten Griechen noch ein stolzes Volk waren, bezeichneten sie ja damit alle Völker, die kein ordentliches Griechisch sprechen konnten. Die Sachsen natürlich eingeschlossen. Die es damals schon gegeben haben muss, denn so benehmen sie sich ja heute gern: fläzig, stoffelig, ignorant und selbstherrlich.
Man merkt schon, dass sich Max Rademann mit diesem Völkchen nicht wirklich barbarisch fühlt. Auch wenn es gleich nebenan wohnt und keine Scham mehr kennt, seine Einfalt und Ungebildetheit für das Maß aller Dinge zu halten. Hat Rademann wirklich solche Nachbarn? Es deutet Manches darauf hin, so oft, wie hier der Alkohol, der Stuhlgang, Kosmetikstudios und ein rabiater Sprachgebrauch thematisiert werden.
Jeder Tag ein kleiner Schocker, auch wenn das Wort barbarisch durchaus alle möglichen Interpretationen zulässt zwischen höchstem Lob und größter Verachtung. So ein klein wenig schimmert natürlich das ganz spezielle Weltempfinden dieser Schafherde durch, die ja eigentlich nur brav zwischen lauter grünen Hügeln grasen will, ab und zu die Wolle spendieren, ansonsten gern unbehelligt sein möchte von den Unbilden der Welt. Und das nun nach 25 Jahren merkt, dass es zwar immer brav war und geschoren wurde, aber da fehlt doch was? Wenigsten so ein Schulterklopfer: „Barbarisch, wie geduldig ihr das alles mitgemacht habt!“
Kommt aber nicht.
Stattdessen laufen die Lämmer blökend durch die Straßen, sind barbarisch sauer. Und was gibt’s für das Geblöke? Barbarische Verachtung. Jetzt darf man sich als Pack schimpfen lassen, worauf die Schafe natürlich barbarisch stolz sind.
Bei Rademann kommen sie nur indirekt vor – etwa als barbarischer Silvio, der sich einen heißen Schlitten zurechtgebastelt hat und mit Brille und Tattoos barbarisch barbarisch aussieht. Womit er ja nicht allein steht. Die braven Sachsen sind ja auf vielfältige Weise dabei, sich barbarisch lächerlich zu machen, weil sie sich so anziehen und benehmen wie die schlechtesten Schauspieler in der miesesten Vorabendserie des Privatfernsehens. Barbarische Muskelmänner und Bauchträger, Ohrring- und Sandalenträger.
Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass Rademann mit flottem Stift das tatsächliche Selbstbild der Dresdner eingefangen hat, all der kleinen Leute, die ihre Ratlosigkeit hinter Großmäuligkeit verbergen und ihre Einsamkeit hinter einer Rücksichtslosigkeit, die wie pure Aggression wirkt. Obwohl man sie eigentlich bedauert, all diese Mirkos und Udos und Mandys, weil sie so perfekt in die Welt von RTL, MTV und Facebook passen. Denn sie sind es, die die großen Klickzahlen erzeugen, die jeden neuen „Trend“ im Discounter mitmachen und sich barbarisch freuen, wenn ihre neue Stoppelfrisur oder die aufgemotzten Brüste jemanden beeindrucken.
Es ist ein eigenes Volk. Keine Frage. Und es fällt nicht nur an fremden Küsten auf, wo es sich benimmt wie daheim und das für weltmännisch hält. Und es geht einfach nicht weg, auch wenn besorgte Politiker versuchen, mit den besorgten Schafen anzubandeln. Aber sie sind da. Wahrscheinlich werden sich auch andere Barbaren in diesen Zeichnungen wiedererkennen – mitsamt ihrem Trotz, der sich nicht bescheiden will mit dem Platz am Katzentisch. Ist das nicht eine eigene Kultur? Und ist die nicht so gut wie jede andere? Zwingend genug ist sie. Denn diese typisch sächsische Verbissenheit erzwingt sich natürlich Akzeptanz. Wer sich hier dünnhäutig zeigt oder gar angewidert, dem zeigen sie es aber, auch wenn sie eigentlich machtlos sind. Es ist ein Grimm aus Machtlosigkeit, der sich besonders rabiat und eben barbarisch gibt.
So gesehen, ist Rademanns Abreißkalender auch die Entdeckung eines neuen Barbarentums, das sich nicht nur in einem etwas irrlichternden Adjektiv ausspricht, sondern wirklich existiert und sich seiner Existenz sehr wohl bewusst ist. Eine eigene Kultur hat es auch, auch wenn sie zumeist etwas anrüchig und geschmacklos ist. Was nichts an der realen Existenz dieser Menschen ändert, unter die sich Rademann selbst immer wieder mischt. Weil ihm der Spruch nur zu vertraut ist. Man wählt sich ja das Milieu nicht freiwillig, man wird mehr oder weniger hineingestoßen. Oder man kommt nicht heraus, weil die arrivierten Barbaren längst dafür gesorgt haben, dass keiner aus diesen Niederungen herauskommt und auf den gepflegten Teppich der Verlogenheit kotzt.
Es ist eine ganze Ecke Ehrlichkeit in diesen Bildern und ein ganzes Stück Verständnis für dieses Barbarentum, das so gut zum gepflegten Barbarentum der berauschten Medien passt, die die ganze Zeit Schrott und Nervenkitzel für die Barbaren produzieren und sich dann etepetete wundern, wenn die Barbaren mal den Stinkefinger zeigen.
Was man nun ausgerechnet im schönen Dresden leibhaftig beobachten kann. Wahrscheinlich auch anderswo. Aber anderswo sagt man nicht „Orrr“, wenn man sich mal wieder gründlich in die Scheiße gesetzt hat. Da fehlt dieser kleine Funken Humor, der das ganze Barbarentum erst erträglich macht. Dieses immer präsente Wissen, dass man sich zwar wie ein brutaler Zuhälter anziehen kann – aber den Respekt, der dazu gehört, den bekommt man trotzdem von Keinem. Nicht mal von den eigenen Bälgern, die auch noch an der zerkochten Makkaroni herumnörgeln. Da könnte man, aber so richtig.
Natürlich: zum Barbaren werden.
Max Rademann „Der barbarische Kalender“, Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2016, 12,90 Euro.
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