Ab wann ist eine gesellschaftliche Erzählung ein Mythos? Im Zeitgeschichtlichen Forum versucht gerade die Ausstellung „Deutsche Mythen seit 1945“ zu klären, auf welchen Mythen die heutige Bundesrepublik aufbaut. Das reich bebilderte Begleitbuch versucht in zwölf Beiträgen, diese Mythen beim Wickel zu kriegen. Aber sind das alles Mythen?
Es ist ein eigenes Forschungsthema. Und bei einigen dieser Ur-Geschichten kann man nur feststellen: Ja, die gehören zum mentalen Mörtel der Bundesrepublik. Darauf baut ein Großteil des heutigen Selbstverständnisses der Deutschen auf. Das sind wirkmächtige Geschichten, auch wenn die Autoren den überraschten Leser darüber aufklären, dass das nicht immer so war. Etwa beim „Wunder von Bern“, jenem Ur-Mythos der Fußballnation Deutschland, mit dem die Zeitgenossen augenscheinlich viel vorsichtiger umgingen als die Nachgeborenen. Es brauchte sichtlich noch die mediale Nach-Inszenierung der späteren Jahre, um diesen Überraschungserfolg in der Fußball-WM 1954 zum Mythos aufzupusten.
Und das begann nicht erst mit Sönke Wortmanns Film „Das Wunder von Bern“ von 2003 – der aber eindeutig auch wieder Vorläufer für das „Sommermärchen“ von 2006 war. Nationen brauchen, wie es scheint, Mythen als gemeinsamen Kitt. Sie entstehen zwar nicht von allein. Manchmal brauchen sie Jahrzehnte, um aus diversen Medienkampagnen, Neu- und Nacherzählungen auf ihren wesentlichen Kern zu kommen. Aber irgendwie sind sie für Völker und Nationen so eine Art Grundbedürfnis: Nur so kann man sich einer gemeinsamen Identität vergewissern und gemeinsamer Geschichte einen Sinn zusprechen.
Manche dieser Geschichten werden auch bewusst gesetzt, funktionieren dann aber irgendwie wie Selbstläufer – so wie das „Wirtschaftswunderland“, das aus der Erklärkiste von Ludwig Erhard stammt, oder die „Stunde Null“, die sich durch Bücher und Filme zum sprichwörtlichen Anfangsmythos entwickelte, auch wenn es dabei ursprünglich gar nicht um einen Anfang ganz ohne Vorlauf ging.
Bei anderen Themen, die die Autoren und Ausstellungsmacher ausgewählt haben, kommt man freilich ins Grübeln: Sind die Märchen vom „vorbildlichen Europäer“, vom „Friedensstifter Deutschland“, vom „Weltmeister der Aufarbeitung“ oder vom „Öko-Weltmeister“ tatsächlich schon Mythen?
Die Autoren des Bandes beschäftigen sich nicht in jedem Fall mit der Erklärung, warum das Thema nun schon ein Mythos ist, auch wenn sie sehr kenntnisreich erklären, wie solche Phrasen zu akzeptierten Standards und gängigen Leitgeschichten wurden. Und dass die „Friedliche Revolution“ das Zeug hat, zu einem Gründungsmythos zu werden, kann Andreas Rödder in seinem Beitrag gut erklären.
Wären auch die Autoren der anderen erwähnten Neu-Mythen so distanziert an ihr Thema herangegangen, es hätte dem Buch gut getan. Denn Manches, was in einer bestimmten Medienwelt als fester Topos gilt, hat mehr mit Vorurteilen und fehlender kritischer Distanz zu tun als mit einem tatsächlich lebenden Mythos.
Exemplarisch dafür ist Harald Biermanns Beitrag über die Friedensbewegung in Ost und West. Von wissenschaftlicher Distanz zeugt es nicht gerade, wenn Biermann einfach behauptet, dass „es in der Bundesrepublik Deutschland in weiten Kreisen als chic galt, gegen Nachrüstung zu demonstrieren“ – als wenn das etwas Unanständiges gewesen wäre, wenn gleichzeitig „die Anhänger der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR den Repressalien der SED-Diktatur schutzlos ausgesetzt waren“. Auch so kann man Bürgerbewegungen diskreditieren – und der Ton klingt schon sehr nach dem verächtlichen „Wutbürger“, mit dem die Proteste gegen „Stuttgart 21“ medial abgewertet wurden.
Der Ton kommt dann auch bei Frank Uekötter wieder, der ähnlich herablassend über die entstehende Umweltbewegung schreibt.
Dass Biermann von der ostdeutschen Friedensbewegung nicht viel Ahnung hat, wird deutlich, wenn er auch noch den Demo-Spruch „Keine Gewalt“ mit unterbringen will in der Fiktion einer „Friedenssehnsucht der Deutschen“ (die er dann wieder mit ziemlicher Herablassung aus einer erhöhten politischen Position bewertet). Aber ein „banger Ruf“ war „Keine Gewalt“ am 9. Oktober 1989 ganz bestimmt nicht, sondern ein sehr lauter und mächtiger, eher ein Appell an die bewaffneten Einsatzkräfte, der laut und deutlich zu hören war. Denn das wird ja gern vergessen: Dieser 9. Oktober steht exemplarisch für die Rück-Gewinnung des Selbstbewusstseins der Bürger im Osten. Sie duckten sich nicht mehr weg und sie versuchten schon gar nicht mehr bange zu rufen.
Es fällt schon auf, dass ein Mythos in Buch und Ausstellung fehlt, so elegant umschifft wurde, dass es schon ins Auge sticht. Und dabei ist es ein wesentlich wirksamerer Mythos als der von „Öko-Land“ oder „Friedensmacht“. Es ist der Mythos „1968“, von dem Öko- und Friedens-Bewegung bestenfalls Teilaspekte und Ableger sind. Dass eine ganze Riege vor allem konservativer Medien daran arbeitet, diesen Mythos zu desavouieren, ist unübersehbar. Es hat System. Und das ist die Tragik dieses Buches, dass es das nicht nur ausblendet, sondern selbst befeuert. Das ist leider nicht mehr wissenschaftlich, zeigt aber, dass es bei Mythen auch noch eine andere Sichtweise gibt: Die Mythen derjenigen, die sich die Deutungsmacht anmaßen – und es kommt leider verflixt viel „Bild“-Zeitung in Buch und Ausstellung vor – und die „Mythen der anderen“, die mit aller medialen Meinungsmacht torpediert werden.
Dass dabei auch die staatlich verordneten Mythen der DDR unter Beschuss geraten, ist auch im historischen Zusammenhang sinnfällig. Für sie war das Jahr 1990 auch ein Mythenschnitt. Aber – und das ist das notwendige Fragezeichen zum Beitrag von Monika Gibas – sind ostdeutsche Sichtweisen deshalb schon falsch, weil sie anders sind als die westdeutschen? Sie versucht es anhand jüngerer Umfragen zum Beitrag der Alliierten beim Sieg über den Hitler-Faschismus zu belegen. Danach sind Westdeutsche eher überzeugt, dass die Amerikaner den größten Beitrag geleistet haben, die Ostdeutschen aber sehen den Beitrag der Sowjetarmee größer. Was eben nicht nur eine Frage der Indoktrination ist.
Geschichte ist nun einmal komplexer, als dass solche Vereinfachungen hier als Argument auftauchen dürften. Auch bei diesem Thema nicht. Und damit kommt man zwingend zu der Frage: Wie geht man mit den Mythen der anderen um? Denn augenscheinlich spielen Medien, insbesondere Massenmedien, ihre Macher und Betreiber eine wesentliche Rolle bei der Schaffung von Mythen – und beim Richtspruch darüber, was aus ihrer Sicht akzeptiert wird und was nicht. Gerade „1968“ steht dafür, dass ein Mythos sogar dann wirkmächtig werden kann, wenn er von den konservativen Leitmedien aufs Heftigste bekämpft wird.
Und da erwähnen wir dann noch einen Mythos, der das Land seit den 1970er Jahren ebenfalls begleitet: der Mythos vom „Terrorismus“ – damals aufs Engste verquickt mit dem Agieren der RAF, danach beinahe wieder verschwunden und spätestens ab 2001 wieder in aller Wirkmacht revitalisiert mit Bildern, die seitdem die ganze westliche Welt in Schockstarre zu halten scheinen. Das Thema füllt große Teile der medialen Berichterstattung, die eigentlich nur noch eine angespannte Katastrophenberichterstattung ist, während Raum für die eigentlich drängenden Fragen und Lösungen der Gegenwart darin schwindet.
Mythen (oder das, was man dafür hält) verwandeln selbst die Gegenwart in eine mythische Erzählung, überhöhen sie, ohne dass es dafür irgendeine Rechtfertigung gibt. Und sie sorgen dafür, dass Menschen im Geflecht der falschen Erzählung die falschen Entscheidungen treffen.
Ein ganz eigenes Thema: Die Macht von – falschen – Mythen über die Gegenwart. Und da ist man schnell bei dem, was Herfried Münkler in seinem Beitrag zu den abgebrochenen Traditionen deutscher Mythen schreibt: Wie falsche Mythen Völker in Katastrophen führen können.
Und es sieht ganz so aus, als wären eine ganze Reihe Leute gerade dabei, genau das wieder zu forcieren.
Stiftung Haus der Geschichte (Hrsg.) Deutsche Mythen seit 1945, Kerber Verlag, Bielefeld 2016, 19,90 Euro.
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