Es ist ein doppelter Katalog. Zu zwei Ausstellungen. Entsprechend dick ist er. Farbfotos haben sich nur im zweiten Teil ein paar hineingeschmuggelt, dort, wo es um die Leipziger Schüler von Evelyn Richter und Arno Fischer geht und die Ausstellung „Die Lehre“ in der Kunsthalle der Sparkasse. Der dickere Teil des Katalogs aber widmet sich drei der besten Fotografen des Ostens.
Von zweien – von Evelyn Richter und Ursula Arnold – befindet sich das Archiv jetzt im Leipziger Museum der bildenden Künste. Beide haben an der HGB Leipzig studiert in den 1950er Jahren. Von beiden sind auch viele eindrucksvolle Fotos aus den 1950er und 1960er Jahren in diesem Katalog – im stillen, unaufdringlichen Dialog mit den Arbeiten Arno Fischers, der 1957 mit Evelyn Richter in Kontakt kam und mit ihr endlich – so sagte er selbst – über das Fotografieren reden konnte. Denn es waren ja bekanntlich nicht nur graue, sondern raue Zeiten. Die Funktionäre stießen immer neue, völlig sinnfreie, aber mit Phrasen gestopfte Diskussionen über Formalismus und andere unerwünschte Erscheinungen in der Kunst an. Das zermürbte nicht nur Maler und Schriftsteller. Das sorgte auch dafür, dass die besten Fotografen des Landes immer wieder ins Abseits gedrängt wurden.
Ursula Arnold ging dann lieber zum Fernsehen und fotografierte nur noch privat. Fischer und Richter aber ließen sich nicht beirren, bewahrten sich ihre Haltung und wurden zu den zentralen Gestalten einer Fotografenszene, die das kleine Land im Osten so ablichtete, wie sie es sahen. Was noch ein Unterschied ist zu „wie es war“. Das ist bis heute ja der Trugschluss vieler Menschen, die an die abgebildete Welt Ansprüche stellen, als müsste das Gezeigte immer mit dem identisch sein, was sie erwarten.
Doch Kunst hat – noch stärker als Journalismus – die große Chance zu zeigen, was der Künstler wirklich erfasst hat. Nicht nur gesehen. Denn die hohe Kunst der sozialdokumentarischen Fotografie zeigt ja nicht einfach nur, was einer gesehen und schnell mal abgelichtet hat. Die meisten Menschen können gar nicht sehen. Sie haben es nie gelernt. Sie laufen durch ihr Leben wie durch einen Dschungel – mit unscharfen Kulissen, vage vorübereilenden Schatten, wenigen stereotypen Bildmustern. Wie verlaufene Kinder im Wald, die sich von einer Lichtung zur nächsten tasten. Nur ja nicht sehen, was rechts und links im Unterholz ist, was da vorüberhuscht oder rauscht oder gar Kontakt sucht. Und wenn es nur ein Augenblick ist.
Politische Funktionäre sind nicht besser. Das haben sie lang genug bewiesen. Ihre Panik vor dem chaotischen Sein jenseits der schmalspurigen Beschlüsse hat sich immer in Missfallen geäußert und in Verdammung. Aber wer sich durch diese Bildbände blättert, in denen die Arbeiten der wirklich aufmerksamen DDR-Fotografen nun endlich auch für die breite Leserschaft sichtbar werden (und im Leipziger Lehmstedt Verlag sind ja schon etliche erschienen), der schaut mehrmals hin, der wird regelrecht hineingezogen in diese Bilder – selbst wenn er oder sie die Zeit nie erlebt hat – und bekommt trotzdem das Gefühl: Ja, so war es. So war dieser ganz konkrete Moment, diese Beinah-Begegnung im Barfußgässchen in Leipzig, im Friedrichshain oder im Hof der Moskauer Musikschule.
Und es fällt auch auf – was die Kuratorin der Ausstellung und Mitherausgeberin des Katalogs, Jeanette Stoschek, für sich als größere Sympathie Fischers für den Ostteil Berlins empfunden hat. Denn Fischer hat ja bis 1961 in beiden Hälften der Stadt fotografiert. Man hat den Vergleich. Und man spürt es in den Bildern, dass sich beide Stadthälften – und damit auch beide Länder – auch mental deutlich auseinander entwickelten. Und die Menschen, die Fischer im Westteil der Stadt fotografiert, sind deutlich anders, deutlich bedachter auf ihr Aussehen, ihr Auftreten und ihr Wirken. „Wir sind wieder wer“, beschrieb Bernt Engelmann diese Haltung mal. Man spielte wieder eine Rolle – im doppelten Sinn. Das ist unübersehbar.
Und das hat sich bis heute gehalten – und sorgt bis heute für Irritationen. Denn damit können Menschen, die gelernt hatten, dass man nicht schauspielern muss, um in einer Gesellschaft akzeptiert zu werden, einfach nicht umgehen. Und sie fallen immer wieder drauf rein und lassen sich von schauspielernden Narzissten unterbuttern. Was möglicherweise auch die Frage beantwortet, warum Ostdeutsche in ostdeutschen Führungspositionen immer noch Mangelware sind. Sie beherrschen das Geschäft der Selbstvermarktung nicht.
Was verblüfft. Reichen denn 25 Jahre nicht, um sich das anzutrainieren?
Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich sind hier tatsächlich so fundamentale Mentalitätsunterschiede entstanden, dass erst Generationen vergehen müssen, bevor sich das verwächst. Wobei so beim Blättern die Zweifel eher stärker werden, selbst da, wo es eigentlich ölig und staubig wird im Bild und die Frauen und Männer in ihren Arbeitsstätten gezeigt werden. Nicht nur Evelyn Richter ist dieser eklatante Widerspruch aufgefallen, dass die viel gepriesenen Arbeiter und Arbeiterinnen oft unter kärglichsten Bedingungen arbeiteten – aber im Bild einen Stolz auf ihr Leben und ihre Tätigkeit zeigten, den man in heutigen Visualisierungen der Arbeitswelt nirgends mehr findet. Arbeit ist augenscheinlich auch emotional zu etwas Belastendem, Entfremdenden, Auferlegten geworden. Nichts, worauf man noch stolz sein dürfte, eher untertänigst dankbar, dass man noch arbeiten darf.
Diese emotionale Zeitreise war natürlich weder mit Ausstellung noch Katalog beabsichtigt. Aber es fällt ins Auge. Auch weil selbst solche Bilder jenseits der siegreichen Helden der Arbeit in der DDR-Presse eher unerwünscht waren. Es gab ein paar wenige Publikationen, die diesen aufmerksamen Fotografen der Wirklichkeit Raum einräumten. Oder ihnen die Gelegenheit zur Umsetzung ihrer Ideen boten – wie die Modezeitschrift „Sibylle“ für Arno Fischer. Irgendwie konnte der Osten dann doch nicht ganz auf die Darstellung des Menschen jenseits der offiziellen Propaganda verzichten. Auch wenn die meisten dieser Fotos eher in der Schublade verschwanden, Zeugnis eines Lebens, das diese drei Fotografen mit Gespür für die bildhafte Wirkung und den konzentrierten Moment festgehalten haben. Scheinbar zufällig. Aber man merkt es schnell, wie sehr sie die Bildkomposition beherrschen, wie sie den richtigen Punkt finden, von dem aus die zufällig gesehene Szene sich verdichtet zu einer Geschichte, die eigentlich nur einer noch erzählen könnte. Denn alles bewegt sich. Hier ist nicht mit „Winke, winke!“ und „Alle mal herschauen, Leute!“ arrangiert.
Deswegen irritiert ja der Titel „Gehaltene Zeit“ so. Denn tatsächlich haben alle Drei das Gegenteil bewerkstelligt: Das Leben in seinem fortwährenden Weiterstreben zu zeigen. Selbst da, wo die gezeigten Menschen scheinbar völlig vertieft sind, in sich gekehrt. Ganz mit dem beschäftigt, was sie gerade tun. Nur ein etwas verwirrter Blick in die Kamera zeigt, dass sie unverhofft aus ihrem Tun gerissen wurden, abgelenkt durch das Klicken vielleicht. Aber eigentlich schaut man nur mal kurz auf – und geht weiter. Man hat zu tun. Und man muss sich nicht darstellen, nicht in Pose setzen. Arbeit gibt es genug. Noch erzählen Ruinen und heruntergekommene Häuser davon, dass jede Menge Arbeit zu leisten ist, um das Land wieder in Schuss zu kriegen. Die Enttäuschung würde erst viel später um sich greifen.
Das sind alles Gedanken beim Durchblättern. In ihrem ausführlichen Essay zu den drei Künstlern erzählt Jeanette Stoschek dazu noch, was man über den Lebenslauf und die Arbeitsweisen von Evelyn Richter, Ursula Arnold und Arno Fischer wissen kann, darf oder muss. Je nachdem, wie man sich diesen Bilderwelten nähert, die natürlich vordergründig keine Zeitgeschichte erzählen – die kommt quasi als Dreingabe mit in die Bilder. Tatsächlich ging es den Dreien vor allem um das Bild vom Menschen. Im Text taucht dann sogar ganz frech ein „Seht, da ist der Mensch!“ auf, quasi als kleiner augenzwinkernder Hinweis auf den 100. Deutschen Katholikentag, der gerade in Leipzig stattfand. Aber das Augenzwinkern ist berechtigt, denn was die Kirchen hier versuchen, als ihre neuere Sendung zu verstehen, das war in weiten Teilen der Kunst in der DDR spürbares Anliegen. Denn wenn schon die allmächtige Partei ständig von einer neuen Zeit und einem neuen Menschen schwadronierte und ihn in lauter Heldenbildnissen der Arbeitswelt inszenierte, dann regte das Künstler natürlich an, nun erst recht nach dem wirklichen, lebendigen Menschen zu suchen und ihn zu zeigen in seinem zwar kärglichen, aber unermüdlichen Leben.
Dass die mächtige Parteiführung das gar nicht wollte, machte sie ja mit dem berüchtigten Plenum von 1965 deutlich, als nicht nur Filmschaffende und Schriftsteller die wuchtige Faust der Spätstalinisten zu spüren bekamen, sondern auch all jene Magazine und Zeitungen, die es gewagt hatten, das irdische Leben im Land zu zeigen und nach Liebe, Leid und Hoffnung zu fragen, dem, was ein Leben eigentlich ausmacht. Ganz unbiblisch – auch wenn das im Lauf der Zeit in Lyrik und Rock einige tiefreligiöse Züge annahm. Was nicht am gnädigen Atem der Kirche lag, sondern an der bedingungslosen Suche vieler – erstaunlich vieler – Künstler nach dem Lebendigen im Menschen und dem wirklich Wichtigen im Leben. Trotz alledem, darf man hier hinschreiben. Und in den Fotos ist zu sehen, wie das drei hochgradig aufmerksame Fotografen getan haben – respektvoll übrigens. Das betont auch Jeanette Stoschek. Aber nur so sieht man ja auch wirklich, wie Menschen da sind in ihrem ganz eigenen Moment. Auch wenn sich dieser historische Moment schon wieder aufgelöst hat im Nebel der Geschichte – oder davongefahren ist wie das von Evelyn Richter fotografierte Schiff „Traumland“ an der Museumsinsel in Berlin.
Jeanette Stoschek, Patricia Werner (Hrsg.) Gehaltene Zeit, Kettler Verlag, Dortmund 2016, 29,80 Euro.
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