Das ist es: 448 Seiten dick, 1.166 Gemälde drin – das Werkverzeichnis zur großen Sighard-Gille-Schau im Museum der bildenden Künste. Gleichzeitig auch noch ein bisschen Katalog zur Ausstellung „Sighard Gille. ruhelos“. Obwohl dort nur 85 Gemälde des Leipzigers hängen. Mehr als genug, um in der Wucht der Bilder dieses Leipziger Malers zu baden.

Der nun 75 ist und trotzdem nicht als großes Idol über den Leipziger Malerschulen schwebt. Auch nicht wie die westlichen Großkünstler gehandelt wird, als müsste das Publikum schon staunen, wenn ihr Name nur irgendwo auf dem Plakat steht. Tatsächlich steht Gille sehr exemplarisch für ein Kunstschaffen, wie es der Westen gar nicht mehr kennt. Wer durch die Ausstellung schlendert, die bis zum 22. Januar im Museum der bildenden Künste gezeigt wird, kommt um die Assoziationen gar nicht herum. Dieser Mann, der einst bei Bernhard Heisig Meisterschüler war, muss sich nicht extra verorten in den Traditionen der großen Tafelbildmalerei. Er ist da zu Hause. Noch mehr zu Hause sein kann man da gar nicht.

Und er sticht sogar noch dann heraus, wenn man ihn mit seinen Schülern vergleicht, von denen etliche zur „Neuen Leipziger Schule“ gezählt werden. Ihnen fehlt dieses Selbstverständliche meist noch. Sie wirken wie Suchende, die noch vorsichtig austesten, wo ihr Platz sein könnte. Ein Platz, um den sich Gille nie bemüht hat, auch wenn sich Kunstkritiker nun seit Jahrzehnten bemühen, ihn zu verorten.

Was ihnen schon in den 1970er Jahren nicht gelang, als er mit seiner expressiven Malweise die Normen des Bestellten immer wieder durchbrach. Natürlich kommen auch die Autoren der vier Essays, die den dicken Katalog einleiten, nicht umhin, diese Phase zu beleuchten. Denn wer in der DDR Künstler sein wollte, war auf die Aufträge und das Wohlwollen der Staatsinstanzen immer angewiesen. Die Frage war immer nur: Wie ging der Künstler damit um? Und Gille war da immer ganz Heisig-Schüler, drehte den Auftrag so lange, bis er zu seinen künstlerischen Ambitionen passte. Was dann auch regelmäßig dazu führte, dass auch seine Auftragsarbeiten Diskussionen auslösten. Die bis heute nachwirken, weil oft genug noch die alten Grabenkämpfe ausgefochten werden und die Kunst im Osten in Schatullen gepresst wird.

Dabei steht gerade die Leipziger Schule für etwas, was in Ost wie West auffiel, das aus der Ordnung fiel. Im Osten, weil es permanente Brüche mit dem verordneten Kunst-Reglement gab, im Westen, weil diese Malschule in den 1970er Jahren wie ein Bruch wirkte mit dem scheinbar alles wegschwemmenden „Alles ist erlaubt“. Auf einmal kamen da Maler aus Leipzig, die mit ihren großen, klassisch gemalten Bildern immer noch Geschichten erzählten. Frische Geschichten, die mit den üblichen Heldenbildern des Ostens brachen. Gleichzeitig aber setzten sie unübersehbar ältere Kunstlinien fort.

In den vier Essays und dem Vorwort zum Band prasseln die Namen nur so herunter: Courbet, Dix, Beckmann, Kokoschka, Corinth … Unverkennbar arbeitet Gille in der Tradition dieser Maler, eignet sich jeden einzelnen an, auch Monet, Picasso, Matisse und Chagall findet man als Wahlverwandte, wenn man genau hinschaut. Später, bei der Rezeption englischer Maler, wird Gilles Anverwandlung noch deutlicher. Er lässt sich immer wieder neu anregen, herausfordern und antreiben, das Gesehene selbst auszuprobieren, zu inszenieren. Denn er ist ein großer Inszenierer. Selbst Stillleben und Porträts sind bei ihm keine ruhigen Angelegenheiten. Er sieht die Dramatik in den Dingen und besitzt die Meisterschaft, diese Dramatik auch in einer schnellen, pastosen Komposition zu fassen.

Wobei Komposition nichts mit Gesetztem oder Arrangiertem zu tun hat. Mehr mit Musik. Wenn Gille ein Erzähler ist, dann ist es einer, der seine Geschichte mit jeder Menge Emotion erzählen will, mit Wucht. So, dass der Betrachter zuhören muss. Oder hingucken, auch wenn man bei manchen Bildern nicht gleich alles übersieht, weil der Rahmen des Bildes zu platzen scheint, so viel agiert da in mehreren Ebenen miteinander und gegeneinander. Ist dieser Gille also ein Revoluzzer?

Wenn es um das ganz Persönliche geht: Ja.

Sighard Gille, Von großer Höhe, 2011 © VG Bild-Kunst Bonn, 2016
Sighard Gille, Von großer Höhe, 2011 © VG Bild-Kunst Bonn, 2016

Wer das Werkverzeichnis durchblättert, braucht zwar eine Lupe, weil so viele Bilder fast nur im Briefmarkenformat unterzubringen sind. Daneben gibt es – von Ina Gille erarbeitet – alle verfügbaren Daten zu den Bildern. Und zu vielen Bildern und Bildserien gibt es auch noch die Entstehungsgeschichten, die einen Teil von dem greifbar machen, was Gille da gemalt hat. Und wie er es gemalt hat. Und wer es nicht gleich gesehen hat, erfährt es hier, warum viele Gille-Bilder derart zu platzen scheinen von Stimmungen und Atmosphäre. Hier malt einer nicht die schönen Emotionen anderer Leute, sondern seine eigenen, spachtelt sie regelrecht ins Bild.

Verständlich, dass sich so ein Mann nicht nur an der uniformen Einvernahme durch die Losung „Vom Ich zum Wir“ nicht bändigen ließ, sondern auch gegen das hirnlose „Vom Wir zum Ich“ nach der „Wende“ verstört fühlte. Denn diese Gedankenlosigkeit kannte er ja schon, diesen Ausverkauf von Seele und Fleisch, der sich als Individualismus geriert und dann doch nur in langen Autokolonnen steht oder in Pornoshows versucht, ein bisschen Lebens-Nervenkitzel zu bekommen.

Wenn man durch ist mit dem Buch, wundert man sich nicht mehr, dass Gilles Malweise nach 1990 noch heftiger, kontrastreicher und schriller geworden ist. Die Bilder schreien tatsächlich. Hier hat ein stiller Mann all sein Entsetzen herausgemalt über eine Welt, die immer lauter und oberflächlicher wird, in der leise Emotionen und menschliche Nähe nicht mehr gelten.

Der Schrei deutet sich an. Früh schon. In der „Fähre“ von 1976/1977, einem Bild, das mitten in den Turbulenzen um die Biermann-Ausbürgerung entstand, als sich reihenweise Künstler in der DDR fragten, ob das noch lange auszuhalten wäre, zerrissen im Zwiespalt. Nicht nur, weil die Überfahrt gefahrvoll war, sondern auch, weil das blinde Geschrei und die ideologische Gnadenlosigkeit das eigene Leben bedrohen. Präsens bitte. Das gilt noch immer. Das nackte, sich umarmende Paar unter schwerem märkischen Himmel zeigt die Schutzlosigkeit so deutlich, dass sie nicht zu übersehen ist. Auch dort nicht, wo Gille später ganze Serien vor allem nackter Frauen malt, besessen von weiblichen Körpern, aber auch vom Charakter dieser vielen Frauen. Wenn sie nackt sind, hilft kein Kostüm mehr, das Menschliche zu verhüllen. Es ist, als versuche Gille das Lebendigste zu packen, festzuhalten – und gleichzeitig die Emotionen, die ihn dabei umtreiben, in Farbe zu verwandeln.

Eigentlich geht er auch mit Landschaften so um, was natürlich nicht nur an Heisig und Mattheuer erinnert, sondern auch an Caspar David Friedrich oder Dürer, Maler, die zwar weniger expressiv, aber genauso besessen versuchten, das Atmen und die Lebendigkeit der gemalten Landschaft zu fassen. Das ist nur oberflächlich romantisch, eher ist es von großer Plastizität, als hätte der Maler alles darauf angelegt, den Betrachter mit hineinzureißen in diese gesehenen Weltstücke, egal, ob es märkische Deichlandschaften sind oder die Dächerlandschaften des Leipziger Westens oder Bilder aus New York.

Vor Gilles Bildern kann man nicht ohne Emotionen stehen. Eher braucht man zwischendurch eine Beruhigungspause, weil einem der Künstler jedes Mal abverlangt, sich der Situation ganz auszusetzen, egal, ob es große, brodelnde Landschaften sind oder Blumen und Früchte, die er riesig vergrößert hat und damit regelrecht zu dramatischen Akteuren im Bild. Was man ja Fenchel, Möhren oder Kukuruz nicht wirklich zutraut. Gille hätte das Bildermuseum auch allein mit seinen Blumen- und Pflanzenbildern füllen können und man hätte genauso das Gefühl gehabt, hier feiere einer mit aller Herzenskraft die Überfülle des Lebens.

Dominieren in seinen früheren Bildern eher die Gefühle von Gefährdung, von Zuversicht und zuweilen trotziger Sinnlichkeit, wirken manche Bilder der letzten Jahre geradezu glühend vor Lebenslust, aber auch vor blauem und rotem Zorn. Denn all das, was er sieht, ist gefährdet, droht vom blinden Wüten des Menschen verschlungen zu werden. Manchmal sind es aktuelle Ereignisse und Nachrichtenfotos, die Gille anregen zu Bildern wie „Von großer Höhe“, „Hollywoodschaukel“ oder „Free Pigs“. Man merkt, dass er den menschlichen Wahnsinn so eigentlich nicht aushalten will, dass das all seinen Leidenschaften und seiner Liebe zum Lebendigen widerspricht. Gerade deshalb malt er das blanke Leben um sich herum: Frauen, Familien, Kinder. Und immer wieder sich selbst in intensiver Befragung, in immer neuen Blickwinkeln. Das sind keine „Selfies“, keine Selbstdarstellungen für eine eitle Community. Das sind intensive Fragen nach dem eigenen Zustand im Hier und Jetzt – vom Tag gezeichnet, vom Leben verändert. Als fragte er sich immer wieder: Ist das noch auszuhalten?

Wer Gille tatsächlich noch nicht kennt, lernt ihn hier kennen – im Bildermuseum in komprimierter Auswahl, in diesem Werkverzeichnis in einer ganzen Flut von Bildern, die den Nimmermüden sichtbar machen, der das von ihm Gesehene herausbringen will so deutlich und so emotional wie möglich. Für so einen gibt es keine von Emotionen bereinigte Welt. Alles sorgt für Betroffensein, Berührtsein. Das ist – auch wenn es viel explosiver wirkt – noch immer der alte Gille, der sich so skeptisch mit schrecklicher Brille im Spiegel gemalt hat. Der selber Berührbare, der das Leben als etwas malt, was einem nicht passiert, sondern das man erlebt, mit Haut und Haar, mit Liebe und Betroffenheit. Man kann sich nicht herausnehmen.

So gesehen also: eine völlig unzeitgemäße Ausstellung und ein völlig unzeitgemäßes Werk, das so gar nichts mit der eitlen Oberflächlichkeit des Ich-bin-ein-Star-Zeitalters zu tun hat. Und gerade deshalb: sehens- und lesenswert. Oder ein guter Grund, wirklich mal einen echten Leipziger in Leipzig zu erleben.

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