Wer nichts hat, muss sich etwas einfallen lassen. Genau das ist der Grund dafür, dass es heute so viele reiche Regionalküchen in Deutschland gibt. Und zwar genau in jenen Regionen, die jahrhundertelang als arm galten. Im Erzgebirge zum Beispiel, einst zwar mitten im Berggeschrey, danach aber lange das Armenhaus Sachsens. Und das machte die Hausfrauen natürlich erfinderisch.
Sie mussten sich was einfallen lassen, um ihre hart arbeitenden Männer satt zu kriegen. Und Schufterei gab’s nicht nur im Bergbau, die gab’s auch im Wald und auf den Äckern. Und natürlich konnten sie nicht einfach in die Markthalle gehen und die Zutaten kaufen. Sie waren auf das angewiesen, was die nahe Natur und die eigene Landwirtschaft zu bieten hatten. Die Küche des Erzgebirges war also zwangsläufig regional, saisonal und handfest. Und erstaunlich abwechslungsreich, was auch Regina Röhner in dieser Auswahl zeigt. Sie lebt mittendrin, ist mit der erzgebirgischen Küche aufgewachsen, kann auf Vorfahren verweisen, die seit 500 Jahren im Erzgebirge leben. Das prägt. Das pflanzt sich von Hausfrau zu Hausfrau fort. Familienrezepte werden weitergegeben. Es gibt Variationen von Ort zu Ort. Und da Regina Röhner sich professionell mit der Küchenkunst beschäftigt, fließen bei ihr nicht nur die bäuerlichen Küchenrezepte ein, sondern gibt es auch Ausflüge in die Herrschaftsküche.
Im Erzgebirge ist man sich dieser Klassengesellschaft noch sehr bewusst. Denn das Wild aus den Wäldern gehörte den Feudalherren – deswegen stammen die Wildrezpete auch sämtlich aus den Küchen des Adels. Das Volk aber war erfinderisch und erfand den falschen Hasen – „Falscher Hos“, natürlich als Rezept genauso in diesem Buch vertreten wie all die Rezepte aus der improvisierten Küche der Armen, die heute als Spezialitäten gelten – vom Getzen über den Klitscher bis zum Fratzen. Wenige Zutaten genügten, um zumeist gleich auf der Herdplatte etwas Heißes und Sättigendes zu schaffen. Niemals wären die erfinderischen Hausfrauen auf die Idee gekommen, Nahrungsmittel wegzuschmeißen – außer die üblichen Küchenabfälle, die an die Schweine verfüttert wurden.
Übrig gebliebene Klöße und Kartoffeln? Sie fanden gleich am nächsten Tag neue Verwertung. Eher haben heutige Köche ein Problem: Auf elektrischen Herdplatten sollten man das nicht unbedingt nachmachen.
Weniger frappierend ist der bunte Reichtum, der in einfachsten Gerichten immer wieder sichtbar wird. Kartoffelsalate sind reiche Zutatenberge. Und Kuchen ist nicht nur ein leichtes Konditorgebäck, sondern gibt’s in deftiger Form auch als Hauptgericht oder Hutzenkuchen. Die Frauen in den Spinnstuben müssen so glücklich gewesen sein über die Freuden des hart erarbeiteten Essens, dass die erzgebirgischen Liederbücher voller Freudengesänge übers Essen sind. Wahrscheinlich gibt es zu jedem Gericht ein solches Lied.
Aber man versteht es ja: Wer so jeden Tag um das Lebensnotwendige rackern musste, der freute sich über einen vollen Tisch und einen vollen Magen. Und wenn dann gar noch Fleisch und Fisch dabei waren, war natürlich Festtag. Und an Fischen waren die Bäche im Erzgebirge reich (bis die moderne Industrie hier ebenfalls das Wasser versaute), werden es wohl auch nach und nach wieder. Und weil Hirsch und Wildschwein im Wald dem Adel gehörten, kamen auf Volkes Sonntagstisch dann eben Pilzhähnchen, Ochsenfetzen und gefüllte Täubchen.
Regina Röhner hat die von ihr ausgewählten Rezepte fein säuberlich sortiert. Es gibt auch ein Extra-Kapitel Festtagsschmaus, wo man dann dem Neunerlei und dem Gänsebraten begegnet. Denn Festtage waren ja nun einmal christliche Feiertage, deren Bedeutung sich immer auch in den traditionellen Gerichten spiegelte. Ein Kapitel extra zu Kartoffelgerichten darf nicht fehlen, denn nirgendwo wird die Kartoffel so verehrt wie im Erzgebirge, denn als sie hier endlich Fuß fasste, beendete sie einen jahrhundertealten Hunger – und entzündete (man denke an die Klöße) die Phantasie der Frauen am Herd. Und ebenso wenig darf ein Kapitel „Süßes Erzgebirge“ nicht fehlen. Hier sieht man, dass die Erzgebirgler ganz ähnlich verliebt sind in Kuchen allerlei Art wie die Sachsen aus den Niederungen oder die benachbarten Thüringer. Der Unterschied aber ist: Hier sind auch die Kuchen derber und deftiger. Bis auf die Eierschecke nach Freiberger Art, die aus allen sächsischen Eierscheckenvariationen völlig herausfällt, weil sie erfunden wurde, als es mit dem Quark in Freiberg mal gewaltig knapp war.
Womit sich der Kreis schließt: Not macht erfinderisch. Und jeder darf glücklich sein, der eine erfinderische Frau oder einen experimentierfreudigen Koch daheim hat. Und natürlich eine Landschaft drumherum, die alles zur Verfügung stellt, was man für eine reichhaltige Küche braucht. Und wo man dann doch lieber beim Fett und beim Zucker sparen kann, weil heute ja kaum noch einer als Holzfäller schuftet, verrät die Autorin auch, die mit dem Buch natürlich nur eine flotte, straff ausgewählte Tour durch die erzgebirgische Küche vorstellt – mit ein bisschen Historie und Lebensart. Und das Schöne zu wissen ist am Ende: Man muss nicht in der Weihnachtszeit in diese Berge fahren. Es gibt auch in allen anderen Jahreszeiten Leckeres zu schmausen.
Regina Röhner Neue Heimat Leipzig, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2016, 9,95 Euro.
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