Es gibt ihn tatsächlich, diesen Huygens. Constantijn mit Vornamen, nicht Christiaan. Den Christiaan gab es natürlich auch, den berühmten Physiker, Astronomen und Mathematiker. Nach dem ist ja die Huygensstraße in Möckern benannt. Da denkt man beim Vorbeifahren immer: Es kann nur einen Huygens geben. Ein Irrtum, wie dieses Büchlein von Reinecke & Voß klarmacht.

Das Problem ist nicht die Berühmtheit von Christiaan, sondern unser ganz hiesiges deutsches Unwissen. Wir interessieren uns nämlich nicht wirklich für die Kulturen und Literaturen unserer Nachbarn. Und da spreche ich noch gar nicht von den unbelesenen Deppen, die uns ihre „Kultur“ als Leitkultur überhelfen wollen. Bei denen fällt einem sowieso nur Georg Christoph Lichtenberg und sein vorwitziger Spruch von dem Buch und dem Kopf ein, die da zusammenstoßen – und irgendwas klingt hohl.

Wie aufgeklärte Geister auch schon im Zeitalter der frühen Aufklärung wussten, dass sie in einer Welt unterschiedlichster Kulturen leben, dass der geistige Austausch (man tauschte sich noch vorwiegend auf Latein aus) erst dann lebendig wurde, wenn unterschiedliche Haltungen, Blickwinkel, Prägungen aufeinander prallten. Dann konnten Briefwechsel in Gelehrtenstreite ausarten, manchmal auch in regelrechte Fehden mit spitzer Feder. Nicht nur die barocken Dichter beherrschten das, wie das im Bändchen „Episteln und Pistolen“ nachlesbar war. Die Grenzen waren ja sowieso fließend. Wer studiert hatte, dem standen alle Wege offen – in den Staatsdienst, in die Juristerei, in die Wissenschaft. Die Männer waren zwar nicht unbedingt Universalgenies, wie man es dem Leipziger Leibniz gern anheftet. Aber sie waren vielbelesen, vielgereist und vielseitig interessiert. So wie Christiaan Huygens, den die Holländer auch mit gutem Grund ihr ureigenstes „letztes“ Universalgenie nennen können.

Und was hat das mit Constantijn Huygens zu tun? Der war der Vater von Christiaan. Multitalent nennt ihn Ard Posthuma, der hier eines seiner Gedichte übersetzt und herausgegeben hat. Der Mann war Geheimschreiber zweier Oranierprinzen, Jurist und Schriftsteller. Er hat ein dickes schriftstellerisches Werk hinterlassen. Er schrieb in sieben Sprachen, nahm im Gefolge der Statthalter an etlichen Schlachten teil, war überzeugter Calvinist und feierte einen gewissen Rembrandt, als der Bursche gerade mal 23 Jahre alt war.

Als er das Gedicht „Euphrasia Augentrost“ 1647 zu schreiben begann (da wurde in Münster gerade über den Westfälischen Frieden verhandelt), war er selbst 51 Jahre alt, hatte aber schon seine lebenslange Erfahrung mit schlechten Augen. Mit Glubschaugen wird er beschrieben. Aber eitel war er nicht, sondern trug eine Brille auch draußen auf der Straße, was seine Mitwelt sehr verstörte. Es ist kein Zufall, schreibt Posthuma, dass sein Sohn sich dann intensiv mit dem Licht und dem Sehen beschäftigte.

Der „Augentrost“ ist trotzdem kein Gedicht über die Leiden des eingeschränkten Sehens, auch wenn Constantijn Huygens die 1.002 Zeilen zum Trost für eine etwas ältere Freundin schrieb, die mit der zunehmenden Sehschwäche auf einem Auge zu kämpfen hatte. Aber wie tröstet man eine liebe Freundin, wenn man ihr keine Heilung versprechen kann? Man spricht ihr Herz an. Denn wie auch Constantijn wusste (selbst wenn es Antoine de Saint-Exupéry erst 300 Jahre später so in Worte fassen sollte): Man sieht nur mit dem Herzen gut.

Die meisten Dinge, die uns sonst so umtreiben im Leben, machen uns blind. Natürlich schwingt da auch ein Stück Calvinismus mit, der sich stets sehr moralisch gibt (und wir erzählen den „Kultur“-Menschen jetzt nicht, was bürgerliche Moral mit Protestantismus und Calvinismus zu tun hat, das sollen sie gefälligst selbst lesen). Aber nicht ohne Grund, denn wer den Menschen mit bürgerlichen Freiheiten versieht, darf sich nicht wundern, wenn der dann losrennt und die Freiheiten auch überstrapaziert – auf Kosten anderer. Blindlings. Oder geblendet. Einer wie Constantijn Huygens kannte es ja aus bester Anschauung. Er kannte den Hof der Oranier mit seinem Neid und seinen Intrigen. Er kannte die Mächtigen, die ihr Drang zur Macht genauso blind macht wie den Gierigen die Gier, den Geizigen der Geiz, den Neidischen der Neid.

Was ja noch nicht tröstet. Das weiß man eigentlich. Aber es frappiert natürlich erst richtig, wenn man in diesem schönen Langgedicht liest, wie viele solcher Blindheiten eigentlich unsere Gesellschaft und unser Leben ausmachen. Niemand ist gefeit. Man stürzt sich in ein Metier, einen Rausch, eine Leidenschaft – schon ist es passiert und man sieht nicht mehr, was rechts und links passiert. Müßiggang, Krankheit, Hast – ja, sage mal einer, dass Stress nicht blind macht. Dieser alte Holländer klingt erstaunlich modern, ganz und gar nicht barock, auch wenn die moralische Epistel heute so antiquiert wirkt wie Arkebusen oder Hosenbänder. Nur: Der Mensch selbst ändert sich gar nicht so sehr, wie Mancher glaubt. Er ist noch immer genau so leicht verführbar, betrügbar und von Narreteien getrieben – dem Hang zur Pracht (na, wieviel PS hat denn deiner?), zum Ehrgeiz, zu Zorn, zur Faulheit. Wer mit dem Finger auf Andere zeigt, ist selbst nicht frei von blinder Selbstüberschätzung.

Angst macht blind, Mut ebenso, schreibt der Mann, der die Angsthasen und falschen Helden auf den Schlachtfeldern sah. Aber auch das Alter, das Geschwätz, die Vergnügungssucht.

Zuerst war das ganze Gedicht nur halb so lang und die getröstete Freundin hatte bestimmt zwei, drei Stunden ihre Freude, als der Dichter es ihr vortrug, den sie ja kannte als philosophischen Kopf, im Geiste eng verwandt mit Leuten wie Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus, die sehr wohl wussten, wie töricht Menschen sein konnten, gerade dann, wenn sie reich und mächtig waren. Aber auch Armut schützt vor Torheit nicht. Oder Herzlosigkeit. Und Huygens schrieb dann immer mehr dieser Blindheiten in sein Gedicht. Es wurde ein wahres Panoptikum der menschlichen Irrungen. Eigentlich auch ein Ermunterungsgedicht für alle, die zumindest ahnen, wie blind sie in ihrem Fachidiotentum oft werden für die Nöte und Schönheiten der Welt. Niemand ist frei davon. Das weiß der weitgereiste Constantijn Huygens. Da ging es ihm ganz wie Reisenden heute auch: Man trifft die Ahnungslosen und Nichtsmerker überall, gerade dort, wo man sie nicht vermutet hätte. Und das Schlimme ist: Manche sind auch noch stolz auf ihre Torheit und ihr Nichtswissen, machen ihre Dummheit zum Maßstab der Welt und befeuern sich auch noch gegenseitig darin.

Wenn man es genau beschaut, hat sich nichts geändert. Nicht seit dem „Lob der Torheit“, das Erasmus von Rotterdam 1509 schrieb, nicht seit „Euphrasia Augentrost“. So gesehen ist es also auch ein Trostgedicht für die heutige Zeit, auch wenn es so wenig tröstlich ist, dass alle Aufklärung nichts nützt: Die Menschen sind viel zu gern Narren und Blinde und lesen auch den „Kleinen Prinzen“ nicht. Oder verstehen ihn nicht, sind lieber blind in Neid und Klage.

Natürlich weiß man nicht, ob Huygens „Augentrost“ tatsächlich als Trost empfunden wurde. Vielleicht tröstete einfach schon seine Anwesenheit und sein Versuch, das Leiden zu verstehen und zu teilen. In den Niederlanden gilt Constantijn Huygens bis heute als Klassiker, wird immer wieder aufgelegt. Und es braucht schon einen engagierten Übersetzer wie Ard Posthuma, der auch schon Cees Nootebooms ins Deutsche übersetzt hat, um den Mann mit seinem „Augentrost“ über die Grenze zu schmuggeln. Und siehe da: Es tröstet und regt an, wieder über das Allzumenschliche nachzudenken. Was oft vergessen wird in all der Hatz, die uns blind macht für die Welt, uns selbst und unsere Nächsten. Ein Buch zum Innehalten und Herzanschalten.

Bis der große Effizienzverheißer kommt und die Stoppuhr zückt: „Was machen Sie hier? Faulenzen Sie etwa? Hopphopp, ab mit Galopp …“

Und wenn uns die Gründe für blindes Verhalten ausgehen, dann denken wir eben neue aus. Und nennen es Reform. Und wundern uns, wie es köchelt da unten.

Wer ist da der Narr? Und wer ist der Blinde?

In eigener Sache – Wir knacken gemeinsam die 250 & kaufen den „Melder“ frei

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