Es klingt wie eine Selbstbezichtigung, wenn Harald Beer schreibt: „Auch ich war ein Nazi“. Ehrlich? Von echten Nazis hat man dergleichen nie gehört. Die tun immer nur so, als wären sie brave, ach so besorgte Bürger, haben nur Befehle erfüllt und haben ansonsten nichts gewusst. Echte Nazis sind Wahrheitsverweigerer. Aber dem 1928 geborenen Harald Beer geht es um etwas völlig anderes.
Über seine Zeit im KZ Sachsenhausen hat er ja schon geschrieben. Als er von der sowjetischen Besatzungsmacht dort eingeliefert wurde, hieß es Speziallager Nr. 7, später Nr. 1. Zu fünf Jahren war er verurteilt worden, nachdem ihm Beihilfe zu einem illegalen Grenzübertritt untergejubelt worden war. Erst später, weit nach seiner Haftentlassung, konnte er die Dimension dieser Speziallager erfassen, die von den Besatzern im Osten vor allem eingerichtet worden waren, um ein Instrument des Schreckens zu schaffen. Gerade junge Menschen wurden zu Zehntausenden in diesen Lagern eingesperrt – und starben dort auch zu Zehntausenden.
Harald Beer hat das Lager Sachsenhausen nur knapp überlebt. Aber Zeugenschaft ablegen wollte er schon früh. Denn vorstellen kann man sich diese systematischen Höllen des 20. Jahrhunderts nur, wenn die Augenzeugen berichten – vom Hunger, von der Isolation, den Krankheiten. Am Ende beschäftigt er sich auch eingehend mit der Frage: Wollten die Russen hier absichtlich tausende Menschen umbringen? War das der Zweck dieser Lager?
Er kann sich nicht eindeutig entscheiden, auch wenn er die Zahlen kennt. Und damit ist er im Anhang des Buches eigentlich am dichtesten dran an dem, was Diktaturen im 20. Jahrhundert tatsächlich ausgemacht hat: ihre organisierte Gleichgültigkeit dem einzelnen Menschenleben gegenüber. Das deutet sich schon an, wenn Beer immer wieder abwechselnd über seine Zeit in Sachsenhausen berichtet und über seine Kindheit im Hitlerreich. Und gerade auf Kinder und Jugendliche versuchte das NS-Regime ja frühzeitig den Zugriff zu bekommen. Was umso leichter fiel, wenn auch die Elternhäuser nicht wirklich in Distanz zum Regime standen, sondern eher – wie Beers Eltern – die kindliche Faszination von Uniformen und Fahrtenmesser unterstützen. Beers Vater war Offizier der Reserve und wurde auch bald wieder in den aktiven Dienst berufen, so dass sich der Lebensmittelpunkt der Familie von Berlin nach Dessau verlagerte. Bis 1940 – da hatte der Vater schon alle „Blitzkriege“ der Nazis mitgemacht. Beim Angriff auf Frankreich fand er dann den Tod, so dass Harald Beers Kindheit sich dann im Militärwaisenhaus fortsetzte und am Ende mit einer freiwilligen Meldung zum Heer ausging, so dass er mit 17 Jahren noch nach Dänemark geriet, mehr ungewollt, weil in diesem Fall ein mutiger Offizier den Zug mit den minderjährigen Kriegsanwärtern einfach umleiten ließ.
Aber für Harald Beer wird die Rückschau auch zu einer Aufarbeitung: Wie hatte er als Kind Adolf Hitler so begeistert zujubeln können? Wie hatte er sich am Ende noch freiwillig für den Kriegseinsatz melden können? Und: Hatte er nicht gewusst, was die Nazis anrichteten?
Und das ist der Punkt, an dem er immer wieder betont „Auch ich war ein Nazi“. Denn ihre Macht gewannen die Nationalsozialisten ja genau aus dem Schweigen und der Mittäterschaft der Millionen, die sich nicht wehrten. Obwohl sie mit anschauten, wie die Juden entrechtet und am Ende ermordet wurden. Das geschah auch in der Nachbarschaft der Beers. Doch was tun Kinder, wenn ihre Eltern ihnen klar machen, dass man darüber nicht redet? Es sind ja eingeschüchterte Erwachsene, die – aus bestem Willen – zum Handlager der Regime werden. Das war später auch nicht anders. Der Terror gegen Minderheiten gehört in den modernen Diktaturen immer dazu: Ganz bewusst ermordet man – im Grunde für alle sichtbar – Abertausende von Unschuldigen. Unter Stalin wurde gar kein anderes System entwickelt. Deswegen konnten die Besatzer 1945 die gelernten stalinistischen Methoden ganz einfach wieder fortsetzen, um in der besetzten Ostzone binnen kurzer Zeit wieder eine Stimmung der Angst, der Denunziation und der Verlogenheit aufzubauen.
Mit Sonderlagern wie Sachsenhausen. Aber tausende der willkürlich Verurteilten wurden ja auch in den Gulag geschickt. Beer kann also vergleichen, erst recht, als er nach seiner Freilassung 1951 in Westberlin versucht, seine Orientierung zu finden, und dabei merkt, dass die alten Nazis schon längst wieder Furore machen, in Ämter kommen, Ministerposten besetzen und Ferienlager veranstalten. Am Ende hat er wieder einen Stiefel im Gesicht.
Verständlich, dass er im hohen Alter versucht, zu erfassen, wie diese Diktaturen im 20. Jahrhundert entstehen konnten und funktionierten. Ein hochaktuelles Buch gerade für unsere Tage, wo die arroganten Menschenverächter wieder auf Stimmenfang gehen und ihre Vision von einem anderen Staat verbrämen und beweihräuchern und dabei all das weglassen, was diese Art Staat Menschen im 20. Jahrhundert angetan hat. Deswegen stimmt Beers Spruch „Auch ich war ein Nazi“ nur bedingt. Denn um selbst zum Täter zu werden, muss man sich identifizieren mit Menschenverachtung, Lüge, Raub und systematischem Morden. Der Nazismus beginnt da, wo Menschen systematisch abgewertet, erniedrigt und entrechtet werden.
Nur dass es nicht Menschen wie Harald Beer sind, die dafür sorgen, sondern selbstgerechte Staatsverwalter. Wenn sich nicht ganze Verwaltungen und Bürokratien bereitwillig andienen würden, wenn die neuen Herrenreiter an die Macht kommen, würden Diktaturen nicht funktionieren. Sie brauchen die bereitwilligen Vollstrecker, die sich hinter Akten und Paragraphen verstecken und ansonsten wegducken. Mit dem Thema einer Kindheit im Faschismus haben sich auch andere Autoren schon intensiv beschäftigt – Erich Loest zum Beispiel, dem noch viel bewusster war, wie verführbar und formbar Kinder sind, wenn sie in solchen Regimen heranwachsen. Entsprechend tief sitzen die alten Muster auch dann, wenn das Regime scheinbar besiegt ist und die neuen Regierenden nicht allzu viel Interesse daran haben, die Deformierungen aufzuarbeiten. In beiden deutschen Staaten übrigens nicht.
Worum es tatsächlich geht, das wurde Harald Beer dann 1970 klar bei Willy Brandts legendärem Kniefall in Warschau, ein Kniefall, den Brandt garantiert nicht für die einstigen Mörder getan hat. Beer sieht in dem Kniefall auch eine Bitte um Vergebung für die Wegschauer in Deutschland. Denn ohne die stille Akzeptanz der Mehrheit funktioniert keine Diktatur: „Jedes autoritäre Regime kann mit einer Handvoll Tätern existieren, wenn Millionen Mitläufer, Wegschauer ‚mitmachen‘ und den erkennbaren Terror billigend in Kauf nehmen“, schreibt er im Nachwort.
Und das ist ein Appell an unsere Zeit. Hier geht es um unseren Umgang mit den wieder auftrumpfenden Scharfmachern, die schon längst wieder die Entrechtung von Menschen propagieren. Sie haben sichtlich nichts aus den Tragödien des 20. Jahrhunderts gelernt. Aber ob gerade die den Mumm haben, dieses Buch zu lesen und was draus zu lernen, kann man wohl bezweifeln.
Harald Beer Auch ich war ein Nazi, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2016,19,90 Euro.
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