Es ist schon erstaunlich, in welchem Tempo sich die Stadtführer für Leipzig vermehren. Kann man da eigentlich noch etwas Neues erzählen? Etwas, was bei den anderen nicht drin steht? Natürlich. Im Grunde ließe sich das mit thematischen Stadtführern am besten machen. Auch davon gibt es schon eine Menge. Aber irgendwie scheint der Bedarf groß zu sein, das ganz besondere Leipzig zu finden.
Jenes Leipzig, das irgendwie als Geist durch alle möglichen Kampagnen huscht und bei Leipzig-Neulingen immer wieder für Enttäuschung sorgt, weil sie den Geist einfach nicht finden können. Natürlich ist das ein klassischer Fall von Verirrung: Da sind sie einer PR-Kampagne aufgesessen, die nicht mal gut oder findig ist.
Was macht dieser Stadtführer nun anders?
Er kocht nicht nach Rezept. Er bläst auch nichts zu buntem Trallala auf. Und: Er ist vollkommen subjektiv. Was daran liegt, dass der in Petershagen in NRW heimische Verlag seine Scouts, also die Stadterkunder, vor Ort sucht und sie bittet, ihre ganz eigenen Tipps für die Stadt zu schreiben. Dass dabei ein paar bekannte Autoren wieder auftauchen, die sich auch in anderen Leipziger Medien tummeln, ist eher kein Problem. Auch sie haben ja ihre ganz persönlichen Erlebnisse – nicht unbedingt flächendeckend für die Stadt. Der Norden kommt erstaunlich kurz, was damit zu tun hat, dass die neun Autoren, die der Verlag gefunden hat, vor allem in den Stadtteilen zu Hause sind, die in den vergangenen zehn Jahren jeweils im Mittelpunkt der Stadtentwicklung, der diversen Hypes und der Entwicklung neuer Hotspots standen. Das war ja bekanntlich anfangs die Leipziger Südvorstadt samt Connewitz, eine Ecke, zu der einige der Autoren mittlerweile ein zwiespältiges Verhältnis haben und irgendwie beklagen, dass dieser prosperierende Teil der Stadt nicht mehr so auffällig links(-alternativ) ist, wie sie glauben, dass er mal gewesen sein könnte. Es sind ja nicht nur die Medien, die sich so ihre Legenden erfinden – die Einwohner tun es auch. Und sichtlich auch die jungen.
Entsprechend ist es dann der Leipziger Westen, der mit besonders vielen Tipps seinen Weg ins Buch gefunden hat. Mit einem nicht überlesbaren Seitenhieb gegen Schleußig, das irgendwie aus Plagwitz-Lindenauer Sicht schon wieder als altbacken und nicht mehr innovativ geschildert wird. Was zumindest Sabrina Lieb widerlegt, wenn sie Leipzigs erstes Paleo-Restaurant auf der Könneritzstraße besucht.
Man muss nur losgehen. Aber den Ton kennt man. Den pflegt ein bekanntes Stadtmagazin nun seit Jahren, weil es irgendwie beweisen will, dass es die Spitze der Avantgarde in dieser Stadt ist. Aber wenn man dann ins Detail schaut, kommen 90 Prozent von Leipzig in diesem Magazin gar nicht vor.
Natürlich ist es schwierig, wirklich das ganze Stadtgebiet abzudecken, wenn man eine schöne Landschaft von Lieblingsplätzen zusammenbekommen möchte. Daran sind schon Viele gescheitert. Erst recht, wenn der Scout fehlt, der sich mal jenseits der „angesagten“ Straßen und Plätze auskennt. Bis auf ein paar Edelfedern aus dem Avantgarde-Establishment sind die meisten Autorinnen und Autoren des Buches jung. Und es verwundert nicht, dass sie vor allem von jenen Orten erzählen, die sie in ihrem jungen Leipzig-Leben besonders beeindruckt haben – entweder weil sie dort studieren und lesen (wie in der herrlichen Universitätsbibliothek) oder ihre Eltern und Freunde hingeführt haben, weil man das unbedingt mal tun sollte in Leipzig (aufs Cityhochhaus, aufs Völkerschlachtdenkmal, auf den Turm der Thomaskirche).
Die ganz normalen, weil so naheliegenden Dinge (wie die Flucht bei Regen ins Zeitgeschichtliche Forum) finden sich direkt neben uralten Grabenkämpfen aus dem Wasserkopf des Leipziger In-Journalismus (der Kampf um die Metal-Kneipe Helheim zum Beispiel). Es sind die üblichen „Da musst du mal gewesen sein“ der Gegenwart drin: natürlich das Spinnereigelände, die Sachsenbrücke und der Wagnerhain mit dem „Zierlich Manierlich“. Aber wenn man erwartet, dass die Schar der Entdecker etwa auch durch den Osten so unbeschwert läuft (ja ja, der Osten kommt), dann stolpert man doch wieder über lauter Geschichten, warum die Eisenbahnstraße doch nicht so schlimm ist wie in einem deutschen Privatsender (und mindestens zwei Leipziger Zeitungen) dargestellt. Schön, dass dann wenigstens das Pöge-Haus Erwähnung findet, der Lene-Voigt-Park und die Gedenkstätte für die Zwangsarbeiter. Gerade hier fällt auf, dass große Teile der Stadt für die neun Erkunder im Grunde terra incognita sind – und das, obwohl einer von ihnen gern in der Eisenbahnstraße wohnt.
Was nicht heißt, dass dieser Stadtführer enttäuschend wäre – ist er nicht. Denn die Neun rasseln eben keine bloßen Zahlen und Fakten herunter, sondern erzählen ihre persönlichen Begegnungen mit der Stadt und ihrem Lebensumfeld. Die Texte schwingen zwischen persönlichem Bekenntnis und journalistischem Feuilleton. Wer Leipzig noch nicht kennt, bekommt tatsächlich so ein Gefühl dafür, was man als junger Mensch in den ersten Tagen und Wochen tatsächlich mal beschnüffeln sollte. Das sind dann im Grunde die Orte, die sich als fester Anker in der Leipzig-Topografie, die jeder im Kopf hat, festhaken. Von der Nikolaikirche bis zum Rosental, von der Feinkost bis zur Moritzbastei. Mancher bleibt in dem Kosmos hängen, andere wagen sich darüber hinaus.
Sympathisch ist, dass die Erkunder nicht die kleinen Dinge verleugnen, die ihnen an dieser Stadt ganz abseits des üblichen Hypes wichtig sind – wie die Museumsloks auf dem Gleis 24 im Hauptbahnhof, den Alten Johannisfriedhof oder das Kleingärtnermuseum in der Aachener Straße.
Und weil nicht alles in ein handliches Pocket-Buch passen kann, bietet der Verlag auf seiner Website weitere Geschichten, die dann auch auf einer Leipzig-Karte verortet sind.
Leipzig Stadtführer: Leipzig so gesehen., Scotty Scout, Petershagen 2016, 10,90 Euro.
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