Immer tiefer taucht der Herbst ‘89 ab in die Speckschichten der Geschichte. Auch neue Schichten der Verklärung der Friedlichen Revolution legen sich darüber. Die Deutungen der Herbsttage verändern sich. Höchste Zeit eigentlich, die Zeugnisse der Erinnerung zu sichern. Auch in Fotobänden, die die Fotografen des Leipziger Herbstes würdigen. In diesem Fall Rainer Dorndeck, der den Herbst ab Oktober begleitete.
Genauer: am 23. Oktober. Da war die Sache schon im Rollen. Aber Dorndeck, freier Fotograf in Leipzig, machte aus dem brodelnden Herbst trotzdem noch ein fulminantes Fotoprojekt und produzierte binnen weniger Wochen einen Bilderkanon, der die Leipziger Demonstrationen bundesweit zum Ereignis machte, denn seine Fotos gingen noch im Herbst 1989 auf Ausstellungstournee. Unterm selben Titel, den jetzt auch das Buch trägt.
Wobei zwei seiner Schulkameraden aus der Zeit an der Comeniusschule in Bitterfeld in den 1950er Jahren halfen. Wenn 1989 etwas trug, dann waren es solche persönlichen Beziehungen über Grenzen hinweg. Die Geschichte dieser Bilder ist also auch eine Geschichte von Freunden. Die nur noch indirekt erzählt werden kann, denn auch Lutz Born – einer dieser Jugendfreunde und nach der „Wende“ OBM von Wolfen – ist mittlerweile gestorben.
Deswegen waren es zwei Leipzigerinnen, die sich der Erinnerung annahmen: Sabine Almut Richter, 1989 Studentin der Wirtschaftswissenschaften in Leipzig, und Charlotte Ende, damals noch Schülerin. Aber beide haben die Herbstdemonstrationen miterlebt. Eigentlich waren es sogar prägende Jugenderinnerungen, an die sich beide gern erinnern. Sie haben den Fotos aus Dorndecks Nachlassarchiv jetzt die Grundstruktur gegeben und zu jedem einzelnen Demonstrationsmontag die kleinen, stichpunktartigen Einleitungstexte geschrieben, die erzählen, was eigentlich in den sieben Tagen davor geschehen ist.
Manches hatte auch Dorndeck selbst schon handschriftlich zu seinen Bildabzügen notiert. Denn die sich immer mehr beschleunigenden Ereignisse wurden ja auf den Leipziger Montagsdemonstrationen immer auch sofort thematisiert. Das war schon auf der ersten Demo sichtbar, die Dorndeck dokumentierte. Da war Honecker schon entmachtet und Egon Krenz versuchte, den Laden zu retten. Aber das Misstrauen saß tief und in den Folgewochen entglitt der Regierung in Berlin zunehmend das Heft des Handelns, lief man den Ereignissen und den Forderungen der Demonstrationen immer hilfloser hinterher.
Aber es wird auch spürbar, wie der Unmut wuchs und die Teilnehmerzahlen der Montagsdemos auch deshalb anschwollen, weil immer mehr Teilnehmer das zögerliche Reformtempo in Berlin nicht akzeptierten, zunehmend auch die Reformfähigkeit der SED bezweifelten. Es war dieser Druck von der Straße, der die Ereignisse ins Galoppieren brachte und vor allem den Widerspruch immer deutlicher machte zwischen der behaupteten Dialogfähigkeit der Mächtigen und der tatsächlichen Unfähigkeit, auf die brennenden Fragen des Tages überhaupt noch Antworten zu finden.
Da erstaunt das zunehmende Selbstbewusstsein in den Gesichtern der Demonstranten, die Dorndeck ablichtete, nicht mehr. Dass diese Regierung nicht zur „chinesischen Lösung“ greifen würde, war ja am 9. Oktober klar geworden. Wer in der Defensive ist, greift zur Waffengewalt nur noch, wenn er in Rauch und Ruinen untergehen will. Das war nicht so das Ding der Genossen, die doch eine andere, bessere Welt aufbauen wollten, 40 Jahre lang davon redeten und nun feststellen mussten, dass ihnen niemand mehr glaubte.
Was einen Hauptteil der Ratlosigkeit ausmacht, mit der die alten Männer auf die Ereignisse reagierten. Sie hatten sich beim Thema Volk selbst belogen und bekamen es nun groß und breit vorgehalten: „Wir sind das Volk!“ Und dieses Volk hatte klare Forderungen, die es mit jeder Menge Humor und Sprachwitz auf die Straße trug. Alles in Dorndecks Fotos zu sehen.
Endgültig aus den Händen glitt den alten Männern die Macht am 9. November, nach Schabowskis seltsamer Ankündigung zum Reisegesetz, die den Sturm auf die Mauer auslöste. Danach nahmen die Dinge eigentlich ganz von allein ihren Lauf. Denn die Grenzöffnung hatte eine einzige Frage ganz nach oben gespült: Deutsche Einheit – gleich oder später?
Danach verwandelten sich auch die Demonstrationen in Leipzig und immer lauter wurde die Zeile aus der Nationalhymne der DDR skandiert: „Deutschland einig Vaterland“. Aber auch die Atmosphäre änderte sich. Immer deutlicher wurde, dass sich die Interessen aufsplitteten, dass diejenigen, die sich eine andere, reformierte DDR wünschten, auf einmal von denen überstimmt wurden, die sich nur einen schnellstmöglichen Vereinigungsprozess wünschten. Manche bedauern das heute noch, sehen hier – als auch noch westdeutsche Politiker ins Geschehen eingriffen – die „verratene Revolution“. Aber die Früchte von Revolutionen erntet immer nur der, der am Ende auch die stärksten Argumente hat. Und die „schnelle Einheit“ war das wirkmächtigste Argument, da halfen auch alle Rufe nach Besinnung nicht.
Dorndeck blieb auch im Januar und Februar mit dabei, als die Montagsdemonstrationen nach der Weihnachtspause wieder aufgenommen wurden, nun aber auch zunehmend Rechtsradikale die Leipziger Montage für ihre Auftritte nutzten. Da wirkte selbst der Kampf gegen die gewandelte SED-PDS schon wie ein Kampf gegen Schimären. Die Demonstrationen wurden zunehmend zu Wahlkampfpodien und es zeichnete sich ab, dass sich die erste freie Wahl am 18. März zu einer Entscheidungswahl zwischen schneller und späterer Einheit entwickeln würde. Da konnte Dorndeck zwar noch immer lachende und übermütige Gesichter ablichten – aber die Leichtigkeit des Herbstes war schon lange weg. Und wer die zunehmenden politischen Rangeleien und den aufzüngelnden Nationalismus nicht aushielt, der mied die Montage schon längst wieder.
Dorndecks Fotos erzählen so auch eine Geschichte von unbändiger Hoffnung und klassischer Ernüchterung. So werden es auch viele Leipziger empfunden haben. Was im Herbst noch erkämpft werden musste, war längst erreicht. Nun aber kehrte – mit den Müllbergen der neuen Parteienwerbung – der Alltag ein, der sich schon sehr bald als ein hartes Geschäft erweisen sollte.
Die Bilderwelt des Rainer Dorndeck ergänzt die diversen mittlerweile vorliegenden Bände mit Montags-Fotografien Leipziger Fotografen, die alle auf ihre Weise versucht haben, diesen unbändigen Herbst und den folgenden Winter in deutbare Bilder zu fassen. Da Dorndeck erst am 23. Oktober einstieg (vorher war er auf der „Dissidenten“-Insel Hiddensee), sind seine Bilder auch vom ersten großen Montagsregen geprägt und zeigen die Beharrlichkeit der Menschen, die Montag für Montag nach Leipzig reisten, um auf der Straße ihren Forderungen Geltung zu verschaffen. Zum ersten Mal gibt es Dorndecks Bilder nun in Buchform, da und dort auch vom Fotografen selbst mit knappen Hinweisen auf die jüngsten Ereignisse versehen. Wenigstens das. Denn die meisten Teilnehmer dieser Tage nahmen sich das zwar vor, über die sich überstürzenden Ereignisse auch Tagebuch zu führen. Wirklich getan hat es nur Hartmut Zwahr, aus dessen Standardwerk „Ende einer Selbstinszenierung“ die beiden Autorinnen denn auch punktgenau zitieren können.
Denn eines steht nach 26 Jahren fest. Erinnerung kann verdammt trügerisch sein. Umso wichtiger sind diese Bilder und ihre taggenaue Verortung in einer turbulenten Zeit.
Rainer Dorndeck; Sabine Richter; Charlotte Ende Wir sind das Volk!, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2016, 22 Euro.
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