In Stötteritz war es 2014 noch eine Verlegenheitslösung. Die Stötteritzer hatten emsig Material für ihre Ortsteilgeschichte gesammelt - aber es fehlte der einheitliche Guss. Aber da alle wesentlichen Stichworte bearbeitet waren, lag die Idee nahe: Machen wir doch ein Ortsteillexikon draus. Die Idee hat so gezündet, dass Pro Leipzig jetzt für weitere Leipziger Ortsteile nachlegt. Jetzt gibt es auch die Südvorstadt in 350 Stichworten.

An die Ameisenarbeit in der Südvorstadt hat sich Horst Riedel gemacht. Der hat mit so etwas schon Erfahrung. Er hat bei Pro Leipzig schon das dicke Stadtlexikon zusammengetragen. Er hat sogar mehr als die Südvorstadt bearbeitet, die ja bekanntlich an der Körnerstraße endet. Alles nördlich davon bis zum Promenadenring gehört ganz verwaltungstechnisch zum Zentrum-Süd. Das sagt niemand, außer vielleicht noch Wohnungsmakler. Den Terminus haben sich strohtrockene Verwaltungsbeamte ausgedacht, deren Interesse augenscheinlich ist, Geschichte amtlich aus den Stadtplänen herauszuredigieren. Denn tatsächlich ist das die einstige Petersvorstadt, im Nukleus sogar die ganz alte Petersvorstadt direkt vorm alten Peterstor – mit Georgennonnenkloster, Kauz und Klitschergasse, Nonnenmühle und einem der vier berühmten Leipziger Steinwege – dem Peterssteinweg.

Der natürlich heute noch so heißt und auch die Hauptstraße war, als die Petersvorstadt weiter nach Süden wuchs. Die Struktur ist heute noch zu sehen. Und zu Recht weist Horst Riedel darauf hin, dass man in der Münzgasse heute noch sehen kann, wie die Straßen der alten Vorstädte mit ihren ein- und zweistöckigen Häusern damals aussahen.

Die Gasse ist eh spannend, denn hier gibt es nicht nur die Geschichte der alten Münze zu erzählen, sondern auch die des einstigen Peterschießgrabens, der sich hier befand, als Leipzigs Bürger noch wehrhaft sein und das Schießen mit Armbrust und Flinte üben mussten. Die Münzgasse endete übrigens dereinst direkt am Floßgraben. Das ist heute so wenig im Stadtbild noch zu sehen wie der alte Holzstapelplatz. Und natürlich stolpert man an solchen Stellen über maßgebliche Publikationen, die im Lauf der Zeit alle bei Pro Leipzig erschienen sind. Das Buch zum Elsterfloßgraben erschien dort 2006.

Wir sind immer noch in „Zentrum-Süd“, haben am „Münzplatz“ (der noch immer nicht so heißt, obwohl sich der kleine Platz an der Gabelung von Petersstraße und Münzgasse eigentlich zu einer Stadtplatzbenennung anbietet) die einstigen Adressen zweier einstmaliger Leipziger Zeitungen berührt. Da, wo heute die LVZ ihren Sitz hat, war einst der Zeitungssitz der „Leipziger Neuesten Nachrichten“. Und im Münzblock war ganz zuletzt, bis zur Kompletteinstellung, die Adresse der „Neuen Leipziger Zeitung“. Aber das war schon in der tristen Zeit nach Natonek und Kästner. Die beiden liefen zur Redaktionsarbeit noch emsig in die Johannisgasse, die dann bestimmt auftaucht, wenn sich mal ein fleißiger Sammler an ein Stadtteillexikon für die Ostvorstadt macht (amtlicher Jargon: Zentrum-Ost).

Die alte Grenze zwischen „Zentrum-Süd” und Südvorstadt ist die Körnerstraße. Und auch dieses Thema wurde ja bei Pro Leipzig schon eingehend mit einem fundierten Buch gewürdigt: „Das Brandvorwerk“ von Michael Liebmann. Natürlich bleibt Horst Riedel nicht in der Geschichte verhaftet, auch wenn die (Bau-)Geschichte der Südvorstadt selbst aufregend genug ist. Aber wer heute durch das Quartier spaziert, der sieht natürlich, wie es lebt und wie stadtweit bekannte Etablissements vor allem die „Karli“ dominieren – von naTo über Volkshaus bis Feinkost ist alles drin. Samt Vorgeschichte natürlich, manchmal in mehrere Stichpunkte geteilt, um den Stoff überhaupt übersichtlich unterzukriegen. Denn zum Beispiel die heutige Arbeit der Feinkost-Genossenschaft ist ein ebenso umfangreiches Kapitel wie die alte Geschichte der Vereins-Brauerei.

Natürlich begegnet man auch den berühmten Bewohnern des Quartiers – Karl und Wilhelm Liebknecht genauso wie Architekten, Musikern und – ganz wichtig – Theatermachern. Denn mit dem Schauspielhaus / Carola-Theater befand sich ja in der Sophienstraße (der heutigen Shakespearestraße) einst das rührigste und experimentierfreudigste Theater Leipzigs – logisch, dass die Nazis dem Programm die Gurgel zudrehten. Aber auch bis zur Windmühlenstraße und dem Gelände des Bayerischen Bahnhofs hat Riedel seine Erkundungen ausgeweitet. So wird erst sichtbar, wie groß diese Stadtregion ist und was hier mal alles Platz hatte – neben zwei großen Brauereien auch noch dutzende Fabriken (einige davon auf dem Weltmarkt tätig), etliche Schulen (von denen die Hälfte im 2. Weltkrieg zerstört wurde), mehrere Kirchen (die meisten versteckt in den Seitenstraßen) und auch den Pleißemühlgraben nicht zu vergessen, immerhin das einzige Gewässer in der Südvorstadt, bis in die 1950er Jahre hinein auch noch Zufluss für zwei große Badeanstalten.

Auch Dr. Schreber begegnet man wieder – und zwar in seiner wirklichen Tätigkeit als Orthopäde (und nicht, wie es immer noch falsch an einer Leipziger Straßenbahn zu lesen steht, als „Erfinder der Schrebergärten”). Und auch bekannten Leipzigern der Gegenwart läuft Riedel über den Weg – von Bernd-Lutz Lange bis Andreas Reimann. Beides Namen, bei denen einem sofort auch die reiche Kneipen- und Kaffeehauskultur einfällt, vom Café Grundmann bis zum Maitre und dem Puschkin. Riedel kann eigentlich nur einige wenige dieser beliebten Anlaufpunkte nennen, sonst wäre das Buch aus allen Nähten geplatzt. Natürlich ist das Zeitzer Torhaus mit drin, in dem auch einst subversiv Revolutionäres gedruckt wurde. Und natürlich wirbt das Lexikon, wenn es auf die alte Petersvorstadt und das Markthallenviertel zu sprechen kommt, auch dafür, historische Stadtstrukturen wiederzugewinnen und nicht einfach einer blassen Idee vom „großen Platz“ zu opfern.

Natürlich kommt man hier an Geschichte nicht vorbei. Nicht am Leipziger Hochverratsprozess von 1872, nicht am Aufstand vom 17. Juni 1953, nicht am Leipziger Gemetzel von 1845. Und so Manches, was seither aus dem Stadtbild verschwunden ist, bekommt natürlich sein Stichwort – wie das Panorama, das Café Bauer oder das Römische Haus (zu dem 2007 ebenfalls bei Pro Leipzig das maßgebliche Buch erschien).

Das meiste, was diesen speziellen Leipziger Stadtteil ausmacht, hat Horst Riedel tatsächlich untergebracht in diesem Stadtteillexikon. Und wo man die Abrisslust der 1990er Jahre nicht direkt kritisieren wollte, hat man wenigstens das Foto mit untergebracht, das zeigt, wie völlig anders die Einmündung der „Karli“ in den Peterssteinweg einmal aussah. Wer Leipzig wirklich kennenlernen möchte, der kann jetzt anfangen zu sammeln, denn nach Stötteritz und Südvorstadt werden noch weitere Stadtteillexika folgen.

Horst Riedel: Südvorstadt. Ein Leipziger Stadtteillexikon, Pro Leipzig, Leipzig 2016, 17 Euro.

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