Honoré de Balzac war – gemessen an den braven Bürgern seiner Zeit – ein Ver-rückter. Einer, der so schuftete, wie die anderen sich nur bereichern wollten. Unsere Gegenwart wurde in der Julimonarchie des Louis Philippe geboren, jener wilden Zwischenzeit der Revolutionen von 1830 und 1848, der Francois Guizot das Motto gab: „Enrichissez-vous!“ Da saß Balzac Nacht für Nacht und schrieb die „Menschliche Komödie“. Und dann reiste er in die Ukraine.
Die lange Fahrt des dicken, herzkranken, unermüdlichen Schriftstellers kennen alle, die André Maurois’ große Biografie „Das Leben des Honoré Balzac“ gelesen haben. Oder Stefan Zweigs „Balzac“. Wer seine „Briefe an die Fremde“ gelesen hat, kennt auch seine Geliebte, seinen Traum, das, wofür er sich 20 Jahre in die Sielen gelegt hat und geschrieben hat mit einer Besessenheit, die auch unter Schriftstellern selten ist.
Wofür andere Jahre brauchten, das schaffte er in wenigen Wochen. Und in ewiger Angst vor den Gerichtsvollziehern, die ihm die Wohnung einrannten, schuf er einen Kosmos, der bis heute die Leser fasziniert und ein lebendiges, scharfes und unerbittliches Porträt seiner Zeit zeichnet, dieses Birnenkönigtums, in dem der Bürgerkönig nur noch Staffage war und tatsächlich längst die Neureichen aus dem Marais regierten, getrieben nicht nur von der Gier nach Geld, sondern auch von der Nachahmung der feudalen Verschwendungssucht, die bis heute nicht aufgehört hat.
Die Wissenschaftler streiten sich: Hat Balzac diese gnadenlose Analyse einer Gesellschaftsschicht, die er selbst verachtete und die auch ihn verachtete – aber trotzdem las – eigentlich gewollt? War das Absicht gewesen? Wahrscheinlich nicht. Auch wenn er nach zehn Jahren der Misserfolge mit seinen Jugendwerken augenscheinlich begriff, dass er den Geschmack dieser Zeit niemals treffen würde, dass er auch nie Erfolg haben würde, wenn er versuchen würde, den romantischen Ansprüchen des Feuilletons zu genügen.
Und wer genau hinschaut und liest, der merkt, wie Balzac aus tiefster Ernüchterung begann, diese Gesellschaft und ihre Rollen zu sezieren. Man könnte jedes seiner Bücher mit Karikaturen Honoré Daumiers illustrieren und es wäre genau derselbe scharfe und ironische Blick. Nur dass Balzac die Kostümierung vorzog und so tat, als wäre er ein zutiefst konservativer Autor, Verehrer des Ancien régime bis ins Blut und bis in seine Liebesbeziehungen. Vielleicht gehört das zusammen: diese Verliebtheit in den alten Glanz und die Unerbittlichkeit der Analyse. Oder – vielleicht mal aus der Sicht des Dichters betrachtet – diese Fasziniertheit von Geschichten, die die ganze moralische Plattheit und den tanzenden Egoismus dieser Gesellschaft zum Thema nahm und zur Zündschnur machte für am Ende grausame und bittere Geschichten. Korruptheit, Karrierismus, Verschwendungssucht, alles ist drin. Und trotzdem wiederholte sich dieser Bursche nicht, der nur eine kleine Idee brauchte, um sich wieder für Nächte wegzusperren und am Ende Romane hinzuschmeißen, um die sich die Zeitungen rissen, über denen die Setzer verzweifelten und an denen die Nachdrucker in Belgien den richtigen Reibach machten.
Immer das große Ziel vor Augen: Irgendwann den riesigen Schuldenberg endlich abtragen zu können und reich genug zu sein, eine Familie zu gründen. Ein Traum, den er sich erst zu erfüllen wagt, als seine jahrelange Geliebte Eveline Hanska endlich verwitwet war. Sie war eine von jenen Frauen, die seine Romane verschlangen. Europa sprach nicht Denglisch, wie das heute der Fall ist, sondern Französisch. Und die Romane Balzacs standen auch in den Bibliotheken Deutschlands, Italiens, Russlands. Und jetzt, da endlich der langweilige Herr Hanska gestorben ist, sieht Balzac den Tag gekommen, da er mit aller Macht seinen eigentlichen Traum verwirklichen kann: eine Familie zu gründen. Da ist er schon über 50, hat aber schon seit einigen Jahren mit den gesundheitlichen Folgen seiner rücksichtlosen Nachtarbeit und des ausschweifenden Kaffeetrinkens zu kämpfen.
Heinrich Peuckmann hat diese Reise des Nicht-zu-Bremsenden zum Thema seines Buches gemacht. Es ist die Reise einer großen Hoffnung, quer durch Europa mit dem modernsten Verkehrsmittel der Zeit, der Eisenbahn. Denn in atemberaubendem Tempo wurde eine Streckenverbindung nach der anderen in Betrieb genommen. Das war die andere Seite des „Enrichissez-vous!“ Denn jetzt versprachen auch lauter frisch aus dem Boden gestampfte Aktiengesellschaften ein völlig neues Tempo beim Investieren und beim Bauen von technischen Projekten völlig neuer Dimension. Balzac selbst versuchte, mit Aktien teilzuhaben an diesem Feuerwerk – hatte aber kein glückliches Händchen, anders als einige der cleveren Gestalten in seinen Büchern. Er kannte diese Gesellschaft bis ins Mark – aber auch er konnte nicht Hellsehen und schon gar nicht die Zeichen lesen, die ankündeten, wenn ein Feuerwerk in sich zusammenfiel.
Dabei war er längst europaweit berühmt, eine Institution wie Victor Hugo, der ihm bei der Zugfahrt im Traum erscheint. Eigentlich ein Moment, an dem einer ruhiger tritt. Denn körperlich hatte sich Balzac gründlich ruiniert in diesen 20 Jahren. Peuckmann zeigt einen kurzatmigen, übergewichtigen Mann, der er auch die Angst vor den Gerichtsvollziehern nicht mehr loswird. Manche dubiose Gestalt unter den Mitreisenden versetzt ihn regelrecht in Panik.
Es ist ein literarischer Versuch, diesen noch immer ruhelosen Schriftsteller zu zeichnen, ihn zu begreifen von innen her. Denn was treibt so einen Mann, der doch eigentlich die stillen Nächte liebt, in denen der Pariser Tageslärm ihm nicht beim Schaffen immer neuer Welten stört? Der sich hier auf eine tagelange Fahrt durch Länder begibt, deren Sprache er nicht versteht, wo er auch nicht pausiert, um sich vielleicht mal die Domstadt Köln oder das ferne Krakow anzuschauen. So weit kommt er mit der Eisenbahn. Ab da muss er mit der Kutsche weiter ins ukrainische Wierzchownia, wo die Hanska jetzt Besitzerin eines riesigen Gutes ist und eines Schlosses, auf dem Balzac sich schon als Hausherr sieht.
Man merkt aber, dass Peuckmann eigentlich von ganz anderen Begegnungen in Balzacs Leben fasziniert ist – so gibt es imaginierte Szenen und Erinnerungen, in denen Jules Sandeau, George Sand, aber auch Heinrich Heine auftauchen, den Peuckmann gleich mal zum Karl-Marx-Versteher macht. Was so nicht bei Heine steht – der hatte schon so seine berechtigten Ängste vor dem, was die Ideen des Dr. Marx anrichten könnten. Aber der Bogen ist wichtig, denn es sind Balzacs Romane, in denen Marx seine Analysen dieser neuen, von Gier getriebenen Zeit wiederfand. So lebendig geschildert, dass natürlich die Frage stand: War Balzac eigentlich ein Linker?
So dämliche Fragen wabern ja heute durch alle Diskussionen. Heute, wo diese Neureichen aus Balzacs Kosmos allerorten den Ton angeben, eingebildet bis zum obersten Hemdknopf und stolz wie Blase auf ihre „Kultur“, die eigentlich nichts ist als Talmi und Tand, Maskerade und heilige Einbildung.
Wer sich in Balzacs Romane vertieft, wird das alles wiedererkennen, diese ganze wilde Jagd nach dem schönen Schein, dieses Prunken mit – falschen – Reichtümern, diese Eitelkeit der Snobs. Bekanntlich sind ja neben den Romanen der „Comedie Humaine“ auch allerlei fast theoretische Bücher entstanden, in denen Balzac so etwas wie Thesen zur Welt der „Julimonarchie“ liefert, wo er auch die heiligsten Kühe schlachtet und zeigt, dass es auch bei der bürgerlichen Ehe immer nur um Besitz geht. Und in dieser Hellsichtigkeit war er Heine sehr verwandt, nicht Marx. Auch in der Erkenntnis, dass sich Kreativität und Schöpferkraft nicht bezahlt macht in so einer Welt. Balzac konnte ein Lied davon singen, wie ihm sein geistiges Eigentum von illegalen Nachdruckern gestohlen wurde. Auch das erinnert sehr an die Gegenwart.
Was fängt die Menschheit eigentlich mit dem Internet an, wenn sie moralisch nicht über die Ramschmentalität der 1830er Jahre hinausgekommen ist?
Balzac und Heine im Café, wo Heine dem Dicken auch noch Austern spendiert?
Nein, das ist nicht vorstellbar. Ein Gespräch unter nüchternen Ironikern, das schon. Mit Bankiers kannte sich Heine genauso gut aus. Er hatte sie ja in der eigenen Familie. Und er sah auch die andere Seite, die es bei Balzac so nicht gibt: Die Grimmigkeit der feudalen Zensur, die das kleingestückelte Deutschland in einer Atmosphäre der Biederkeit hielt und alles, was schärfer war als ein trockener Keks mit Misstrauen und Verboten verfolgte.
Was entsteht eigentlich für eine Gesellschaft, in der sich die moralinsauren Zensoren mit den reich gewordenen Emporkömmlingen verschwägern?
Die lange Reise des Herrn Balzac fand 1847 statt. Am Ende stand noch nicht – auch wenn bei Peuckmann scheinbar alles darauf zuläuft – Balzacs Tod. Aber auch keine Heirat. Auf die musste dieser kaputt gearbeitete Nachtarbeiter noch drei volle Jahre warten. Aber die Reise steht auch für das Ende des unermüdlichen Schöpfers Balzac. Es würde nicht mehr viel kommen aus seiner Schreibwerkstatt. Tatsächlich hatte er der Maschine viel zu viel abverlangt. Jetzt zahlte er auch körperlich den Preis und lebte nur noch in der Hoffnung, seine Eva irgendwann heiraten zu können.
Aber man spürt natürlich auch die Bewunderung Peuckmanns für diesen Unermüdlichen. Was nicht in den Biografien zu finden ist, versucht er zu imaginieren, sich auszumalen, wie Balzac diese neue, rasende Welt der Eisenbahn erlebt haben könnte. Immerhin war er ja im Zeitalter der Postkutsche aufgewachsen. Aber jetzt hat er auf einmal keine Zeit mehr. Die Uhr läuft ab. Und wenigstens das will er noch schaffen: Endlich die Frau zu heiraten, die er liebt. Das Mönchsdasein zu beenden, zu dem ihn seine Arbeitsweise gezwungen hat. Doch diese Arbeit – und auch das ist Arbeit, auch wenn es immer wieder als „kostet doch nix“ verarscht wird – lässt ihn nicht los. Seine Romanhelden begleiten ihn. Sie sind immer präsent, weil er seine ganze Leidenschaft und seine ganze Vorstellung vom richtigen Menschsein in sie hineingelegt hat. So ist er nie allein auf dieser Reise, an deren Ende er die Erfüllung aller seine Hoffnungen erwartet.
Heinrich Peuckmann Die lange Reise des Herrn Balzac, Lychatz Verlag, Leipzig 2016, 19,95 Euro.
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