Er gehört zu den eher stillen Fotografen in der Stadt Leipzig: Thomas Mothes. Auch weil ihm die Sensationsfotografie nicht liegt. Er bevorzugt den aufmerksamen Blick des Spaziergängers, den Blick fürs Detail, für Licht und Schatten. Ein Fotograf wie nicht aus dieser Zeit. Das hat Folgen. Die manchmal Entdeckungen sind - wie die der stillen nordböhmischen Landschaft gleich hinter der sächsischen Grenze.
Von 1998 bis 2009 hat Mothes die böhmische Schweiz, die böhmische Lausitz, das Machaland und das böhmische Mittelgebirge rechts und links der Elbe immer wieder durchwandert. Immer zur Osterzeit, jenen Tagen im Frühjahr, in denen man oft genug miterleben kann, wie der Winter, der eben noch mit Schneefall den Wanderer einhüllte, binnen weniger Tage einem furiosen Frühling weicht.
Nicht unbedingt eine Wanderzeit für Sommerfrischler. Und auch nicht unbedingt das Wetter, in dem man kriselnde Partnerschaften wieder kittet bei tagelangen Touren durch Berg und Tal. Schon gar keine Leipziger Partnerschaften, die schon allein vom täglichen Leistungsstress zerrieben werden, ohne dass einer ahnt, woher das kommt. Außer, dass er nicht recht passt in diese auf Perfektion und Erfolg getrimmte Jagd, die Leipzig heftiger im Griff hat als alle anderen Städte im Osten. In Sachsen sowieso. Es ist ein Hauen und Stechen. Da bleibt für Gefühle, Nähe und Vertrauen wenig Platz.
Und wenn dann auch noch die Arbeit kriselt, weil die Auftraggeber keine stillen, emotionalen Bilder wollen, sondern gestochen scharfe Action – was dann?
Das ist in Leipzig nicht erst seit 2016 so. Das war auch 1998 schon so, als Mothes ziemlich frustriert zum ersten Mal in Richtung Böhmen aufgebrochen zu sein scheint. Jedenfalls liest sich seine Geschichte so. Als nachdenklicher Tagebuchtext, als wäre er nur einmal hingefahren in dieses stille Land jenseits von Schmilka, in dem Vieles noch immer so ist, wie es auch mal in Sachsen so war. Vor dem großen Rausch und dem grenzenlosen Glauben daran, dass schnelle Straßen auch noch aus der letzten Provinz ein wettbewerbsfähiges Industrietal machen. Dem Glauben hängt ganz Sachsen noch immer an. Es ist ein teurer Glaube.
Und man ahnt erst, was man wirklich verliert, wenn man mal wirklich einfach diese Grenze überschreitet in eine Gegend, die im Abseits zu liegen scheint, auch wenn sie seit 200 Jahren schon die Romantiker angezogen hat, die Maler genauso wie die Dichter. Oder einfach die Wanderer, die sich nicht mehr wohlgefühlt haben im rasenden Wettbewerb der Zeit, der alle Orte zu Standorten zu machen versucht, alle Menschen zu Teilen eines Wettbewerbs, der alles verschlingt – Verstand, Herz und Zeit. Und der vor allem eine Unverschämtheit in sich trägt: die „Verlierer“ in dieser Hatz um Ansiedlungen und Investitionen zu verachten.
Dass er mit dieser Hatz und der Oberflächlichkeit der Bilder nicht wirklich eins ist, hat Thomas Mothes 2003 schon einmal gezeigt. Da hat er bei Pro Leipzig den Fotoband „Bilder aus der Stadt“ veröffentlicht. Mit Leipzig-Bildern, die nichts vom üblichen Geschäftigsein und dem aufgeblasenen Hype zeigten.
„Ostermond auf Zeit“ ist jetzt so etwas wie der Extrakt aus den Osterfahrten von Thomas Mothes in die Landschaften Nordböhmens. Weder Regen noch Schnee hielten ihn ab, zu Fuß durch diese Landschaft zu wandern, auf Lichtungen und Wiesen sein Zelt aufzuschlagen, seine Suppe warm zu machen und die Gedanken des Tages im Tagebuch festzuhalten. Und Gedanken hatte er augenscheinlich genug mit dabei. Man erlebt zwar jede Menge Landschaft, wenn man so durch tropfende Wälder und über befrostete Wiesen läuft. Aber man wird sich selbst nicht los und denkt nicht nur über kriselnde Beziehungen nach und die Frage nach dem richtigen Weg. Irgendwann geht es auch um den Sinn des eigenen Lebens, den eigenen Körper als Überlebensmaschine und das Unterwegssein an sich, das man ja selten so intensiv spürt wie bei solchen Wanderungen durch eine solche Landschaft.
Am Ziel wartet kein Vergnügungspark, keine Einkaufsmeile und keine Touristenattraktion. Überhaupt scheinen in dieser Welt keine Touristen unterwegs zu sein. Mothes trifft nur die Menschen, die hier leben, begegnet ausgelassenen Frauen und Männern bei ihren Osterbräuchen, kehrt in kleine Kneipen ein, wo er zwar kein Wort versteht. Aber das braucht man auch nicht, wenn alles, was man will, so elementar ist wie ein knackender Ofen und ein, zwei Bier. Ein paar freundliche Brocken Tschechisch. Hilfsbereit sind die Menschen in diesen stillen Landschaften sowieso. Hier gibt es nicht das verbissene Gerangel der Großstadt, wo jeder der Erste sein will.
Außerdem gibt es hier: Zeit. Jede Menge davon. Auch wenn die Großstädtergedanken immer wieder aufploppen, solche von der Art „Ist das jetzt der richtige Weg?“, „Und wenn ich den falschen Weg gewählt habe?“ oder „Wenn ich gar nicht mehr zurückkehre, einfach so verschwinde in der Landschaft?“
Auf den ersten Wegstrecken noch unvorstellbar. Irgendwann aber geht dieser Gedanke in andere Gedanken über. Denn am Ende ist jeder Lebensweg ein Weg in die Vergänglichkeit, ins Verschwinden. Dass auch ein paar verlassene Friedhöfe und diverse Heiligenfiguren am Weg liegen und stehen, betont eher dieses Einswerden mit dem Erlebten. Gegen Wind und Regen hat sich der Wanderer gut vermummt. Das Stativ trägt er unterm Mantel. Und abends, wenn der Mond über den Bergen steht, gibt es Slivovitz. Da und dort ist auch ein Gedicht eingestreut. Aber die Texte sind eher wie Prosaminiaturen, Gedanken beim Laufen, die Summe eines langen Tages, an dem einer zumindest darauf vertrauen konnte, dass ihn die Füße tragen – auch hinauf auf die Berge mit ihrer zum Teil faszinierenden Aussicht. Das Denken kommt von allein. „Gedankenloses Denken“, nennt es Mothes an einer Stelle.
Und natürlich hat er aus den vielen Fotos, die er unterwegs gemacht hat, auch nicht die sensationellsten ausgesucht für diesen Band, sondern jene, die die Nähe zur Natur, zur Stille und zur Selbstverständlichkeit dieser Landschaft am deutlichsten Zeigen. Bilder, die man nicht einfach mal knipst, sondern für die einer auch mal bei Frost über die Nachtwiese pirscht. Oder sich ganz hinunter begibt ins Gras, zu diesen kämpferischen Kräutern und Blüten, die sich ans Licht kämpfen.
Und weil es eigentlich auch eine große Liebeserklärung an diese kleine Ecke Welt ist, in der sich einer aus Leipzig ohne viel Federlesens wie zuhause fühlen kann.
Und so gibt es alle Texte auch auf tschechisch, eine zweisprachige Ich-bin-dann-mal-weg-Geschichte, die zeigt, dass es gar nicht Santiago de Compostela sein muss, wohin man aufbricht. Ein Regionalzugticket reicht völlig und man kommt in eine andere Welt, in der es auf einmal nicht mehr diesen hämmernden Teufel im Kopf gibt, der immerzu Tempo verlangt und ein Ziel verheißt, das man selbst in größter Raserei nie erreicht.
Thomas Mothes Ostermond auf Zeit, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2016, 19,95 Euro.
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