Luther. Ist nicht schon alles geschrieben über den Professor aus Wittenberg, seinen Thesenanschlag, sein „Hier stehe ich!“? Das denkt man oft, gerade wenn es - wie es im Klappentext heißt - um „die großen umstrittenen Figuren der deutschen Kulturgeschichte“ geht. Über die hat Joachim Köhler schon einige Bücher verfasst und jedes Mal Aufsehen erregt: Nietzsche, Wagner. Und jetzt Luther.

Über Nietzsche hat der 1952 Geborene Autor auch promoviert. Und schreiben kann er. Man merkt, dass er auch etliche Jahre für den „Stern“ schrieb. Er weiß, wie er die Leser packt und mitnimmt, Pointen setzt, Konflikte sichtbar macht. Und wie man Leute wie diesen 1485 in Eisleben geborenen Martin Luder herunterholt vom Sockel, herausholt aus dem goldenen Rahmen und zeigt, wie sehr dieser Mann in seine Zeit gehörte – und wie modern er ist. Und wie deutsch.

Das klingt zwar in Bezug auf Luther nicht seltsam, aber in Bezug auf unsere Zeit, die sich so schwer tut mit dem Deutschsein, weil es viel zu oft missbraucht, missverstanden und aufgeblasen wurde zu einem falschen Popanz. In der Regel von Leuten, die von Tuten und Blasen, deutscher Sprache, Stil und Kultur keine Ahnung haben. Unter anderem: Weil sie nicht lesen und lieber Bücher verbrennen. Was ja schon in Luthers Zeit Gang und Gäbe war. Wo man des Autors nicht habhaft wurde, da verbrannte man Luthers Schriften.

Jüngst haben wir an dieser Stelle das durchaus beeindruckende Lexikon „Europa reformata“ besprochen, in dem sichtbar wurde, wie tief die Wurzeln der Reformation in die vorhergehenden Jahrhunderte reichte. Köhler geht noch weiter und hat – was man von den meisten Luther-Biografen nicht wirklich sagen kann – augenscheinlich auch alle seine Schriften gelesen. Das Buch ist gespickt mit Luther-Zitaten, so wie eine ordentliche Reportage, falls denn einer losgezogen wäre vor 500 Jahren, um herauszukriegen, wie dieser Luther tickt und warum er so tickt. Wo hat er das alles her? Warum „konnte er nicht anders“? Und wie kam er überhaupt auf die Idee, seine 95 Thesen an die Kirchentür zu schlagen in einem Nest wie Wittenberg mit seinen 2.000 Einwohnern – quasi am Rand der zivilisierten Welt?

Verständlich wird das erst, wenn man mit dem Sohn des Mansfelder Bergbauunternehmers Hans Luder alle Stationen seines Werdegangs abläuft – seine durchaus prägenden Erlebnisse mit dem harten Erziehungsstil seines Vaters, in dessen Unternehmen er später als studierter Jurist einsteigen sollte. Sein langes Hadern mit dem vom Vater vorgegebenen Lebensweg, aus dem er nur einen Ausweg sah: Er ging ins Kloster, hoffend, hier auch den Glauben endlich zu finden, eins zu werden mit sich selbst.

Köhler betrachtet den jungen Luther mit den Augen der modernen Erfahrung über all die seelischen Krankheiten unserer Zeit, die ja von nichts anderem erzählen, als dass die Erkrankten leiden unter ihrem Leben und den falschen Ansprüchen anderer. Sie sind nicht eins mit sich und ihrem Tun. Trotz aller Freiheit, allem Individualismus. Und an dieser Stelle schließt Köhler kurzerhand das Wissen um die moderne Entfremdung kurz mit der Ahnung des Mittelalters, dass etwas falsch sein muss an der Arroganz der Kirche und dem von ihr propagierten Glauben – mitsamt dem ganzen Drohszenario von Hölle und Fegefeuer.

Davon steht nichts in der Bibel. Aber bergeweise haben die Scholastiker begründet, warum die Kirche so sein muss, der Papst der allmächtige Mittler zu Gott war und die Rituale so sein mussten, wie sie waren. Nachlesen konnte das ja kaum einer. Selbst Luther staunte Bauklötzer, als er zum ersten Mal eine Bibel in der Hand hatte. Und da Köhler seine Anfechtungen und Leiden im Erfurter Augustinerkloster ernst nimmt, kann er plausibel machen, wie Luther fast zwingend nicht nur auf die Schriften der großen Mystiker stieß, sondern auch in Johann von Staupitz einen Mentor fand, der ihn praktisch in den Folgejahren erst auf den Weg schubste, der aus dem hadernden, asketischen Mönch von Erfurt den mutigen Professor von Wittenberg machte.

In den meisten Luther-Biografien kommt Staupitz viel zu kurz. Und so entsteht meist ein völlig schiefes Personenensemble. Denn Staupitz war nicht nur Luthers Ordensvorgesetzter, sondern war auch einer der wichtigsten Berater Friedrich des Weisen und damit auch direkt involviert in die Schaffung der Wittenberger Universität und des Wittenberger Augustinerklosters. Denn Wittenberg war tatsächlich noch ein Kaff, als Friedrich es zu seiner Residenzstadt machte. Selbst als Luther dort (von Staupitz gesandt) erstmals ankam, war es eine riesige Baustelle (samt rasant steigenden Immobilienpreisen, wie Köhler schreibt), selbst das Kloster, das später Luthers Heimstatt werden sollte, war noch Baustelle.

Und nicht nur der Anteil von Staupitz bei der Schaffung dieses neuen Wittenberg  wird spürbar – er war es ja auch, der Friedrich dem Weisen all die Leute besorgte, die bald prägend wurden für seine Stadt. Alles gewaschene Humanisten. Mit solchen Leuten machte man natürlich auch eine ganz junge Universität binnen kurzer Zeit zur beliebtesten in Deutschland. Und zur echten Konkurrenz der nahe liegenden Universität Leipzig, womit er ebenfalls deutlich macht, wie stark die Politik des Ernestiners Friedrich geprägt war durch die scharfe Konkurrenz zu den albertinischen Wettinern, denen Leipzig gehörte. Deswegen spitzt sich auch in diesem Buch Vieles auf Leipzig zu – sogar so weit, dass Köhler den Sachsenherzog Georg einfach mal zu einem „Leipziger Herzog“ macht und Dresden dabei völlig verschwinden lässt.

Aber Fakt ist natürlich, dass der bärtige Georg seine heftigsten Strafaktionen gegen die Lutheranhänger in Leipzig zelebrierte. Hier war er auch zur Leipziger Disputation wutentbrannt aufgestanden, als der ruhmbegierige Johannes Eck Luther vorwarf, ein Anhänger der Lehren des Jan Hus zu sein. Selbst das kommt einem erstaunlich modern vor: Es wird nicht mehr sachlich über die vorgelegten Thesen disputiert, sondern man wird polemisch und stellt den Gegner einfach in eine Ecke, von der man weiß, dass er da nicht mehr rauskommt. Welcher Lutherbiograf schreibt schon über die Probleme Georgs mit seiner hussitischen Vergangenheit?

Und man merkt, dass Luther ganz gewiss bis 1517 – wahrscheinlich auch noch bis 1525 – nicht unbedingt selbst der Herr seiner Handlungen war. Das wird in diesem Buch besonders anschaulich erzählt, wenn Köhler die politischen Hintergründe des Thesenanschlags beleuchtet und die Rolle Friedrich des Weisen, der seinen „Reformator“ seltsamerweise gewähren ließ, obwohl sich Luthers Ablass-Thesen ja auch direkt gegen seine opulente Reliquiensammlung in der Wittenberger Schlosskirche richteten. Da kommt Köhler seine journalistische Erfahrung zugute: Er nimmt die handelnden Akteure nicht einfach so, wie sie in den üblichen Historienmalereien überliefert sind, sondern versucht, ihre persönlichen und politischen Beweggründe zu ergründen, wissend, dass Politik in der Regel nicht das ist, was die Öffentlichkeit von den Politikern zu hören bekommt, sondern das, was hinter den Kulissen passiert.

Und so schält sich erstaunlich klar heraus, wie Friedrich („das Murmeltier“) mit diesem Luther Politik machte – erst gegen die direkte (und geldgierige) Brandenburger Konkurrenz, dann auch gegen den Vetter Georg in Dresden, später auch noch gegen den Papst. Und man merkt, wie komplex das Alles wird, wenn immer mehr Akteure aufs Feld treten – und wie die Sache auf einmal immer größer wird, weil sich ein kleiner Mönch aus Wittenberg mit der allmächtigen Römischen Kirche angelegt hat. Und es wird deutlich, warum der Medici-Papst und seine Ketzerjäger, die Dominikaner, so ergrimmt (und berechenbar) reagierten. Das hat wirklich lange keiner in einer Luther-Biografie so beschrieben: Dass Luther nicht gegen das Mittelalter ankämpfte, sondern gegen die frühen Formen einer renditesüchtigen Kirche, die sich zu Luthers Zeit schon genauso benahm, wie sich heute zahlreiche Großkonzerne benehmen: Mit dem Seelenheil der Gläubigen wurde regelrecht Schacher getrieben. Pfründen wurden gekauft und verkauft. Und über den Kaiser regierten die Päpste in Rom mitten hinein insbesondere in die deutsche Politik. Das kommt einem doch alles sehr bekannt vor. Bis hin zu Luthers Ur-Gefühl, dass in dieser theologischen Hierarchie kein Heil zu finden ist, dass der Baufehler dieser Kirche ihre falsche Behauptung war, Mittler zwischen Gläubigen und Gott zu sein.

Und als er dann die Bibel las und die ersten Mystiker kennenlernte, gingen Luther natürlich die Augen auf. Und er wurde – zumindest ganz am Anfang von Alledem – zur Schachfigur für Staupitz und Friedrich dem Weisen. Ein Springer im Spiel, dem sie eine Menge zutrauten. Und den dann so Viele falsch verstanden. Eigentlich bis heute. Um ihn und seine Motivation zu verstehen, muss man augenscheinlich so tief in seine Schriften hineinkriechen, wie es Köhler getan hat, sollte seine geistigen Vorläufer kennen, aber auch die Beweggründe der Mächtigen in seiner Zeit. Dann wird auch verständlicher, warum ihn auch die Aufklärer missverstanden, aber trotzdem in seinen Fußstapfen liefen. Was auch mit den Irritationen zu tun hat, die bis heute um dieses unsäglich gefangene Ich und den sogenannten Freien Willen zu tun haben. Im Grunde ist es Luther, den die moderne Gehirnforschung bestätigt hat.

Es ist das Drama des modernen, scheinbar in seinen Willensentscheidungen zu unabhängigen und freien Menschen, das Luther immer wieder beschreibt – als Teufel und Hölle, in der das Ich gefangen ist, wenn es nicht lernt loszulassen und sich – das ist die Luthersche Variante – ganz in die Obhut Christi zu begeben. Es gab lange kein Buch, das auch für völlig ungläubige Menschen sichtbar macht, wie Glauben funktionieren kann und „erlöst“. Und wie daraus genau diese zuversichtliche Haltung wird, mit der Luther („als Narr“) in Worms lächelnd vor die Mächtigen des Reiches trat und sagte: „Ich kann nicht anders.“

Da brauchte es keine Bischöfe und Päpste mehr. „Gott dagegen in seiner Herrlichkeit sehen, das hieß für Luther, die Schöpfung in ihrer Herrlichkeit sehen.“ Das gilt ja nicht nur für Religion, das gilt für jede Ideologie, jeden Budenzauber des „du musst“, der Menschen zu Hamstern im Tretrad anderer Leute macht.

So gegenwärtig hat wirklich noch niemand diesen Burschen gezeichnet. Und auch nicht seine Botschaft, die ja eigentlich heißt: Schaff dir die falschen Autoritäten vom Leib! Entspann dich! Nimm dich und die Welt, wie sie ist. Und lass dich nicht einsperren von den falschen (Heils-)Versprechungen, von denen du glaubst, sie wären dein Ich.

Über die menschliche Freiheit wusste dieser Bibelprofessor eindeutig mehr als die meisten Hohepriester und Scharlatane der Gegenwart. Da ordnet sich dann auch die Reformation ganz anders ein und reicht weit über den Bereich der Theologie hinaus. Und das ist überfällig, dass das endlich auch mal ein Luther-Biograf so anschaulich und pointiert geschrieben hat.

Joachim Köhler Luther!, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2016, 22,90 Euro.

In eigener Sache

Jetzt bis 8. Juli für 49,50 Euro im Jahr die L-IZ.de & die LEIPZIGER ZEITUNG zusammen abonnieren, Prämien, wie zB. T-Shirts von den „Hooligans Gegen Satzbau“, Schwarwels neues Karikaturenbuch & den Film „Leipzig von oben“ oder den Krimi „Trauma“ aus dem fhl Verlag abstauben. Einige Argumente, um Unterstützer von lokalem Journalismus zu werden, gibt es hier.

Überzeugt? Dann hier lang zu einem Abo …

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar